KAPITEL 15

Ein uraltes Mittel gegen Depression

Die Mutter ist mit ihrem schreienden Baby selten allein; häufig vertreten andere sie oder helfen ihr dabei, das Kind zu beruhigen.

Ann Cale Kruger und Melvin Konner über ihre Zeit mit den !Kung-Frauen

Als Rosy auf die Welt kam, schien unser Leben perfekt. Matt und ich hatten endlich so viel Geld gespart, dass wir uns eine Eigentumswohnung leisten konnten, und auch die schien perfekt. Von ihr aus hat man eine wunderbare Aussicht auf die San Francisco Bay, und wenn der Nebel nicht alles in eine dicke Decke hüllt, kann man den Sonnenaufgang über den East Bay Hills sehen. Außerdem ist die Wohnung weder zu klein noch zu groß. Sie hat sogar Platz für ein Kinderzimmer, dessen Wände ich vor Rosys Geburt mit großen gelben Eulen und dem rosafarbenen Schriftzug »Rosemary« verzierte.

Obendrein konnten Matt und ich gleichzeitig Elternzeit nehmen und uns gemeinsam um unser Baby kümmern. Da hatten wir wirklich Glück gehabt – und wir waren auch glücklich.

Die ersten sechs Wochen von Rosys Leben verliefen völlig störungsfrei. Matt röstete Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwiches in der Pfanne für mich, während ich das Stillen lernte. Rosy weinte viel. Doch gemeinsam hielten und beruhigten Matt und ich sie, und auch meine Schwester besuchte uns für zehn Tage. Ich erinnere mich gern an diese Zeit.

Dann musste Matt zurück zur Arbeit, und unsere Welt veränderte sich auf ungute Weise.

Von acht Uhr morgens bis ungefähr sechs Uhr abends – also für rund zehn Stunden am Tag – gab es in der Wohnung nur mich, unsere Hündin Mango und die quengelige, an Dreimonatskoliken leidende Rosy. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Minute um Minute. Plötzlich kroch die Zeit in qualvoller Langsamkeit dahin. Was um alles in der Welt sollten wir den ganzen Tag tun? Und wie um Himmels willen konnte ich das Baby dazu bringen, ein Schläfchen zu halten, damit auch ich mich hin und wieder etwas ausruhen konnte?

Manchmal schaltete ich das Radio an, nur um wenigstens ab und zu eine andere Stimme zu hören. Manchmal sprang ich auch in ein Taxi und fuhr zu einer Selbsthilfegruppe für stillende Mütter am anderen Ende der Stadt – vorausgesetzt, ich konnte die Energie dazu aufbringen. An einem Nachmittag kam eine Freundin vorbei, um Hallo zu sagen und mir etwas zum Mittagessen zu bringen. Und das war’s. Ansonsten war ich allein, und während die Tage vergingen, verwandelte sich unsere perfekte Wohnung in eine einsame Insel. Jedes Mal, wenn Rosy weinte, quengelte oder schrie, war ich die Einzige, die sie auf den Arm nahm, sie an mich drückte und beruhigte. Ich war diejenige, die dafür sorgte, dass Rosy genug Nahrung, Trost und Liebe bekam. Ich war ihre ganze Welt. Und allmählich verwandelte sie sich in meine, jeden Tag ein Stückchen mehr.

In der Theorie klingt eine so enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter wunderschön, voller Verbundenheit, ein wahr gewordener Traum. So jedenfalls hatte ich es mir vorgestellt. So, daran besteht kein Zweifel, sah es in den Postings von Freundinnen auf Facebook aus. Friedvolle Mutterschaftsurlaubsseligkeit.

In der Praxis aber hielt diese Isolation und Einsamkeit eine dunkle Seite für mich bereit. Nachdem zwei Monate vergangen waren, fühlte ich mich zu Tode erschöpft. Ich brachte es durchschnittlich auf höchstens drei bis vier Stunden Schlaf pro Nacht, denn länger schlief Rosy in ihrem Kinderbettchen auch nicht. Die Erschöpfung hatte zur Folge, dass ich die ganze mir verbliebene Energie darauf verwenden musste, den winzigen Menschen in meiner Obhut am Leben zu erhalten. Weder schrieb ich etwas über Wissenschaft noch las ich etwas darüber. Ich ging nicht mehr wandern und kochte abends nicht mehr. Tag für Tag hatte ich das Gefühl, dass mir mein wahres Ich allmählich abhandenkam.

Und schließlich: die Depression. Ich wusste, dass ich Hilfe brauchte, aber die war schwer zu bekommen. Ich habe monatelang Ärzte und Therapeuten durchtelefoniert, bis ich endlich Glück hatte. Ich fand eine Psychiaterin, die unsere Versicherung akzeptierte und noch Termine frei hatte. Zu der Zeit, als Rosy sechs Monate alt wurde, nahm ich ein Antidepressivum und hatte einmal in der Woche eine Sitzung bei einer Therapeutin. Die sagte eines Nachmittags zu mir: »Sie müssen sich Hilfe mit Rosy holen. Können Sie vielleicht ein Kindermädchen anstellen? Oder früher wieder zu arbeiten anfangen? Sie brauchen Hilfe.«

Dann hatte ich wieder Glück. Wir konnten tatsächlich jemanden anstellen. Und wir konnten es uns leisten, meiner Mutter die Flüge zu bezahlen, damit sie uns regelmäßig besuchen kam. Am Ende aber war Rosy fast ausschließlich mit mir eine Bindung eingegangen (und nach viel Stress und Geschrei letztlich auch mit Matt und der Nanny). Mit der Depression hatte ich noch einige weitere Jahre zu kämpfen.

Ich habe die Schuld an dieser Depression immer mir selbst gegeben – aus irgendeinem Grund kam ich mit dem Leben als frischgebackene Mutter nicht zurecht. Ich schleppte immer noch »Gepäck« aus meiner Kindheit mit mir herum. Ich hatte mir nach Rosys Geburt nicht ausreichend Gesellschaft gesucht. Ich traf in puncto Kinderfürsorge die falschen Entscheidungen. Vielleicht hatte ich aber auch irgendeinen »Gendefekt« oder eine andere ungünstige Veranlagung.

Bei meinem Aufenthalt bei den Hadza-Familien jedoch wurde mir allmählich klar, dass nicht ich das Problem war.

Vor rund einer Million Jahren geschah in Afrika etwas Außergewöhnliches. Eine seltsam aussehende Affenart entwickelte plötzlich bemerkenswerte Fähigkeiten.

Zu diesen Fähigkeiten gehörte nicht nur, dass der Affe aufrecht auf zwei Beinen gehen konnte – das konnten einige andere Affen auch. Auch das Ausdenken und Anfertigen einer eindrucksvollen Reihe von Werkzeugen, darunter Messer und Äxte, war nicht ausschließlich dieser seltsam aussehenden Affenart vorbehalten. Er hatte ein recht großes Gehirn, aber so viel größer als andere nun auch wieder nicht.

Oberflächlich betrachtet ähnelte der Affe einer Handvoll anderer zweibeiniger, menschenartiger Spezies mit großem Gehirn, die den afrikanischen Kontinent etwa zur selben Zeit bevölkerten.

Wäre es allerdings möglich gewesen, ein paar Tage mit diesem Affen und seiner Familie zu verbringen, hätte man etwas Eigentümliches beobachten können. Zunächst einmal zeigten sich die Erwachsenen ungewöhnlich kooperativ und empathisch. Sie arbeiteten gemeinsam an Aufgaben, die andere Affen eher alleine erledigten, etwa am Errichten von Behausungen oder dem Aufspüren von Beute. Und sie schienen fast fähig, die Gedanken des anderen zu lesen. Sie begriffen, welche Ziele der andere hatte, und halfen ihm dabei, diese Ziele zu erreichen.

Am vielleicht eigentümlichsten aber war, dass die Babys dieser Affen unglaublich bedürftig waren. Die Affenmutter brachte Kinder zur Welt, die praktisch hilflos waren. Sie konnten sich noch nicht einmal am Körper der Mutter festkrallen. Sie brauchten Monate intensiver Fürsorge, bevor sie überhaupt krabbeln, und ein weiteres Jahr, bevor sie vor einer Gefahr weglaufen konnten. Aber auch dann war die Affenmutter noch längst nicht aus dem Schneider. Sie musste sich rund zehn Jahre um den Spross kümmern, bevor der kleine Wonneproppen endlich selbstständig wurde und so viele Kalorien aufnahm, dass er quasi auf eigenen Beinen stehen konnte.

Die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy schätzt, dass das Affenkind im Laufe seiner ersten zehn Lebensjahre zwischen zehn und dreizehn Millionen Kilokalorien brauchte, um sich vollständig entwickeln zu können. Das entspricht etwa viertausend Gläsern Erdnussbutter von Trader Joe’s. Und lassen Sie uns dabei nicht vergessen, dass es sich bei dieser Affenart um Jäger und Sammler handelte. Sie mussten also die Nahrung, die der Nachwuchs brauchte, mühsam sammeln oder bei der Jagd aufspüren – und das nicht nur wochen- oder monatelang, sondern über viele Jahre hinweg.

Wie auch Blaffer Hrdy versichert, war es für diese einzelne Affenmutter schlichtweg unmöglich, ihr Kind mit auch nur annähernd so viel Nahrung zu versorgen, vor allem dann nicht, wenn man davon ausgeht, dass es nicht ihr einziges Kind war oder sie schon wieder ein weiteres hilfloses und unglaublich bedürftiges Baby in ihrem Bauch trug.

Die Affenmutter hatte also ein Problem: Ihre Kinder verlangten weitaus mehr Fürsorge, Nahrung und Energie, als sie allein ihnen zur Verfügung stellen konnte. Selbst mit einem kompetenten und liebenden Partner an ihrer Seite wäre das unmöglich gewesen. Sie brauchte also Hilfe, und zwar nicht nur in Form eines raschen Besuchs von der lange nicht gesehenen Tante am Wochenende, sondern Vollzeithilfe. Jemanden, der in ihrer Nähe blieb, Nacht für Nacht. Jemanden, der ihr bei der Zubereitung der Mahlzeiten half, Extrabeeren sammelte und das Haus putzte. Sie brauchte jemanden, der mit den älteren Kindern spielte und die Babys hielt, wenn sie nicht konnte.

Im Laufe der Zeit verschlimmerte sich das Problem. Von Generation zu Generation wurden die Babys der Spezies immer hilfloser, und es dauerte immer länger, bis die Kinder selbstständig wurden.

Wir machen nun einen Zeitsprung von rund achthunderttausend Jahren. Mittlerweile sehen die Affen im Großen und Ganzen wie Menschen aus. Sie sind wir.

Und das, was wir, also Homo sapiens, zur Welt bringen, bezeichnen Wissenschaftler gern als »unreife« Babys. Damit meine ich keine Frühchen – alle menschlichen Babys kommen im Vergleich mit anderen Primatenarten unreif auf die Welt. Der menschliche Säugling ist nicht nur irgendwie unförmig, äußerst verletzlich und bar jeglicher motorischer Koordination, auch sein Gehirn ist bei der Geburt kaum funktionsfähig. Verglichen mit anderen Primaten kommt der Mensch mit dem am wenigsten entwickelten Gehirn zur Welt, mit einem Gehirn, das dreißig Prozent kleiner ist als das des Erwachsenen.

Nehmen wir als Beispiel nur einmal unsere engsten Verwandten, die Schimpansen. Ein menschliches Baby würde noch für etwa neun bis zwölf Monate im Mutterleib weiterwachsen müssen, um in der neurologischen und kognitiven Entwicklung mit einem neugeborenen Schimpansen mithalten zu können.

Als Rosy wenige Tage alt war, konnte sie im Großen und Ganzen nur zwei Dinge: schreien und in die Windel machen. Sie hatte sogar Schwierigkeiten damit, beim Stillen anzudocken. Als ich sie über das Waschbecken hielt, um sie zu baden, fühlte sie sich an wie der Truthahn am Erntedankfest, bevor er in den Ofen geschoben wird: roh und glitschig. Ihre Muskeln waren schlaff, Arme, Beine und Kopf baumelten im Raum, gab man ihnen keinen Halt. Ich hatte furchtbare Angst, dass sie mir einfach aus den Händen gleiten würde.

Warum Homo sapiens derart unfertige Kinder zur Welt bringt, weiß niemand so genau. Manche machen unser supergroßes Gehirn dafür verantwortlich, das, könnte es sich im Mutterleib voll entwickeln, der Mutter bei der Geburt ernsthafte Probleme bereiten würde. Ebenso wenig können die Wissenschaftler sagen, warum das Menschenkind so lange braucht, um zu einem selbstständigen Wesen heranzureifen. Vielleicht ist es diese ausgedehnte Kindheit, die uns reichlich Zeit verschafft, um die Fähigkeiten zu erlernen, die uns als Mensch auszeichnen, beispielsweise die Aneignung der Sprache und das Zurechtfinden in komplizierten sozialen Strukturen. Eines aber wissen wir mit Sicherheit: Als sich der Mensch über Zigtausende von Jahren entwickelte und sein Nachwuchs immer mehr Zeit, Aufmerksamkeit und Energie erforderte, entwickelte sich damit auch ein weiteres Merkmal: die alloparentale Fürsorge.

Blaffer Hrdy drückt das so aus: »Ein Affe, der einen so aufwendigen, langsam reifenden Nachwuchs hervorbringt wie wir, hätte sich nicht entwickeln können, hätten die Mütter nicht jede Menge Hilfe gehabt.«

Und wenn Blaffer Hrdy sagt: »jede Menge Hilfe«, meint sie ausgesprochen viel Hilfe.

Abgesehen von der Mutter und dem Vater ist jeder, der sich um das Kind kümmert, alloparental, also fürsorglich tätig. Das kann ein Verwandter sein, eine Nachbarin, ein Freund, selbst andere Kinder können sich wunderbar alloparental betätigen.

Blaffer Hrdy zufolge stellten diese zusätzlichen Eltern einen entscheidenden Faktor in der menschlichen Evolution dar. Im Laufe ihrer Karriere hat sie einen eindrucksvollen Schatz an Belegen für die Hypothese angehäuft. Sie ist davon überzeugt, dass der Mensch evolutionär darauf programmiert ist, sich als Gruppe in die Pflichten der Kinderbetreuung einzubringen. Gleichzeitig ist unser Nachwuchs evolutionär darauf programmiert, von einer Handvoll Menschen aufgezogen zu werden – nicht nur von zweien.

Ich habe für diese Art von Familie, die alloparentale Familie, einmal den Ausdruck »Kreis der Liebe« gehört, den ich sehr schön und passend fand. Denn wir sprechen hier nicht von Gelegenheitsbetreuern, die im Leben des Kindes kommen und gehen. Wir sprechen von fünf oder sechs Schlüsselpersonen, die die Eltern des Kindes unterstützen; und alle gemeinsam bilden sie einen stetigen Strom bedingungsloser Liebe, der das Kind beim Aufwachsen trägt.

Diese Form der Erziehung ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe dafür, warum unsere Spezies und unsere Vorfahren die vergangene Million Jahre überlebt haben, während andere menschenähnliche Arten wie der Neandertaler oder der Homo heidelbergensis es nicht geschafft haben. Mit anderen Worten: Der »Erfolg« von Homo sapiens auf Erden hat vermutlich weniger mit »Jäger Mensch« als mehr mit »Helferin Tante« und »Kinderbetreuer Opa« zu tun.

Allo stammt aus dem Griechischen und bedeutet »anders«. Die Bezeichnung »andere Eltern« würde dem, was mit alloparentaler Fürsorge gemeint ist, allerdings nicht im Mindesten gerecht. Diese Bezugspersonen sind nicht einfach die »anderen«, die eine Nebenrolle im Leben des Kindes spielen. Ganz im Gegenteil. Sie sind ein zentraler, allgegenwärtiger Quell der Liebe und Fürsorge für die Kinder und verantwortlich für weitaus mehr, als lediglich die Windeln zu wechseln oder das Baby in den Schlaf zu wiegen.

Dazu wieder ein Beispiel: die Ewe, eine Gruppe von Jägern und Sammlern, die seit Tausenden von Jahren im Regenwald Zentralafrikas heimisch ist. Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes kommen andere Frauen zu der frischgebackenen Mutter und bilden eine Art Baby-SWAT-Team, das Gewehr bei Fuß steht. Sie halten, liebkosen und schaukeln das Neugeborene, sie füttern es sogar. Denn, wie der Anthropologe Melvin Konner schreibt: »Ein schreiendes, weinendes Baby bedarf der gemeinsamen Anstrengung.« Schon nach wenigen Tagen kann die junge Mutter zu ihrer Arbeit zurückkehren und das Baby in der Obhut einer Allomutter lassen.

In den ersten Lebenswochen »wandert« der Säugling von einer Betreuerin zur nächsten, und zwar durchschnittlich alle fünfzehn Minuten. Ist das Baby drei Wochen alt, kümmern sich die Allomütter zu etwa vierzig Prozent um das körperliche Wohl des Kindes. In der sechzehnten Woche macht dieser Anteil schon satte sechzig Prozent aus. Und im Alter von zwei Jahren verbringt das Kind mehr Zeit mit anderen als mit der eigenen Mutter.

All das Kuscheln und Trösten vonseiten der Allomütter wirkt sich anhaltend positiv auf die Babys und Kinder aus. Die Frauen kennen das Kleine genauso gut, wie seine eigene Mutter es kennt. Und die Kleinen fühlen sich bei den Alloeltern genauso sicher und wohl wie bei den eigenen. Als Folge davon entstehen enge Bindungen zu zahlreichen Erwachsenen, insgesamt vielleicht zu fünf oder sechs Bezugspersonen.

Ähnliches kann man in vielen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften rund um den Globus beobachten. Bei den BaYaka, die ebenfalls in Zentralafrika leben, haben die Kinder im Laufe des Tages ungefähr zwanzig verschiedene Bezugspersonen. Einige davon sehen nur gelegentlich nach dem Baby, andere aber – etwa die Hälfte – helfen bei so wichtigen Aufgaben wie dem Füttern oder dem Säubern.

»Eine ganz andere Situation also als bei uns im Westen, wo die Mutter die einzige Bezugsperson im Leben des Babys ist und all ihre Energie aufwenden muss, um sich um ihr Kind zu kümmern«, so die Anthropologin Abigail Page, die sich mit den Agta beschäftigt, einer Gruppe von Jägern und Sammlern auf den Philippinen.

Im südlichen Indien schätzen die Nayaka-Jäger-und-Sammler Alloeltern so sehr, dass sie sogar ein eigenes Wort für sie haben: sonta, was grob übersetzt »eine Gruppe von Menschen, die wie Geschwister sind« bedeutet. Die Erwachsenen nennen alle Kinder, die sie kennen, »Sohn« oder »Tochter« (maga[n]) und alle älteren Menschen der Gemeinschaft »kleiner Vater« (cikappa[n]) beziehungsweise »kleine Mutter« (cikawa[l]).

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass es in Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften die Verwandten sind, die die wichtige Funktion der Alloeltern erfüllen. In vielen Kulturen aber ziehen die Familien umher und befinden sich deshalb nicht immer in unmittelbarer Nähe der Verwandtschaft.

Aus diesem Grund suchen die Forscherinnen und Forscher in letzter Zeit immer häufiger außerhalb der Familie nach besagten Alloeltern. Und siehe da: Sie haben eine ganze Menagerie an Betreuerinnen und Betreuern aufgetan, die mit dem Kind rein durch Nähe und Liebe verbunden sind. Besonders in einer Studie stellte sich etwas ausgesprochen Überraschendes als Quelle der elterlichen Unterstützung heraus – eine Quelle, die westliche Familien leicht anzapfen können.

Die Studie wurde entlang der Nordküste der Philippinen durchgeführt, in dieser Region gibt es die Agta schon seit vielen Tausend Jahren. Sie jagen zwischen den Korallenriffen mit Speeren nach Fischen, suchen in Gezeitentümpeln nach Nahrung und ziehen ganz nach oben in die Berge, wenn sie vor Gewalt (oder einer Pandemie) flüchten müssen.

Abigail Page und ihre Kollegin beobachteten einige Agta-Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren, um herauszufinden, wer sich den Tag über um die Kinder kümmerte. Zum einen war das die Mutter, die mit rund zwanzig Prozent einen großen Anteil an der Betreuung übernahm. Und nun raten Sie mal, wer einen noch größeren Anteil hatte. Das waren andere Kinder! Kinder unter zehn Jahren, die sich nach Verantwortung sehnen und wirklich schon ein »großes Mädchen« oder ein »großer Junge« sein wollen. Mit anderen Worten: die Belies dieser Welt (und die Rosys in ein oder zwei Jahren).

Diese Mini-Alloeltern im Alter zwischen sechs und elf Jahren übernahmen etwa ein Viertel der Betreuung jüngerer Kinder, so Page. Sie entlasteten die Mütter so sehr, dass diese entweder wieder arbeiten oder einfach eine Pause machen und sich entspannen konnten. Doch die Kinder waren nicht einfach nur Babysitter – sie nahmen ihre Aufgabe weitaus ernster. Sie betätigten sich auch gleich noch als Lehrerinnen und Lehrer.

Pages Ansicht nach können kleine Kinder, die etwa fünf Jahre älter als die anderen Kinder sind, sehr gute Lehrer sein – viel bessere Lehrer als die Eltern. Die Kleinen haben uns Alten gegenüber mehrere große Vorteile, erläutert Page. Sie haben mehr Energie als die Eltern. Sie gestalten den »Unterricht« ganz automatisch spielerisch, sodass das Lernen schlicht mehr Spaß macht. Und ihr Können bei bestimmten Aufgaben ähnelt dem der jüngeren Kinder.

Momentan unterschätzt die westliche Kultur den Wert des Lehrens von Kind zu Kind, so die Psychologin Sheina Lew-Levy, die sich mit den BaYaka-Jägern-und-Sammlern in Zentralafrika beschäftigt.

»Für uns bedeutet Unterricht, dass ein sachkundiger Erwachsener einer jüngeren Person etwas beibringt, was meine Forschungen allerdings nicht bestätigen. Ich habe beobachtet, dass der Unterricht von kleinem Kind zu Kleinkind viel häufiger stattfindet«, so LewLevy.

Letztlich verschaffen diese gemischtaltrigen Spielgruppen nicht nur den Eltern mehr Freizeit, sondern auch den Kindern mehr körperliche und geistige Anregung, ist Lew-Levy überzeugt. »Diese Spielgruppen sind sehr wichtig für das soziale Lernen und die soziale Entwicklung. In ihnen lernen die Kinder, ihren Horizont zu erweitern; sie eignen sich soziale und emotionale Fähigkeiten an und sie lernen, wie man in einer Gesellschaft funktioniert.«

Bei den Hadza habe ich die alloparentale Fürsorge überall erlebt. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeitete eine Gruppe von rund einem Dutzend Frauen und Männern Tag für Tag zusammen, um sich gemeinsam um die Babys und Kleinkinder zu kümmern. Tatsächlich kümmerten sich alle Frauen und Männer dort derart liebevoll um alle Kinder, dass ich am Anfang Schwierigkeiten hatte zu sagen, welches Kind zu welchen Eltern gehörte. Die Kinder dort scheinen sich bei einer Handvoll Erwachsener jeweils gleichermaßen wohlzufühlen.

Subion, Mutter von vier Kindern, fasste das perfekt so zusammen: »Letzten Endes bist du für deine eigenen Kinder verantwortlich, liebst aber alle Kinder wie deine eigenen.«

Mit ihrem liebevollen Gesicht und ihrer sanften Stimme verströmt Subion Zärtlichkeit und Mitgefühl. Wenn sie lächelt oder lacht, was sie häufig tut, erscheinen zwei Grübchen auf ihren rundlichen Wangen. Dennoch ist Subion hart im Nehmen. Sie ist alleinerziehende Mutter, einer ihrer Söhne ist behindert, er kann nicht gehen. Am Tag vor unserem Gespräch habe ich sie dabei beobachtet, wie sie einen Eimer voller Wasser fast zweieinhalb Kilometer weit eine steile Flussschlucht hinauf auf ihrem Kopf balancierte, auf dem Rücken ein Baby und ein Kleinkind am Rockzipfel.

»Subion, glaubst du, es ist schwer, Mutter zu sein?«, frage ich sie.

»Ja«, antwortet sie rasch und ernst. »Du musst hart arbeiten, wenn du dich um die Kinder kümmern willst. Aber ich bin stolz darauf, Mutter zu sein.«

Als ich dabei zusehe, wie Subion mit den anderen Frauen im Lager lacht und scherzt, während sie die Babys herumreichen, wird mir bewusst, dass diese Hadza-Mütter nicht nur ungeheuer viel Hilfe bei der Betreuung der Kinder haben, sondern auch auf eine verlässliche Kameradschaft untereinander bauen können. Ich hingegen kann von Glück sagen, wenn ich zwei bis drei Stunden pro Woche mit meinen Freundinnen verbringen kann. Die Hadza-Frauen sehen einander acht bis zehn Stunden am Tag! Und man spürt sofort, dass die Beziehungen dieser Frauen zueinander außerordentlich bereichernd und erfüllend sind.

Einer wissenschaftlichen Hypothese zufolge hat sich die alloparentale Fürsorge entwickelt, um Eltern beim Großziehen der Kinder zu unterstützen. Doch angenommen, das Ziel dieser Art von Fürsorge bestünde nicht nur darin sicherzustellen, dass die Kinder einen vollen Magen haben. Angenommen, das Ziel der alloparentalen Fürsorge bestünde auch darin, den Eltern etwas Entscheidendes zu geben, nämlich Freundschaft.

Subion und die anderen Hadza-Männer und -Frauen haben etwas in Hülle und Fülle, von dem ich als frischgebackene Mutter nur träumen konnte: sozialen Zusammenhalt. Sie haben ein ganzes Netzwerk an Menschen, an die sie sich wenden können, wenn sie sich niedergeschlagen fühlen oder Hilfe brauchen. Wenn es kritisch wird, können sie aufeinander zählen.

Für Homo sapiens ist der soziale Zusammenhalt eine Art Wunderdroge, denn er hat gesundheitliche Vorzüge, die sich im ganzen Körper bemerkbar machen, angefangen bei Kopf und Geist über das Blut und das Herz bis in die Knochen hinein. In den vergangenen Jahrzehnten konnte Studie für Studie nachgewiesen werden, dass sich innige Freundschaften und Kameradschaft auf alle möglichen Arten und Weisen positiv auf unsere Gesundheit auswirken. Sie senken unser Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, stärken das Immunsystem und schützen uns vor Stress, Angst und Depression. Menschen mit psychischen Problemen haben bessere Chancen, diese zu bewältigen, wenn sie sich der Unterstützung durch Familie und Freunde gewiss sind.

»Schon Zeit mit anderen zu verbringen, auch ohne gegenseitige Interaktion, kann den Blutdruck senken und sich beruhigend auswirken«, so der Psychologe Bert Uchino von der University of Utah, der untersucht, welchen Einfluss Einsamkeit auf unsere körperliche Gesundheit hat.

Umgekehrt können sich psychische Probleme durch einen Mangel an sozialem Zusammenhalt verschlimmern und zu einem Schneeballeffekt führen, erläutert Uchino. Einsamkeit kann Angst, Depressionen und Schlafstörungen verursachen, die noch mehr Einsamkeit zur Folge haben. »Menschen, die keinen sozialen Zusammenhalt spüren, zeigen Anzeichen von körperlichem Stress. Sie wirken, als würden sie bedroht, als würden sie verfolgt«, so Uchino.

Der soziale Zusammenhalt ist so wichtig für die physische Gesundheit, dass sich laut einer Studie verlässliche Beziehungen sogar ebenso positiv auf die Lebenserwartung auswirkten wie regelmäßige Bewegung oder mit dem Rauchen aufzuhören. Mit anderen Worten: Die Zeit und Energie, die man in das Aufbauen und Pflegen tiefer, erfüllender Freundschaften investiert, sind wahrscheinlich ebenso entscheidend für das allgemeine Wohlbefinden wie das tägliche Joggen (oder der Verzicht auf Nikotin).

Die meisten dieser Studien drehen sich um Erwachsene, doch ist die soziale Unterstützung, vor allem durch die eigene Familie, für Kinder vielleicht sogar noch wichtiger, so Uchino. »Die Qualität unserer frühen familiären Beziehungen bestimmt, ob wir als Erwachsene an Einsamkeit und gesellschaftlicher Isolation leiden. Fühlt sich ein Kind von den Eltern umsorgt und hat es das Gefühl, dass es auf seine Eltern zählen kann, begleiten diese Gefühle das Kind sein gesamtes weiteres Leben lang.«

Wenn das stimmt, was ist dann mit Kindern, die sich nicht nur von zwei Eltern, sondern von drei, vier oder fünf Alloeltern geliebt und umsorgt fühlen?

Einige Anthropologinnen und Anthropologen glauben, dass die alloparentale Fürsorge Kindern etwas geradezu Märchenhaftes gibt: Vertrauen in die Welt. Das Vertrauen, dass die Familie für einen da ist. Das Vertrauen, dass die Leute in der Nachbarschaft für einen da sind. Das Vertrauen, dass der Wald für einen da ist. Das Vertrauen, dass die Menschen, denen man begegnet, freundlich, herzlich und hilfsbereit sind. Das Vertrauen, dass die Welt für einen da sein wird.

»Die enge Beziehung zwischen Alloeltern und Baby schon früh im Leben baut ungeheuer viel Vertrauen auf, das dann wiederum auf die ganze Welt ausgedehnt wird«, so Sheina Lew-Levy.

Der Kreis der Liebe, von dem ein kleines Kind umschlossen ist, bereitet dieses Kind darauf vor, der Welt seinerseits Liebe, Vertrauen und das Gefühl der Sicherheit zurückzugeben.

Als ich wieder in San Francisco war, gingen mir Subion und die anderen Hadza-Mütter nicht mehr aus dem Kopf: Wie sie den Tag miteinander verbringen und sich gegenseitig mit ihren Babys und Kleinkindern helfen. Meine Erfahrungen als frischgebackene Mutter wären sicherlich anders ausgefallen, hätte ich so viel Hilfe gehabt. Ich hätte sicherlich anderes erlebt, hätten unserer kleinen Familie fünf oder sogar zehn Alloeltern zur Verfügung gestanden.

Wie schön wäre es gewesen, hätte mir eine nahestehende Tante gezeigt, wie man Rosy wickelt, oder ein Großvater mir beigebracht, wie man Rosy in den Schlaf wiegt. Wie schön wäre es gewesen, wäre eine Nachbarin bei uns gewesen, als Rosy nachts Koliken hatte und wir sie nicht beruhigen konnten. Wie schön wäre es gewesen, hätte meine Schwester drei Monate statt nur zehn Tage bleiben können.

Mit all diesen Extrahänden, -umarmungen und -herzen hätte Rosy viel weniger geweint und geschrien, da bin ich mir sicher. Und die Mutter und der Vater? Ich für meinen Teil hätte mich wahrscheinlich mehr wie ein menschliches Wesen und weniger wie eine Milch produzierende, Windeln wechselnde Maschine gefühlt. Matt und ich hätten uns weniger erschöpft und allein gefühlt. Alloeltern hätten uns sowohl physisch als auch mental gestärkt. Hätte ich mit ihnen auch an einer Wochenbettdepression gelitten? Vermutlich nicht.

Vielleicht war doch nicht ich das Problem, ging es mir durch den Kopf. Vielleicht liegt das Problem eher in der westlichen Kultur – darin, wie unserer Meinung nach Erziehung funktioniert und wir Babys auf ihrem Weg ins Leben begleiten. Indem wir frischgebackene Eltern isolieren und uns derart auf die Kernfamilie als Hauptbetreuer konzentrieren, prädestinieren wir Mütter und Väter geradezu für postpartale Ängste und Depressionen. (Und ich spreche hier nur von einer Familie wie der unseren, die das enorme Glück und Privileg hat, ein Zuhause, ein stabiles Einkommen und eine Krankenversicherung zu haben. Wie viel schwerer es die diesbezüglichen Praktiken unserer Kultur Familien ohne diese finanzielle Sicherheit machen, kann ich mir kaum auch nur annähernd vorstellen.)

Und wie sich derzeit herausstellt, ist diese isolierte Art zu erziehen auch für die Kinder nicht so positiv, selbst wenn wir als Eltern gute Absichten hegen. Als Eltern wollen wir alles tun, damit unsere Kinder einmal alles haben, was sie brauchen. Wenn wir uns aber zu sehr auf Schule, Noten und Leistung konzentrieren, dann schließen wir unsere Kinder vielleicht zu sehr auf engem Raum ein – und machen sie damit anfälliger für dieselben Ängste und Depressionen, denen auch ich als junge Mutter gegenüberstand.

Vielleicht, so wird mir allmählich klar, braucht Rosy nicht noch eine Aktivität nach der Kita oder Extraunterricht am Wochenende. Vielleicht braucht sie eher etwas Zeit mit einigen wichtigen Erwachsenen und Kindern, die sie ebenso gut kennen und ebenso lieben wie ihr Vater und ihre Mutter. Was Rosy braucht, ist ein Kreis der Liebe, der sie aufmuntert und ihr Vertrauen in die Welt schenkt.

Übung 9:
Emotionale Unterstützung für die Familie aufbauen (und sich selbst eine Pause gönnen)

Schon ein wenig alloparentale Fürsorge kann eine große Hilfe sein. Bereits ein paar zusätzliche Erwachsene, die sich um das Kind kümmern, können viel im Leben des Kindes bewirken, egal wie alt es ist.

Erste Schritte

Die nächsten Schritte

Los gehtʼs