63   Rettungen
Atrine, Jorat, Quurisches Reich.
Drei Tage nachdem Teraeth sich auf sein diplomatisches Geschick besonnen hatte
Kihrin erwachte auf einer Pritsche in einem Armeezelt. Er ging, bevor irgendwer sich überlegen konnte, was am besten mit ihm zu tun war.
Draußen war die Luft von einem unablässigen Grollen erfüllt. Das tiefe, alles durchdringende Geräusch erinnerte ihn an den Mahlstrom im Meer, der als Schlund bekannt war. Nicht weit von ihm entfernt waren Soldaten damit beschäftigt, das Militärlager entweder zu errichten oder abzubrechen. Keiner schien sich mit ihm beschäftigen zu wollen.
Er rieb sich den Kopf, doch die Verletzung war verschwunden. Vermutlich hatte sie derjenige geheilt, der ihn auch aus dem Wasser gezogen hatte. Kihrins Hand wanderte zu seinem Gürtel. Urthaenriel war ebenfalls weg, und er konnte das Schwert nicht in der Nähe singen hören.
Kihrins Magen zog sich zusammen.
Er sah Thurvishar, der nachdenklich am Ufer des Jorat-Sees auf und ab ging und unglücklich die brennenden Überreste von Atrine betrachtete. Neben ihm stand …
Kihrin stockte der Atem, als er das Profil des manolischen Vané sah. Dann merkte er, dass es gar nicht Teraeth war. Die Augen waren anders, die Nase ebenso, nichts stimmte. Kihrin ließ den Atem entweichen und kämpfte gegen ein Gefühl der Enttäuschung an. Er hätte einiges darauf gewettet, dass es Teraeths Großvater Mithros war. Den Soldaten im Lager war offensichtlich nicht klar, dass der Vané in ihrer Mitte außerdem Khored, der Gott der Zerstörung, war. Er fragte sich, wie die quurischen Militärs – von denen viele Khored verehrten – reagieren würden, wenn sie herausfänden, dass es sich bei ihrer Lieblingsgottheit in Wahrheit um einen manolischen Vané handelte.
Ganz in der Nähe wurde eine Zeltklappe zurückgeschlagen, und Janel trat heraus.
Sie bemerkte ihn sofort und lächelte. Einen Augenblick später warf sie sich in seine Arme und küsste ihn. Wodurch fast alles leichter wurde. Oder wenigstens leichter zu vergessen.
Jemand räusperte sich.
Kihrin blickte auf und sah einen manolischen Vané neben Tyentso stehen – diesmal war es der richtige. Er löste sich von Janel. »Teraeth, mit dir habe ich hier nicht gerechnet.«
Die grünen Augen des Meuchelmörders zuckten zwischen Janel und Kihrin hin und her.
»Was du nicht sagst.«
Kihrin hätte sich am liebsten selbst getreten. »Ich freue mich natürlich, dich zu sehen.«
Teraeth hob eine Augenbraue. »Ach wirklich?«
»Ja, verdammt.« Kihrin blickte über den See hinweg zu den Ruinen von Atrine. »Ich habe Urthaenriel verloren. Nach nur drei Tagen …«
»Nun, du bist eben von der schnellen Sorte«, erwiderte Teraeth.
Kihrin seufzte. Falls er sich je gefragt hatte, wie Teraeth darauf reagieren würde, dass er und Janel nun ein Liebespaar waren, lautete die Antwort: schlecht.
So hätte es noch eine ganze Weile weitergehen können, aber die Frauen hatten andere Pläne. »Ihr zwei könnt später noch weiter anbandeln«, sagte Kaiser Tyentso. »Wie geht es dir, Janel?«
»Erstaunlich gut, dafür, dass ich von einem Drachen verschluckt wurde«, antwortete Janel. »Hat jemand von euch Qaun gesehen? Ich war mir sicher, ihn bei den Lazarettzelten zu finden.«
Kihrin kam es so vor, als würde sich ein Dutzend stumpfe Messer in seinen Bauch bohren. »Äh, weißt du …«
Er wollte nicht, dass er mit seinem Verdacht recht hatte. Und bestimmt wollte er Janel nichts von diesem Verdacht erzählen.
Sie sah ihn ängstlich an. »Er ist doch nicht verletzt, oder? Ich weiß gar nicht, was dort unten passiert ist …«
»Genau das wollten wir Kihrin auch gerade fragen«, warf Tyentso ein.
»Ich glaube nicht, dass Qaun verletzt ist, aber Relos Var hat uns alle reingelegt. Was ich zerstört habe, war kein Eckstein.« Kihrin fühlte sich schlecht. Irgendwo hakte Relos Var gerade einen weiteren Punkt auf seiner Liste ab und freute sich darüber, dass er dem mysteriösen schrecklichen Ereignis, das er anstrebte, wieder einen Schritt näher gekommen war. Er wollte, dass sich die Prophezeiungen erfüllten. Als wäre das etwas Gutes.
Kihrin blickte aufs Wasser hinaus. In seiner Umgebung hörte er Leute arbeiten und miteinander reden. Außerdem Gestöhne und Schmerzensschreie.
Teraeths Gesichtsausdruck wechselte von schwelender Wut zu vorsichtiger Zurückhaltung. »Ich habe dich und Thurvishar aus dem Wasser gefischt, Kihrin. Qaun war nicht da. Und auch nicht Urthaenriel.«
»Nein, ich glaube, Qaun hat Gottesschlächter mitgenommen, nachdem er mich niedergeschlagen hatte.« Es musste Qaun gewesen sein. Kihrin hatte Thurvishar ohnmächtig werden sehen, und Relos Var hatte ihm gegenübergestanden. Der Einzige, der es getan haben konnte, war Qaun.
Janel sah ihn entsetzt an. »Nein, so kann es nicht gewesen sein. Relos Var hat sicher irgendeinen Trick …«
Kihrin fing Teraeths Blick auf. Da diese Angelegenheit wichtiger war, hatte der Vané, zumindest für den Augenblick, seine Eifersucht begraben. Und sie waren sich darin einig, dass die jüngsten Ereignisse nichts Gutes verhießen. Teraeth nickte ihm knapp zu.
»Nein, Janel«, erwiderte Kihrin, »Qaun hat einfach nur erkannt, auf welcher Seite er wirklich steht. Es tut mir sehr leid.«
Janel wirkte zutiefst schockiert.
Teraeth ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
»Ich weiß, dass es schlecht aussieht«, sagte Tyentso, »aber wir werden Relos Var finden. Inzwischen suchen bestimmt schon alle nach ihm. Ich mag die Hexenjäger von der Akademie zwar nicht besonders, aber sie verstehen ihr Handwerk. Wir werden ihn finden – und Urthaenriel auch.«
»Du verstehst das nicht«, antwortete Kihrin.
»So schlimm kann es nicht sein. Seit Stunden ist nirgendwo im Reich ein Dämonenangriff gemeldet worden.«
»Natürlich«, sagte Kihrin, »weil die Dämonen sich verstecken.«
»Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Janel tonlos. »Ich verstehe bloß nicht, wieso. Sie attackieren nicht mal die Kluft.«
»Was übersehen wir, Leichtfuß?«
»Ich habe es gespürt, Ty. In dem Moment, als Vol Karoth erwacht ist. Das war es, was Relos Var wollte – der Grund, wieso er all das inszeniert hat.« Kihrin stieß ein bitteres Lachen aus. »Var hat mich davon überzeugt, dass er sich für Janel interessiert, dass es ihm ausschließlich um sie geht. Aber er wollte mich nur dazu bringen, dass ich die eine Kreatur aufwecke, die ich nie und nimmer willentlich befreit hätte. Vol Karoth schläft nicht mehr.«
Janel fluchte leise. »Eines Tages werde ich Relos Var töten. Das schwöre ich.«
»Trommeln wir alle zusammen«, sagte Teraeth. »Wir müssen reden.«