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Die Eisherzogin
Im Borgheva-Tal, Yor, Quurisches Reich.
Vier Tage nach dem Angriff auf Atrine
Xivan Kaen ließ den Blick durch das Tal schweifen. Auf dem schmalen Pfad näherte sich ihr eine Verschmähte, die ein Reh auf den Schultern trug. Hinter Xivan lagen die Bergsiedlung und das Höhlensystem von Bikeinohs Klan, den Arsagh. Unter den Klanmitgliedern herrschte große Anspannung. Der steile, von Felsspitzen und trügerischen Abgründen gesäumte Pfad war eigens so angelegt, dass man ihn nur schwer erklimmen konnte. Dementsprechend wenig begeistert waren die Arsagh von Xivans Ankunft gewesen.
Doch Xivan hatte nur ungefähr ein halbes Dutzend Männer töten müssen, ehe sich der Rest von ihnen auf ein Treffen einließ.
»Hon«, sagte die Frau, als sie an Xivan vorbei zum Hauptgebäude weiterging. Auf dem Gesicht der Verschmähten prangte ein Symbol. Xivan trug es ebenfalls. Und seit sie erfahren hatten, wozu es diente, hatten es sich auch alle Männer, Frauen und Kinder in der Siedlung aufmalen lassen. Xivan hatte vor, eines Tages Janels Beispiel zu folgen und die Quellhöhlen unter sämtlichen Siedlungen zu reinigen, wie auch immer die Joratin das geschafft hatte. Bis dahin würde das vergiftete Gestein unter ihren Füßen keinem Yorer mehr etwas anhaben können. Als dem Häuptling bewusst geworden war, welches Geschenk sie ihm damit machte, hatte er gleich sehr viel weniger dagegen gehabt, sie einzulassen.
Eigentlich war es gar kein Geschenk, sondern eher ein Handel, da sie im Gegenzug permanent über Suless’ aktuellen Aufenthaltsort unterrichtet werden wollte.
Xivan verzog keine Miene, als sich plötzlich ein Portal öffnete und Relos Var mit seinem Schüler, Qaun, vor ihr auftauchte. Während Var die Kälte nicht zu kümmern schien, war Qaun in dicke Felle gehüllt.
»Ihr habt ja ganz schön Nerven«, sagte Xivan. »Wo ist mein
Speer?«
Var wirkte betreten. »Leider kann ich Euch den nicht zurückgeben, aber ich habe etwas dabei, das Ihr hoffentlich als angemessene Entschädigung akzeptieren werdet. Qaun?«
Der Priester kniete sich hin und legte ein schlicht aussehendes Schwert auf den Boden.
Relos Var wandte sich wieder Xivan zu. »Wie geht es Euch, meine Liebe?«
»Ich bin immer noch tot«, erwiderte sie. »Inzwischen innen fast genauso so sehr wie außen, aber zum Glück hält mich der Hass warm.«
Relos Var zuckte zusammen. »Es tut mir leid. Ich weiß jedoch, dass Ihr ihn zurückbekommen werdet.«
»Aber er wird nicht mehr bei Sinnen sein.« Sie zögerte. »Allerdings war er das auch vorher schon nicht, oder?«
Relos Var nickte bedächtig. »Nein, Suless weiß, wie man so etwas macht.«
»Ihr habt sie nicht aufgehalten.« Xivan klang nicht verärgert. Es war lediglich eine Feststellung. Er hatte Suless nicht aufgehalten. Obwohl er es gekonnt hätte.
»Ich habe Eurem Gemahl geraten, Suless zu töten, sollte er die Chance dazu bekommen. Das wollte er nicht. Damit war ich zwar nicht einverstanden, aber ich will meinen Freunden nicht in ihre Entscheidungen reinreden.«
Ihre Augen flackerten, und zum ersten Mal zeigte sich auf ihrem Gesicht eine Gefühlsregung. »Wirklich? Es gibt doch niemanden, den Ihr nicht manipuliert.«
Relos Var zuckte die Achseln. »Ich werde mich nicht dafür entschuldigen, dass ich manche Optionen attraktiver erscheinen lasse als andere.«
»Wenn ich könnte, würde ich Euch jetzt töten«, sagte Xivan.
»Das könnt Ihr«, erwiderte Relos Var. »Das Schwert, das mein Schüler gerade auf den Boden gelegt hat, ist Urthaenriel.«
Sie blinzelte die Waffe überrascht an. »Ihr habt es gefunden. Ihr habt es tatsächlich gefunden.«
»Ja. Nun, mein Bruder hat es entdeckt.« Relos Var zuckte erneut die Achseln. »Ich glaube, Azhen hätte gewollt, dass Ihr es bekommt, nachdem er selbst es nun nicht mehr tragen kann.«
»Würde es mich denn nicht vernichten?« Sie konnte den Blick
nicht von der Waffe lösen.
»Nein«, erwiderte Relos Var. »Aber es wird Euch von der Nahrungsaufnahme abhalten und dadurch heilen. Außerdem entfaltet das Schwert seine Macht nur, wenn es gezückt ist. Daher würde ich es an Eurer Stelle vorsichtshalber nicht länger als drei Stunden am Stück in der Hand halten. Davon abgesehen wüsste ich jedoch keinen Grund, weshalb Ihr Urthaenriel nicht tragen können solltet. Und ich glaube, Ihr wisst genauso gut wie ich, dass Ihr es gegen bestimmte Individuen einsetzen könntet.«
Xivan starrte ihn an. »Suless.«
»Es heißt nicht umsonst Gottesschlächter.« Relos Var lächelte. »Und ich will, dass Ihr sie findet. Suless hat einen Hang zur Unberechenbarkeit, den ich gern vom Spielbrett entfernen würde.«
Xivan betrachtete die Schneide des Schwertes. Sie wusste, dass Relos Var sie nur für seine eigenen Zwecke einspannen wollte. Was sie selbst wollte, war ihm gleichgültig. Er behauptete zwar, Suless loswerden zu wollen, aber Xivan war klar, dass die Namen, die er in Wirklichkeit von seiner Liste streichen wollte, Khored, Taja, Ompher, Galava, Argas, Tya und Thaena lauteten. Sie hatte Relos Var die Freundschaft zu ihrem Gemahl nie wirklich abgenommen. Xivan erkannte einen Puppenspieler, wenn sie einen sah.
Sie hob das Schwert auf.