51   Drachenjagd
Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem die meisten Wachen des Blauen Palastes von den Toten erweckt worden waren
Qaun verstummte und blickte sich um, da er erwartete, dass jemand eine Bemerkung machen oder etwas fragen würde.
Doch stattdessen warf Kihrin Janel bloß einen vielsagenden Blick zu. »Und?«
Sie lachte leise und fuhr fort.
Janels Schilderung. Im Eispalast, Yor, Quur.
Wie sich herausstellte, beschäftigte sich Suless hauptsächlich mit Magie, die auf Lebewesen wirkte. Mit unbeseelten Gegenständen befasste sie sich dagegen kaum. Doch natürlich wurde niemand zum Gottkönig, der sich nicht auf allen Gebieten der Magie außerordentlich gut auskannte. Und so konnte sie mir ein paar nützliche Hinweise geben.
Thurvishar hatte, wie ich mir schon gedacht hatte, natürlich mehr auf Lager.
Dennoch vergingen fast drei Monate, bis ich glaubte, den Versuch wagen zu können. Dann wartete ich noch auf die von Bruder Qaun versprochene Rüstung.
Ihr könnt euch sicher vorstellen, wie erleichtert ich war, als ich eine Nachricht von ihm bekam. Beim Betreten seines Zimmers sah ich auf dem Bett einen Anzug liegen, der aus einander überlappenden Metallplättchen zu bestehen schien, die auf ein biegsames Untermaterial genäht waren. Bruder Qaun stand daneben.
»Qaun? Was … was ist das?«
»Eure Rüstung«, antwortete er. »Nun, eigentlich ist es keine Rüstung. Wisst Ihr noch, wie ich Euch gesagt habe, dass dichtes Metall hervorragend gegen Razarras schützt? Nun, das ist es.« Mit schwungvoller Geste deutete er auf den Anzug, als würde er eine Trophäe präsentieren. »Auf die Innenseite habe ich das Luftsiegel gezeichnet. Damit und mit dem Metall solltet Ihr eigentlich genug Zeit haben, das Erz zu verwandeln, bevor die Razarras-Vergiftung bei Euch ihre Wirkung entfaltet.«
»Wie hast du …?« Ich versuchte, den Anzug hochzuheben, schaffte es jedoch nicht.
Er musste mehrere hundert Pfund wiegen. Ich fragte mich, wie er ihn hertransportiert hatte. Mit einem Trupp Diener oder mithilfe von Magie?
»Aus was besteht er?«
»Hauptsächlich aus Blei.«
Ich sah ihn ungläubig an. »Ich habe keine Ahnung, wo du das herhast. Aber noch weniger begreife ich, wie du dir das vorstellst. Ich kann ihn nicht einmal hochheben, geschweige denn tragen.«
Qaun räusperte sich. »Die exzellenten Schmiede des Hauses D’Talus haben ihn angefertigt, und zwar auf Befehl ihres Hohen Lords. Zumindest steht es so auf dem Schriftstück, das die Lieferanten mir überreicht haben.«
Ich hob eine Augenbraue. »Will ich erfahren, wie du das geschafft hast?«
»Je weniger Ihr wisst, desto besser. Und was das Gewicht des Anzugs anbelangt … Das ist kein Problem. Vor ein paar Jahren wart Ihr noch mehr als stark genug, um ihn zu tragen. Also werden wir, anstatt einen anderen Anzug zu konstruieren, einfach Eure Kraft wiederherstellen.«
Ich ging zum Bett und legte ihm die Hände auf die Schultern. »Wie? Das Gaesch …«
Qaun umfasste sanft meine Handgelenke und befreite sich aus meinem Griff. »Es gibt Schlupflöcher. Man hat mich nicht ausdrücklich angewiesen, das Siegel nicht von Eurem Rücken zu entfernen. Außerdem hat Relos Var mir zufällig befohlen, Euch zu helfen. Und das ist eindeutig hilfreich für Euch.«
»Relos Var?« Ich wich einen Schritt zurück.
»Ja. Schon vor ein paar Jahren, um ehrlich zu sein. Er hat den Befehl nie widerrufen. Deswegen kann ich Euch nach wie vor unterstützen.« Er verzog das Gesicht. »Aber leider kann ich Euch nicht versprechen, dass es einfach wird. Tatsächlich könnte die Entfernung des Siegels sehr wehtun.«
»Was? Wieso?«
»Nun, es hängt davon ab, ob ich Seneras Schriftzeichen verschwinden lassen kann. In diesem Fall wäre es ganz leicht. Schwierig wird es erst, wenn mir das nicht gelingt. Dann kann ich es nur auf schmerzhafte, chirurgische Weise entfernen.«
Mein Magen krampfte sich zusammen. »Hast du etwa vor, mich zu häuten?«
Er schnitt eine Grimasse. »Ein bisschen vielleicht. Nur ein paar Schichten. Anschließend werde ich alle Verletzungen heilen. Inzwischen verstehe ich viel mehr vom Heilen als früher. Aber es gibt noch ein weiteres Problem.«
»Und das wäre?«
»Ich weiß nicht, was dieses Siegel bewirkt. Ich kenne sein Wesen nicht und konnte in keinem Buch etwas darüber finden. Schließlich wurde mir klar, dass Senera keine Bücher braucht. Der Name aller Dinge hat sie auf dieses Siegel gebracht. Sie allein kennt seine Bedeutung. Es ist offensichtlich, dass es Euch Eurer Kräfte beraubt, aber was ist, wenn es noch mehr tut? Wir kennen nur diesen einen Effekt, sonst wissen wir nichts darüber. Zum Beispiel habe ich keine Ahnung, ob Senera es mitbekommt, wenn wir uns an dem Zeichen zu schaffen machen, und ich weiß auch nicht, ob wir irgendwelche Katastrophen auslösen, wenn wir es entfernen. Ich gehe davon aus, dass Ihr Euren Rücken noch nicht durch den Schleier betrachtet habt …«
»Richtig. Ich wüsste gar nicht, wie ich das anstellen soll.«
»Ihr sagt es. Das Siegel zapft Tenyé von Euch ab und leitet es woanders hin. Es könnte also jemandem auffallen, wenn wir diesen Fluss unterbrechen.«
»Wenn wir es tun, müssen wir schnell sein. Das willst du doch damit sagen, oder?«
»Ja, und wir müssen es bald tun«, gestand er. »Denn früher oder später wird irgendwer im Haus D’Talus anfangen, Fragen zu stellen. Beispielsweise, weshalb eine mit Blei besetzte Shanathá-Rüstung nach Yor geliefert wurde.«
»Dann wirst du Probleme bekommen, oder?« Ich fühlte mich so schuldig wie schon seit Jahren nicht mehr, da ich mich nun wieder daran erinnerte, dass Qaun nur wegen mir in diesen Schlamassel geraten war. Und wenn alles nach Plan lief, würde ich ihn höchstwahrscheinlich im Stich lassen müssen. Dabei hatte ich doch versprochen, genau das niemals zu tun.
Qaun verzog den Mund. »Mir wird nichts passieren. Ich bin nützlich. Relos Var gefällt meine Arbeit. Macht Euch um mich keine Sorgen. Ihr habt Wichtigeres zu tun.«
»Ich kann nicht ohne dich von hier weg«, entgegnete ich.
»Wer hat etwas davon gesagt, dass Ihr weggeht? Ihr wollt doch nur ein paar Höhlen unter dem Palast erkunden, nicht wahr?« Er deutete auf die Rüstung. »Und wenn Ihr dort unten den vergrabenen Schatz irgendeines Gottkönigs findet, wäre ich Euch verbunden, wenn Ihr ihn mit heraufbringt. Kaen wird sich über die Rechnung für die Rüstung nicht freuen. Habt Ihr eine Vorstellung, wie viel Shanathá kostet?«
Das Lachen blieb mir fast im Hals stecken. In den Jahren, seit wir hergebracht worden waren, schien Qaun seinen Lebensunterhalt als yorischer Spion zu verdienen. Doch gleichzeitig war er eine Geisel und damit ein Garant für mein gutes Betragen. Und was ich vorhatte, war alles andere als gutes Betragen.
»Qaun … nein. Ich lasse nicht zu, dass sie dir etwas antun.«
Er schüttelte den Kopf. »Ihr müsst mir einfach vertrauen, dass sie das nicht tun werden.« Seinem verschmitzten Grinsen nach zu urteilen wusste er selbst, wie ironisch es war, dass er mich um Vertrauen bat. »Außerdem will ich es so. Lasst mir wenigstens eine Sache, die ich selbst entschieden habe.«
Ich stieß die Luft aus und versuchte, mich nicht von Kummer und Verzweiflung überwältigen zu lassen. »Versprich mir, dass dir nichts passiert.«
»Relos Var hat mir befohlen, auf mich aufzupassen«, erwiderte er. »Wann wollt Ihr hinuntersteigen?«
»Dazu sind ganz bestimmte Voraussetzungen nötig. Zum einen muss Aeyan’arric in den Bergen sein, und außerdem darf sich keiner der Magier hier aufhalten.«
Qaun blinzelte. »Aeyan’arric? Was kümmert Euch Aeyan’arric?«
»Sie …« Ich seufzte. »Das musst du wirklich nicht wissen.«
»Wartet mal. Ich dachte, Ihr säubert die Quellhöhlen, damit die Yorer sie wieder benutzen können.«
»Das ist ein Nebeneffekt, nicht das Ziel.«
»Aeyan’arrics Anwesenheit ist nur von Bedeutung, wenn Ihr …« Er starrte mich an. »Ihr werdet versuchen, sie zu töten, stimmt’s? Selbst wenn Ihr es könntet – und das könnt Ihr nicht –, was würde das bringen?«
»Es wird sie davon abhalten, weitere Dörfer in Jorat mit einer Eisschicht zu überziehen und noch mehr von meinen …« Ich unterbrach mich. »Es muss sein. Stell mir keine Fragen mehr. Wann machen wir das mit dem Siegel?«
Er dachte einen Moment lang nach. »Jetzt.«
»Was?« Ich schaute ihn irritiert an. Auf jetzt war ich nicht vorbereitet.
Qaun nickte. »Jetzt gleich. Relos Var und Senera sind heute Morgen abgereist. Ich weiß nicht, wohin, aber sie schienen in Eile. Und sie haben Aeyan’arric hiergelassen. Eine bessere Chance werden wir nicht mehr bekommen.«
Ich nickte ebenfalls. »Laut Stundenplan unterrichtet Thurvishar heute nicht die Verschmähten. Andererseits hält er sich nur selten an irgendwelche Pläne.« Ich dachte über den eigenartigen Magier aus dem Haus D’Lorus nach. »Allerdings weiß ich gar nicht, ob er sich überhaupt einmischen würde, wenn er hier wäre. Ihm gehören weder die Weide noch die Pferde. Aber was ist mit Gadrith?«
Seit Qaun seine wirkliche Identität herausgefunden hatte, sprachen wir immer wieder über ihn. Wir wollten nichts mit Gadrith zu tun haben. Dass Xivan sich auf ganz ähnliche Weise am Leben erhielt wie er, kam mir wie ein schlechter Witz vor. Doch im Gegensatz zu Gadrith wurde sie geliebt – zumindest von den Verschmähten. Vielleicht weil sie nicht gleich alle um sich herum umbrachte, wenn sie Hunger bekam. Allerdings hatte sie ihm gegenüber natürlich den Vorteil, dass sie keine Magierin war und daher beim Zaubern auch keine großen Mengen Tenyé verbrennen musste.
»Gadrith war schon seit Wochen nicht mehr hier«, sagte Qaun. »Wenn Ihr es also wirklich tun wollt …«
»Ja, ich verstehe: Dann am besten jetzt.« Ich sah mich in dem Raum um, der klösterlich wirkte, obwohl er sich mitten in einem Palast befand. Ich war alles andere als bereit, aber vielleicht war es ja das Beste, dass ich mich von niemandem verabschieden und mit einer falschen Bemerkung meine Ziele gefährden konnte.
Qaun räusperte sich. »Ich fürchte, Ihr müsst Euch entkleiden.« Er reichte mir eine seiner Roben, damit ich meine Blöße bedecken konnte.
Meine Mundwinkel zuckten. Als ob Qaun mich nicht schon ein paarmal nackt gesehen hätte … Ich kehrte ihm den Rücken zu und zog mich aus, damit er das Siegel untersuchen und – hoffentlich – entfernen konnte.
»Gebt mir einen Moment«, sagte er.
»Lass dir so viel Zeit, wie du brauchst.«
Tatsächlich dauerte es jedoch nicht sehr lange, bis ich ihn seufzen hörte.
Ich blickte über die Schulter. »Hat es nicht geklappt?«
»Nein«, bestätigte er. »Wie auch immer dieses Zeichen aufgetragen wurde, es verschwindet nicht einfach, nur weil ich es darum bitte.« 248
»Bist du sicher, dass es genügen wird, die Haut wegzuschneiden?«
»Natürlich bin ich sicher. Ich …« Er stutzte. »Bei der Sonne! Was, wenn es nicht reicht?«
Ich drehte mich halb zu ihm um. »Das sehen wir, wenn es so weit ist. Hoffentlich stimmt, was du sagst, und du musst nicht die ganze Haut entfernen.«
»Ganz recht. Legt Euch hier drüben hin. Ich werde, ähm … also gut. Ich werde den Schmerz betäuben. Es wird sich komisch anfühlen, sollte aber nicht wehtun.«
»Eigentlich wäre es das Beste, wenn du mich bewusstlos schlägst. Aber da die Nacht bereits angebrochen ist, könntest du mich danach nicht mehr aufwecken.«
»Ach ja, gut, dass Ihr mich daran erinnert.«
Ich spürte seine Fingerspitzen auf meiner Haut. Einen Moment später nahm ich seine Berührung nicht mehr wahr. Mein Rücken fühlte sich tatsächlich merkwürdig an: taub an den Rändern und wie nicht vorhanden in der Mitte.
»Ihr werdet ein Ziehen spüren. Vielleicht auch Nässe.«
»Du meinst aber nicht Blut, oder?«
»Vielleicht schon. Jetzt lasst mich arbeiten.«
Ich legte das Kinn auf die Hände und versuchte, nicht daran zu denken, dass mein bester Freund mich gerade bei lebendigem Leib häutete.
Doch natürlich konnte ich über nichts anderes nachdenken.
»Na gut, es geht ein bisschen tiefer, als mir lieb ist, aber nicht ganz bis zu den Muskeln. Wir sollten es entfernen können. Bewegt Euch nicht. Wenn ich fertig bin, werde ich Euch noch heilen müssen.«
»O ja, bitte tu das. Ich habe keine Lust, ohne Haut auf dem Rücken mit einem Drachen zu kämpfen.«
»Hört mal, was das betrifft …«
»Apropos fehlende Haut auf meinem Rücken: Werden Narben zurückbleiben?«
»Ich bin mir nicht sicher«, gestand Qaun. »Aber ich spreche davon, dass Ihr Aeyan’arric töten wollt. Habt Ihr je darüber nachgedacht, stattdessen bloß das Gift aus den Quellhöhlen zu entfernen? Dann wärt Ihr eine Heldin. Man würde in jedem Höhlensystem Statuen von Euch aufstellen.«
»Und Relos Var könnte Aeyan’arric weiterhin entsenden, damit sie Dörfer einfriert. Verdammt, Qaun, was ist denn in dich gefahren …?«
»Ich sagte, nicht bewegen!«
Er stieß mich mit einer Hand aufs Bett zurück.
»Entschuldigung«, murmelte ich.
»Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig es ist, dass Ihr still liegt«, sagte er nach einer längeren Pause. »Das ist eine schwierige Prozedur, und ich will sichergehen, dass keine Narben zurückbleiben … und auch sonst nichts.«
Ich will ehrlich sein: »Und auch sonst nichts« war mir nicht geheuer.
Also hielt ich still und dachte darüber nach, was Qaun gesagt hatte. Bevor Quur kam und das ganze Land ins Chaos stürzte, hatte Yor nie irgendwelche Expansionsbestrebungen erkennen lassen. Ich erinnerte mich an die Geschichten, die ich als Kind über Suless und Chertog gehört hatte – wie wichtig es gewesen sei, die versklavten Yorer von den beiden Gottkönigen zu befreien. Doch in Wahrheit waren die Quurer wohl einfach wie üblich vorgegangen: Sie töteten die hiesigen Gottkönige, rissen sich ihr Land unter den Nagel und verleibten es dem Reich ein. Das hatten sie mit Jorat so gemacht (allerdings in Kooperation mit den Einheimischen) und auch (gegen deutlich größeren Widerstand) mit den Stadtstaaten, die zusammen die Region bildeten, die einst als Zaibur bekannt gewesen war und nun Marakor hieß. Selbstverständlich hatte Quur als Nächstes Yor erobert. Hatte je irgendwer daran gezweifelt, dass sie das tun würden?
Was für eine Enttäuschung muss es für den damaligen Kaiser (Gendal? Ich glaube, es war Gendal) gewesen sein, als sämtliche Gottkönige unterworfen waren. Im Süden gab es nur noch die Korthaenische Öde, nach der keine vernunftbegabte Person die Hand ausstrecken würde, und Manol, das selbst der größte Narr nicht noch einmal angreifen würde.
Aber was ich eigentlich sagen wollte: Yor hatte jeden Grund, Quur zu hassen, nicht wahr? Unter anderen Umständen wäre es möglicherweise ein Segen gewesen, von Chertog und Suless befreit zu werden, doch Quur hatte buchstäblich den Boden unter den Füßen der Yorer vergiftet. Wie viele hatten qualvoll sterben müssen, damit Quur seine Belagerung erfolgreich beenden konnte? Hatte Yor nicht verdient, dass das wieder behoben wurde?
Ich empfand eine eigenartige Solidarität mit den Bewohnern dieses Landes. Zwar war ich keine Yorerin und verstand diese Leute in vielerlei Hinsicht nicht. Aber ich wusste, was für ein Gefühl es war, von anderen als Spielfigur missbraucht zu werden – von allen anderen.
Tatsächlich wusste ich nur zu gut, wie das war.
Mit einem Mal fühlte sich mein Rücken kalt an, und gleich darauf klatschte etwas Nasses auf den Tisch neben mir.
Ich konnte mich nicht überwinden hinzuschauen, da mir klar war, was ich sehen würde.
Ich presste die Kiefer aufeinander, um meine Zähne am Klappern zu hindern, und rief mir ins Gedächtnis, dass ich bereits rund tausendmal verletzt gewesen war. Diese Wunde hier war auch nicht schlimmer als all die anderen, von denen einige wirklich sehr übel gewesen waren.
Dann begann mein Rücken zu jucken. »Soll das so sein?«
»Soll was wie sein?« Qaun klang besorgt.
»Mein Rücken juckt.«
Er blies die Luft aus. »Ja, das ist ganz normal. Ignoriert es einfach.«
»Du hast leicht reden. Ich kann dir sagen, wenn du an meiner Stelle wärst, würdest du …«
»Pst. Ich muss mich konzentrieren.«
Zähneknirschend hielt ich den Mund.
Nach ein paar Minuten wurde das Jucken heiß und schmerzhaft.
»Es wird jetzt gleich etwas brennen«, sagte Qaun, gerade als ich ihn darauf ansprechen wollte. »Macht Euch keine Sorgen, ich beende die Betäubung. Die Schmerzen werde ich gleich wieder unterdrücken, aber erst will ich noch die Nerven überprüfen.«
Plötzlich schoss ein scharfer Schmerz in meinen Rücken und klang gleich darauf zu einem Kribbeln ab. »Hast du mich gerade gezwickt?«
»Ich habe Euch noch nicht erlaubt, Euch zu bewegen. Schön, schön, das sieht gut aus. Tut es weh?«
Ich beugte mich vor und dehnte meinen Rücken. Dann verdrehte ich den Oberkörper. »Nein, gar nicht.«
»Fantastisch.«
Ich machte eine Faust. »Äh … etwas stimmt nicht.«
Qaun riss den Kopf hoch. »Was? Was ist los? Ihr habt doch gesagt, dass Ihr keine Schmerzen habt.«
»Ja, die habe ich auch nicht, aber ich fühle mich auch nicht stärker.« Ich ging zu der Stelle hinüber, wo ich meine Tunika abgelegt hatte, und streifte sie mir rasch über. Anschließend versuchte ich noch einmal, die Shanathá-Rüstung anzuheben. »Nein, sie ist immer noch zu schwer für mich.« Meine Panik war mir sicher deutlich anzusehen. Zumindest konnte ich sie deutlich fühlen. »Meine Kraft ist nicht zurückgekehrt, Qaun.«
Er sah erleichtert aus. »Ist das alles? Damit habe ich gerechnet.«
»Was? Damit hast du gerechnet? Ging es bei deinem Plan nicht darum, dass ich wieder stark werde?«
Qaun zog einen Stuhl heran und nahm darauf Platz. Er sah erschöpft aus. Offenbar war es sehr schwer gewesen, mich zu heilen. 249 Die Tatsache, dass er es allein geschafft hatte, zeigte, wie viel besser er im Zaubern geworden war. »Janel, Euch muss mittlerweile doch klar sein, dass Xaltorath Euch nie mit einem Stärkefluch belegt hat.«
Ich erstarrte.
Qaun sah meinen Blick und seufzte. »Hört mir bitte einfach zu. Ihr wart ein kleines Mädchen in einer schrecklichen Lage. Die Zaubergabe – die manche als Hexengabe bezeichnen – würde unter so einem Druck bei jedem zu Tage treten. Eure hat es getan. Und was Ihr als kleines Mädchen am meisten gewollt habt …«
»Du weißt nicht, was ich gewollt habe«, fuhr ich ihn an.
»Ich glaube, dass Ihr stark sein wolltet«, entgegnete er. »Zu stark für Eure Feinde, zu stark, um einem Dämon zum Opfer zu fallen. Und deswegen habt Ihr Euch selbst stark gemacht, auch wenn das, was damals mit Euch geschehen war, nichts mit fehlender Körperkraft zu tun hatte. Ihr wurdet stark, weil Ihr Euch Kraft angezaubert habt.«
Ich betrachtete meine Hände. »Stark durch einen Zauberspruch.«
Inzwischen wusste ich, wie das ging. Ich hatte immer Angst gehabt, dass meine Feinde mich als Hexe bezeichnen würden. Und nun war ich tatsächlich zu einer geworden. Ich schämte mich nicht deswegen. Aber zuzugeben, dass ich meine Stärke selbst verursacht hatte, fühlte sich wie eine Niederlage an. Genauso wie das Eingeständnis, dass ich einen Dämon als Ausrede vorgeschoben hatte. Ich bin keine Hexe, ich wurde bloß von einem Dämon verflucht.
Nein. Gedanken wie dieser entsprachen Xaltoraths Logik, ihren verworrenen Abgründen aus Schuld und Gegenanschuldigungen. Sie hatte immer behauptet, alles, was geschah, wäre eine direkte Konsequenz meiner eigenen geheimen Wünsche. Dass ich mich nur als Opfer inszeniert hätte, um mich vor der Verantwortung für meine eigenen Entscheidungen zu drücken.
Worauf ich immer erwidert hatte, dass achtjährige Kinder weder Verantwortung trügen noch eigene Entscheidungen träfen.
Ich konnte das schaffen. Nein, ich musste es schaffen. Denn wenn es mir nicht gelang, würde Aeyan’arric immer weiter Städte einfrieren. Kaens Pläne würden aufgehen. Die Lage in Jorat und Marakor würde sich zunehmend verschlechtern. Das giftige Erz, das die quurischen Magier in der Höhle unter dem Eispalast platziert hatten, würde – genau wie Qaun befürchtete – das umgebende Wasser kontaminieren und alle töten.
Qualvoll und langsam.
Ich schloss die Augen und dachte an meine Kindheit zurück. Ich erinnerte mich an meine Angst, den Hass, das Grauen und die Schmerzen. Ich fühlte, wie Zorn in mir aufstieg, und wusste, dass ich ihn ganz leicht in Gewalt und Zerstörung umschlagen lassen konnte, wenn ich das wollte. Meine magischen Fähigkeiten würden nie auch nur annähernd so positiv sein wie Qauns Heilkünste.
Durch einen roten Schleier hindurch fühlte ich mich einen glorreichen Moment lang mit Khored verbunden. Ich hörte das Kreischen der Krähen und spürte, wie der Gott der Zerstörung so dicht neben mir stand, dass ich nur die Hand auszustrecken und die Finger um den roten Machtwirbel zu schließen brauchte, der ihn speiste. 250
Noch nicht, kleines Mädchen. Noch nicht.
Ich langte über den Tisch, packte einen Metallbecher und zerquetschte ihn.
»Gut«, sagte Qaun mit zitternder Stimme. »Gut. Jetzt kleiden wir Euch an.«
Während ich auf den zerquetschten Becher hinunterblickte, bemerkte ich das andere Objekt auf dem Tisch: Qaun hatte es während der Operation an meinem Rücken dorthin geworfen. Es war mit der blutigen Seite nach unten gelandet und hatte eine rote Schmierspur auf der Tischplatte hinterlassen: ein großes Stück rotbraune,mit einem schwarzen Muster gezeichnete Haut.
»Hast du damit noch irgendwas vor?«
Qaun sah mich überrascht und dann entsetzt an. »Ja, ich habe vor, es zu zerstören, um keine Beweise zu hinterlassen.«
»Tu es nicht. Ich glaube, dass ich dafür noch eine Verwendung habe.«
Wir legten mitten in der Nacht los, oder besser gesagt, ich tat es, da wir uns darauf geeinigt hatten, dass Qaun mir nicht folgen würde.
Er sollte mir mit seinem Eckstein aus der Ferne helfen.
Ich war damit einverstanden. Wozu eine empfindungslose Gottheit in der Tasche mit sich herumtragen, wenn man sie nie benutzte?
Ich brauchte keine Laterne. Die Höhlen waren zwar dunkel, doch in meinen drei Studienjahren hatte ich gelernt, mein eigenes magisches Licht zu erzeugen.
Ich verstaute die Rüstung in einer großen Tasche und stopfte Kleider, Schals und Stoffe zwischen die einzelnen Elemente, damit sie nicht gegeneinanderklirrten. Anschließend betrat ich die Tunnel und stieg immer tiefer hinab, bis ich in den Höhlen herauskam.
Diesen Teil des Abenteuers habe ich wohl vermasselt.
Ihr müsst wissen, dass mir nicht klar gewesen war, wie verschlungen und verästelt sich die Quellhöhlen unter dem Palast ausbreiteten. Es war ein quälendes Labyrinth aus Röhren, Kammern und steilen Abhängen. Während meine schwebende magische Lichtkugel scharfkantige Schatten an die Wände warf, verlor ich schon nach kurzer Zeit die Orientierung. Ich hatte keine Ahnung, wo unten war, geschweige denn wie ich in Khorevals Höhle gelangen und anschließend wieder den Weg nach draußen finden sollte, um Aeyan’arric aufzuspüren. Ich war seit Jahren nicht mehr dort unten gewesen.
Ich hatte mich verlaufen.
Und Qaun konnte mir nicht helfen. Er war noch nie in diesen Höhlen gewesen.
Er hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte.
Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, legte ich die Rüstung an (wie sich herausstellte, war es einfacher, sie am Körper als in der Tasche zu tragen) und ging durch irgendeinen zufällig ausgesuchten Tunnel weiter nach unten. Ich gab mir alle Mühe, nicht in ein Loch zu fallen oder zu stolpern und mir etwas zu brechen, damit diese miese Situation nicht noch schlimmer wurde.
In der Rüstung war es unangenehm heiß, aber wenigstens konnte ich dank der Glyphe frische Luft atmen. Qaun hatte mir Sicherheitsanweisungen mit auf den Weg gegeben: Hebt außer dem Speer nichts auf und nehmt den Helm nicht ab. Und wenn ich mit allem fertig war, sollte ich die Rüstung in eine Spalte werfen, wo sie zu Schlacke zerschmelzen würde.
Ich nahm die Gefahr durch das vergiftete Metall genauso ernst wie Qaun, doch es tat mir jetzt schon leid, die Rüstung zurücklassen zu müssen. Allein mit dem Metall hätte ich mehrere Jahre lang sämtliche Steuerabgaben meines Kantons begleichen können.
Ich überlegte gerade, aufzugeben und mit Kieselsteinen das Wort HILFE auf den Boden zu schreiben, damit Qaun es las, wenn er nach mir sah. Da bemerkte ich auf der Höhlenwand vor mir einen intensiven goldenen Schimmer.
Als ich Khoreval das letzte Mal gesehen hatte, war ein goldener Glanz von ihm ausgegangen.
Ich tastete mich langsam voran, bis ich schließlich die Felskante entdeckte, vor der Xivan mich ein paar Jahre zuvor eindringlich gewarnt hatte. Unterhalb der Kante sah ich den blauen Rauch und den giftigen Fels der Quellhöhle.
Der Rauch bereitete mir keine Sorgen.
Das Metall hüllte meinen gesamten Körper ein, und meine Augen waren von einer dünnen Glasschicht geschützt. (Zumindest sah das Material aus wie Glas.) Den Waffenschmieden des Hauses D’Talus war mit dieser Rüstung ein echtes Meisterwerk gelungen.
Dank meiner Kraft fiel mir das Klettern zwar nicht schwer, aber ich machte mir Sorgen, dass ein Griff aus der Wand brechen und ich in die Tiefe stürzen könnte. Zum Glück stellte sich bei näherer Betrachtung heraus, dass es sich bei der Klippe, die zum Boden der Haupthöhle hinunterführte, nicht um eine senkrechte Wand, sondern nur um einen sehr steilen Abhang handelte.
Durch Lücken in den blauen Rauchschwaden erblickte ich immer wieder die Knochen, die überall auf dem Boden verstreut lagen. Aus dem ansonsten schwarzen Steinboden ragten warzenähnliche orangegelbe Razarras-Stücke. Ein paar der kleinen Brocken waren unter Fußsohlen zerbrochen und zu einer Art Puder zerfallen. Allmählich verstand ich, wieso Qaun gesagt hatte, dass ich selbst die kleinsten Rückstände von Razarras an meinem Anzug beseitigen musste. Falls ich Staub aufwirbelte und einatmete, würde ich sterben. Ich ging zu dem Podest hinüber, auf dem der Speer lag.
Zum ersten Mal fragte ich mich, ob hier irgendwo Fallen verborgen waren.
In der Mitte der Höhle, nicht weit weg vom Speer, erhob sich ein großer schwarzer Felsblock. Der Stein war … heiß. Ich spürte durch die Rüstung die glühende Hitze, die von ihm ausging. Für diese hohe Temperatur schien es keinen Grund zu geben. In der Nähe des Felsens waren weder Lava noch ein Vulkanschlot zu sehen, und es hatte auch niemand ein Feuer angezündet. Der Fels glühte von ganz allein.
Dann sah ich das Symbol, das in den Stein graviert war. Es sah genau aus wie die Zeichnung, die ich auf dem Rücken getragen hatte.
Ich blieb stehen.
Das Symbol auf dem Stein bedeutete, dass Senera hier gewesen sein musste. Und das wiederum hieß, dass Relos Var ziemlich sicher wusste, wie man das Gift hier neutralisieren konnte – genau wie ich einmal Qaun gegenüber vermutet hatte. Doch er hatte es nicht getan, weil es seinen Zielen zuwiderlief.
Aber was für einem Zweck diente der Stein? Wozu das Symbol?
Ich holte die aufgerollte Haut – meine Haut – aus dem Beutel. Ich hatte keine Zeit gehabt, sie zu behandeln oder gar zu gerben. Und so war sie immer noch ein grässliches Andenken an meinen Aufenthalt beim Herzog, das ich letztlich ebenfalls zerstören musste.
Allerdings war es mir angesichts des Plans, den ich mit der Haut verfolgte, ohnehin egal, ob sie giftig wurde.
Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich, dass die beiden Symbole nicht identisch waren. Sie schienen Variationen eines zugrundeliegenden gemeinsamen Schriftzeichens zu sein. Beide waren mir unverständlich.
Ich blickte hinter den Ersten Schleier, um zu sehen, was die Quellhöhle dort zu offenbaren hatte. Es war ehrlich gesagt nicht viel.
Heimtückischerweise hatten die Quurer diese Höhlen so verändert, dass keine Magie nötig war, um die Transformation aufrechtzuerhalten. Deshalb konnte sie auch nicht mit dem Fingerschnippen eines anderen Magiers rückgängig gemacht werden. Das giftige Erz war also kein bisschen magisch, aber was war mit dem blauen Rauch? Der war tatsächlich magisch aufgeladen gewesen, und irgendwann hatte diese Magie begonnen, sich zu verflüchtigen. Wenn der Rauch in Mereina genauso langsam zurückwich, wäre die Stadt erst in ein paar Jahrhunderten wieder bewohnbar.
Es musste eine bessere Möglichkeit geben, ihn zu beseitigen.
Der schwarze Fels, der fast wie ein Obelisk geformt war, enthielt erstaunlich viel reines Tenyé.
Wenn Xivan je hier herunterkam und den Felsen fand, würde sie nie mehr yorische Gefangene töten müssen, um ihren Hunger zu stillen. Mit dem Tenyé in diesem Felsen könnte man sehr mächtige Zauber wirken und …
Wer hatte ihn geschaffen? Relos Var? Vielleicht. Zumindest wies das seitlich eingravierte Symbol auf Seneras und somit auch auf Relos Vars Beteiligung hin. Und was war mit dem Symbol selbst?
Bruder Qaun hatte mir erklärt, das Symbol auf meinem Rücken hätte nicht nur meine Kraft unterdrückt, sondern auch mein Tenyé an einen anderen Ort umgeleitet. Jetzt konnte ich mir denken, wohin es drei Jahre lang geflossen war. Die Antwort stand direkt vor mir.
Mein Tenyé.
»Eigentlich ist es meins.«
Ich wirbelte herum und sah Tya, meine Mutter, vor mir stehen.
Ich zuckte nicht zusammen.
»Was machst du hier?«, fragte ich, während sie an mir vorbei zu dem Speer ging.
»Ich breche die Regeln«, antwortete Tya und setzte sich auf das Podest. »Aber wie ein weiser Mann einmal zu mir gesagt hat: Scheiß auf die Regeln. Ist das da Menschenhaut?«
Ich sah auf die Rolle in meiner Hand hinunter. »Ja, aber das ist schon in Ordnung. Es ist meine eigene.«
Ihre Augen verengten sich. »Das klingt nicht so beruhigend, wie du vielleicht meinst. Aber zumindest siehst du unverletzt aus.«
»Qaun hat mich geheilt.« Ich holte tief Luft. Eigentlich wollte ich nicht mit Tya reden. Es passte mir nicht, dass sie hier war, obwohl mir natürlich klar war, wie sehr sie mir helfen konnte. »Wie sollte Relos Var dir Tenyé abziehen?« Ich schüttelte meine Haut. »Das war nicht dein Rücken.«
Sie betrachtete angewidert das halb geronnene Blut, das mir auf die Rüstung spritzte. »Relos Var wusste, dass ich dich nicht sterben lassen würde. Und das wäre geschehen, wenn ich dir nicht genügend Energie geliehen hätte, um diesem Symbol zu widerstehen. Also hat er während der letzten Jahre das Tenyé angezapft, mit dem ich dich versorgt habe, und es für schlechte Zeiten angespart.«
»Dann hast du also zweimal denselben Fehler begangen?«
»Es war kein Fehler«, erwiderte sie.
Ich schnaubte. »Du hilfst deinen Feinden! Xaltorath hat mich ausgebeutet, damit du sie unterstützt, und jetzt lässt du Relos Var genau das Gleiche tun. Wieso?«
Sie hob eine Augenbraue. »Das habe ich dir gerade erklärt.«
»Nein!« Ich überlegte, mir aus Protest den Helm vom Kopf zu ziehen, hin- und hergerissen zwischen dem sicheren Wissen, dass sie mich vor dem Razarras beschützen würde, und dem überwältigenden Bedürfnis, nicht auf ihren Schutz angewiesen zu sein. »Pferdescheiße. Ich bin es nicht wert, dass du Relos Var oder Xaltorath nachgibst. Ich bin es nicht wert, dass du sie gewinnen lässt! Wieso missbraucht ihr mich immer alle als Entschuldigung, um zu verlieren?«
Ich wollte, dass sie wütend würde. Ja, wütend wäre wirklich schön gewesen. Doch stattdessen sah Tya traurig aus. »Aber du bist es wert, Janel. Ich liebe dich.«
»Nein! Du kennst mich ja nicht einmal. Du weißt nicht das Geringste über mich. Wie kannst du mich da lieben? Ich liebe mich ja nicht mal selbst!«
Ich weiß nicht mehr, ob ich den Helm abgesetzt habe, aber er war verschwunden, als ich mich meiner Mutter in die Arme warf. Sie strich mir über die Haare und küsste mich auf die Stirn. »Ich liebe dich«, flüsterte sie. »Ich habe dich immer geliebt. Als du am Rand der Öde deine Harfe verbrannt und zu mir gebetet hast, dass ich dir den Weg weisen soll, habe ich dich geliebt. Und ich habe dich geliebt, als Valathea sich geopfert hat, um S’arrics Seele zu befreien. Genauso habe ich dich geliebt, als du mit einem neugeborenen Säugling im Arm in Khorvesch einmarschiert bist und verlangt hast, dass dort nie wieder eine Frau an einen Mann verkauft wird. Und wie sehr ich dich geliebt habe, als ich dich zum ersten Mal in den Armen hielt, noch blutig von deiner Geburt … Und ich habe so laut geschrien, als ich dich hergeben musste, dass alle Magier auf der Welt drei Tage lang taub waren. Ich liebe dich so sehr, dass ich mich vor meinen Feinden erniedrige, damit du am Leben bleibst.« Sie beugte sich ein Stück zurück und sah mir in die Augen. »Aber wenn alles erledigt ist, wenn das alles vorbei ist, werde ich nicht verloren haben. Ich werde nicht verlieren, weil meine Tochter nicht verliert.«
Ich wischte mir die Augen und schniefte, wobei ich einen unangenehmen Schleimpfropfen hinunterwürgte. »Drei Tage lang?«
Sie lächelte mich verschmitzt an. »Man nennt es die Große Stille. Sie haben nie herausgefunden, was sie verursacht hat.«
»Wie … dramatisch.« 251
Sie lächelte. »Als ich noch jung war, habe ich Theater gespielt.«
Ich lachte durch meine Tränen hindurch. »Ganz offensichtlich. Ich auch, in einem anderen Leben. Musstest du mich wirklich in einen Körper stecken, der keinen einzigen Ton halten kann? Ich kann überhaupt nicht singen.«
»Tut mir leid. Das hast du von mir.«
»Natürlich. Die Göttin der Magie kann nicht singen.« Ich wischte mir wieder die Augen. Mir war klar, dass ich mich gerade mit einer hohen Dosis Razarras vergiftet hatte und sterben würde, wenn Tya nichts dagegen unternahm. »Und was jetzt?«
Tya umarmte mich und küsste mich erneut auf die Stirn. »Lass uns mit deinem Plan fortfahren. Du wolltest, dass ich etwas gegen das Metall und den Rauch hier unternehme?«
»Ja.«
»Die Idee gefällt mir. Lass es uns zusammen tun. Und wie würde es dir gefallen, wenn du mit deiner Mutter gegen einen Drachen kämpfst? Nur wir beide?«
Ich musste zugeben, dass mir diese Idee auch sehr gefiel.
Aeyan’arric spielte im Schnee.
Tya und ich standen auf einem Hang in den yorischen Bergen und sahen zu, wie die Drachin unter uns herumtollte und sich wie eine Katze mit einer Feder freudestrahlend im Schnee rollte. Nur dass eine spielende Katze weder Berge zum Erzittern bringt, noch riesige Furchen in Granithängen hinterlässt. Eine Katze löst auch keine Lawine aus und jagt ihr dann hinterher, als wäre sie eine Maus.
Sie war so wunderschön. Das Sonnenlicht, das sich auf ihren Schuppen brach, erzeugte auf dem Schnee und dem Eis um sie herum unzählige glitzernde Regenbogen. Sie war kalt und perfekt, eine Manifestation des Winters.
Ich verstärkte den Griff um Khoreval und wünschte mir nur einen Moment lang, wir müssten es nicht tun.
Trotz aller Vorbereitungen hatte ich, als es so weit war, kaum noch daran gedacht, den Speer mitzunehmen. Seitdem ich Khoreval in der Hand hielt, spürte ich, dass seine Magie außergewöhnlich und tatsächlich stark genug war, um einen Drachen zu töten. Allerdings wirkte er verglichen mit Aeyan’arrics majestätischer Erscheinung nicht größer als ein Zahnstocher. Ich kam mir wie eine Närrin vor, weil ich mir eingebildet hatte, ohne eine Göttin an meiner Seite gegen einen Drachen bestehen zu können.
Die fragliche Göttin hatte offensichtlich gerade das Gleiche gedacht, zumindest was Aeyan’arrics Schönheit anging, denn sie stieß einen Seufzer aus. »Es bricht mir das Herz. Ich kannte sie schon als kleines Mädchen.«
»Du …« Ich sah zu ihr hinüber. »Warte mal, war Aeyan’arric früher ein Mensch?«
»Alle Drachen waren … nun … ja, lass sie uns Menschen nennen. Aeyan war die Tochter eines guten Freundes. Wenn sie lächelte, war es, als käme die Sonne über den Rand der Wolken.«
»Was hat sie zu einer Drachin gemacht?«
»Ein Ungeheuer. Ihr Onkel.«
»Ihr Onkel …?«
»Relos Var. Er ist ihr Onkel. Und er hat seinen eigenen Bruder, Aeyans Vater, getötet, weil … Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wieso. Nach all den Jahren weiß ich es immer noch nicht.« Tya machte ein abweisendes Gesicht und schien keine weiteren Fragen beantworten zu wollen. »Versteck dich hinter diesem Felssims. Ich locke sie unter dich. Springe nicht daneben, wenn du dich auf sie stürzt.«
»Ist das dein Plan? Auf sie springen und das Beste hoffen?«
Tya lachte. »Was hattest du denn vor?«
Ich runzelte die Stirn und blickte auf meinen Beutel hinunter. Ich hatte mir überlegt, Aeyan’arrics Schuppen eine neue Dekoration zu verpassen, die sie ihrer Kraft berauben würde. Aber da war mir noch nicht klar gewesen, dass Senera das Symbol auf meinem Rücken eigens für mich gemacht hatte. Daher würde es bei Aeyan’arric wahrscheinlich nicht funktionieren, vor allem wenn das Zeichen bedeutete: Stehle Energie von der voratischen Tochter der Göttin der Magie.
»Du weißt nicht zufällig, was das bedeutet, oder?«, fragte ich Tya und zeigte ihr das Symbol.
Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »So merkwürdig sich das aus meinem Mund auch anhören mag, aber ich habe keine Ahnung.«
»Ich hatte den Plan, es nach der Drachin zu werfen, um sie zu schwächen, aber inzwischen glaube ich, dass es nicht funktionieren wird.«
»So sehr unterscheidet sich dein Vorhaben gar nicht von drauffallen lassen und das Beste hoffen, findest du nicht?«
Ich räusperte mich. »Nein.«
»Beweg dich schnell. Wenn es nicht funktioniert, rennst du weg. Du kannst sie nicht mit Ausdauer oder Stärke schlagen. Ziele mit dem Speer auf die Stelle zwischen ihren Augen.«
Ich nickte und machte mich auf den Weg zum Sims. Tya verschwand.
Einen Moment später tauchte sie unten im Tal auf, wo Aeyan’arric sich immer noch austobte. Die Drachin spreizte sofort die Schwingen und bäumte sich auf wie eine Schlange. Sie verzichtete auf jedes höfliche Geplänkel und stürzte sich stattdessen auf die Stelle, wo Tya stand. Doch die verschwand so schnell, dass ihre Schleier den Eindruck eines verwischten Regenbogens hinterließen.
Ich wusste, dass es schwer werden würde, den richtigen Zeitpunkt abzupassen. Ich musste mich auf Aeyan’arric werfen, bevor sie bei mir war. Wenn ich zu früh absprang, würde ich in den Tod stürzen. War ich zu spät dran, wahrscheinlich auch.
Mittlerweile hatte Aeyan’arric die gewünschte Position fast erreicht. Ich sprang … und landete nicht richtig auf ihrem Hals. Als ich mich rasch an ihren Schuppen festklammerte und hochhievte, verlor ich nicht nur fast das Leben, sondern auch den Speer. Aeyan’arric hatte mich bemerkt und schwang den Hals zur Seite, aber sie konnte mich nicht beißen. Sie flog steil nach oben und hob beide Vorderklauen, um mich von ihrem Hals zu reißen.
Als die Drachin den Blick von Tya abwandte, griff diese an und füllte den Himmel um uns herum mit Feuer. Meine Haut schlug Blasen. Ich ärgerte mich, dass ich nicht vorher daran gedacht hatte, einen Schutzzauber zu wirken, und holte es schnell nach.
Dann stieß ich Khoreval von oben in Aeyan’arrics Hals.
Die Drachin schrie, und eine unfassbar starke Energie floss aus der Wunde in meinen Körper. Die Erfahrung war alles andere als angenehm, denn das Tenyé der Drachin fühlte sich verdreht und falsch an, gewissermaßen verdorben, als wären die normalen magischen Energien, von denen die gesamte Schöpfung durchdrungen war, auseinandergebrochen und hätten sich zu etwas Chaotischem und Disharmonischem neu zusammengefügt. Ebenfalls schreiend bohrte ich den Speer tiefer in ihren Hals und stieß einen erneuten Schrei aus, als eiskaltes Blut auf mich spritzte.
Dann stürzten wir ab. Der Aufschlag war nicht schmerzhaft, sondern eine Erlösung, da sich der Schnee wie eine kühlende Kompresse auf meinen Verbrennungen anfühlte. Aeyan’arric schlug mit ihrem Schwanz nach mir und verfehlte mich nur deshalb, weil ich ein so kleines Ziel abgab. Aber Tya war auch noch da. Nachdem ihre Feuerkugel erloschen war, tauchte die Göttin einen Augenblick später wieder auf und entfesselte eine violette Energie, die Klauen und Flügel der Drachin zersetzte.
Ich rief mir in Erinnerung, dass ich Wichtigeres zu tun hatte, als mich meinen Schmerzen hinzugeben, und zog den Speer aus dem Hals der Drachin. Dann stieß ich ihn erneut nach unten, diesmal zwischen ihre Augen.
Aeyan’arric brach zusammen und gleich darauf auch ich.
Ich war über und über mit Drachen- und Menschenblut bedeckt, über meine Verletzungen wagte ich gar nicht nachzudenken.
Aber wir hatten es geschafft. Wir hatten eine Drachin getötet.
Tya schwebte neben mir herab. Sie stieß einen Laut aus, der mich so sehr an Dorna erinnerte, wenn ich als Kind vom Spielen im Schlamm nach Hause gekommen war, dass es mir beinahe den Atem verschlug. Sie legte mich neben Aeyan’arrics Kopf auf den Schnee und versorgte meine Wunden.
»Warte hier. Ich muss nachsehen, ob es funktioniert hat.«
Der Schock riss mich aus der Benommenheit. »Was meinst du mit ›ob es funktioniert hat‹?« Ich deutete auf den Kadaver.
Tya schüttelte den Kopf. »So ist es jedes Mal.«
»Wir haben schon öfter Drachen getötet, Janel. Sie erholen sich wieder. Sie heilen. Genau wie wir. Du kannst keinen der Acht töten. Wir wollen einfach nicht tot bleiben. Und genauso wenig kannst du einen Drachen umbringen.« Sie berührte den Speer. »Ruh dich hier aus. Ich erkundige mich bei Thaena. Sie wird wissen, ob es geklappt hat.«
Ich nickte und ließ mich seufzend zurücksinken. Fast hätte ich ihr gesagt, dass ich gerne selbst zu Thaena gehen würde, aber ich wollte wach bleiben. Ich fühlte und hörte, wie Tenyé in Bewegung geriet, und als ich den Blick hob, war Tya verschwunden.
Ich beobachtete die Wolkenwirbel über mir. Es waren Sturmwolken, und sie lösten sich auf, als hätten sie sich nur auf Befehl ihrer Drachenkönigin zusammengeballt. Nun konnten sie Schnee, Regen und Leben an andere Orte bringen.
Ich bin mir nicht sicher, wie lange ich so dalag, aber ich glaube, nicht sehr lange.
Dann hörte ich Relos Vars Stimme: »So war das nicht gemeint, als ich Qaun befahl, Euch zu helfen.«