60  Schon wieder Brüder
Atrine, Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Gadrith Kihrins Schwachstelle gefunden hatte
Kihrin hielt ein Würfelpaar in die Höhe. »Hat jemand Lust auf ein Spielchen, um sich die Zeit zu vertreiben?«
Bruder Qaun schüttelte den Kopf.
»Auf gar keinen Fall«, sagte Thurvishar.
Kihrin seufzte.
Bruder Qaun sah auf und öffnete die Hand. Der Metallzweig war in zwei Teile zerbrochen. »Da ist es. Das Signal. Sie haben den Drachen getötet.«
»Den Acht sei Dank«, sagte Kihrin. Er zog Urthaenriel und schlug mit der Schneide fest auf den Kristall.
Der Boden unter ihren Füßen schlingerte und warf Wellen.
Janel schrie auf, als sie in die Höhe katapultiert wurde, wie ein kleines Kind, das man mit einem Bettlaken hochschleuderte. Als sie auf dem Boden aufschlug, suchte sie schnell nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, während die Erde weiterhin bebte.
In der Ferne sah sie einen großen Abschnitt der Brücke nach Atrine einstürzen und in den Jorat-See fallen. Einen Moment später bemerkte Janel, dass sie das wahre Ausmaß der Katastrophe verkannt hatte:
Tatsächlich war gerade ein Großteil der Dämonenfälle abgesackt, die den Jorat-See aufstauten.
Doch damit nicht genug – Tyentso kämpfte immer noch mit Morios, und Janel konnte ihr nicht mitteilen, dass sie nur noch wenige Sekunden Zeit hatten, den Drachen zu erledigen, wenn sie ihm wirklich ein für alle Male den Garaus machen wollten. Sie war ziemlich sicher, dass ihre Chance, Morios diesmal endgültig zu töten, dank Seneras Verrat vertan war.
»Ich muss irgendwie dort hinüber«, sagte Janel zu General Milligreest. »Gibt es hier jemanden, der Eurer Meinung nach zuverlässig ein Portal öffnen kann?«
Er blickte in die Richtung, in die der Hohe Lord verschwunden war. »Nein. Und ich werde weder Euer Leben noch das von jemand anderem auf der Brücke riskieren, solange sie sich in diesem Zustand befindet.«
»Ich muss ihnen helfen!«
»Ihr habt es versucht«, erwiderte General Milligreest. »Mehr könnt Ihr nicht tun.«
»Ich weigere mich aufzugeben!«
»Manchmal hat man gar keine andere Wahl«, fuhr Milligreest sie an. »Verdammt, du bist genauso stur wie dein Bruder.« Er verstummte abrupt und verzog das Gesicht.
In Janels Kopf drehte sich alles … Ihr war noch nie in den Sinn gekommen, dass … »Ich habe einen Bruder?«
»Nicht mehr.« Milligreests Stimme versagte.
Sein Kummer schnürte Janel die Kehle zu. Sie fragte nicht, was passiert war. Dafür war im Moment keine Zeit.
Doch dann runzelte sie die Stirn.
Brüder. Morios sucht nach seinem Bruder, überlegte sie. Morios dachte, sein Bruder wäre hier. Wieso?
Kihrin hatte vermutet, dass die Drachen möglicherweise allesamt Kinder der Acht waren. Aber vielleicht war das ja gar nicht wörtlich zu verstehen. Von Relos selbst konnte man das zum Beispiel nicht sagen. Er war Kihrins Bruder. Also waren die Drachen nicht notwendigerweise die Kinder der Acht, sondern nur irgendwie mit ihnen verwandt. Kinder, Eltern, Schwestern … Brüder. Was, wenn die Drachen sich an diese Familienbande erinnerten?
Laut Kihrin war Sharanakal Thaenas Sohn und hatte seinen Horst ganz in der Nähe ihres Inselverstecks aufgeschlagen. Aeyan’arric hatte sich nicht weit von ihrem Onkel Rev’arric, besser bekannt als Relos Var, entfernt. Janel war nicht sicher, wessen Idee es ursprünglich gewesen war: Hatte Thaena beschlossen, in der Nähe ihres Sohnes zu bleiben, damit sie ein Auge auf ihn haben konnte? Oder hatte ihr Sohn entschieden, dass er bei seiner Mutter sein wollte? War Relos Var bei Aeyan’arric oder sie bei ihm geblieben? Aber wenn es immer so lief … einer der Acht hatte doch tatsächlich mal in Atrine gelebt, oder nicht?
»Khored«, keuchte sie.
Ihr Vater achtete nicht auf sie. Vermutlich glaubte er, sie würde fluchen. Janel neigte den Kopf und betete.
»Bitte erhöre mein Gebet, Khored, denn dein Bruder Morios ist hier. Er verwüstet Atrine, eine Stadt, die du liebst. Bitte hilf uns, weil er diesen Ort sonst dem Erdboden gleichmacht …«
»Ich kann nicht lange bleiben«, sagte Khored.
Ihr Vater schnappte nach Luft und fiel auf ein Knie.
Janel sah auf. Khored schwebte über ihr. Seine Rüstung war so dunkelrot wie Blut, sein Rabenfedernumhang blähte sich im Wind. Allen um sie herum schien gleichzeitig bewusst zu werden, dass ein Gott in ihrer Mitte erschienen war. Ringsum warfen sich die Menschen zu Boden.
»Wir können ihn nicht aufhalten«, sagte Janel zu Khored. »Nichts funktioniert.«
Hinter Khored sah sie mehrere Explosionen über Atrine aufleuchten. Es war davon auszugehen, dass Tyentso immer noch gegen den Drachen kämpfte, um zu verhindern, dass er Atrine zermalmte. Und dass Morios immer noch spielte.
»Natürlich funktioniert nichts«, sagte der Gott der Zerstörung. »Mein Bruder ist der personifizierte Krieg. Ein Gefecht macht ihn nur stärker. Das hätte Relos Var euch eigentlich sagen müssen.«
»Bruder!«
»Das ist mein Einsatz«, sagte Khored und blickte über die Schulter. »Ich werde ihn so lange ablenken, wie ich kann. Wir können uns nicht gegenseitig töten. Evakuiere alle aus Atrine und bring sie an einen sicheren Ort.« Er machte eine Handbewegung vor Janel, und die Welt veränderte sich.
Mit einem Mal stand sie in Atrine. Die Stadt war ein Schreckensbild. Auf den Straßen lagen viel zu viele Leichen.
Doch Janel achtete kaum auf das Unglück um sie herum, sie stand nur verblüfft und wütend da. Relos Var hätte es ihnen sagen sollen? Er hatte gewusst , dass der Drache im Kampf immer stärker wurde und dass er nicht gewaltsam getötet werden konnte?
Aber natürlich. Senera hätte Janel nie ohne die Zustimmung ihres Herrn verraten. Dies war alles von langer Hand geplant.
Über ihr sah sie Morios, der nun mit zwei Gegnern kämpfte. Trotz der großen Lücken, die an den Stellen, wo er sich Tyentsos magische Geschosse herausgerissen hatte, in seinem Schuppenpanzer klafften, war er in absoluter Hochstimmung.
Augenblick mal. Wieso sind diese Verletzungen nicht verheilt?
»Kämpft nicht gegen ihn«, murmelte sie. Laut dem Namen aller Dinge konnte man Morios also nur töten, indem man nicht gegen ihn kämpfte.
Wie, bei den kältesten Tiefen der Hölle, war sie nur auf die Idee gekommen, der Eckstein hätte ihnen eine andere Antwort gegeben als die wortwörtliche Wahrheit? Senera konnte lügen, der Name aller Dinge jedoch nicht. Morios kann keine Verletzungen heilen, die er sich selbst zufügt. Janel drehte sich um und lief auf die Ruinen des Khored-Tempels zu.