Erziehungswerkzeuge
In Erziehungsratgebern wird Eltern häufig empfohlen, ihr Kind nicht anzuschreien oder mit ihm zu schimpfen – was man aber stattdessen tun soll, wenn man gerade sehr wütend auf das Kind ist, verraten sie häufig nicht. Es wird empfohlen, das Kind in seinen Gefühlen zu bestätigen (»Du bist gerade sehr aufgebracht.« Oder: »Du bist richtig wütend. Es hat dich sehr geärgert, dass dein Bruder dir dein Spielzeug weggenommen hat.«). Wie man aber das Verhalten des Kindes ändern kann, darüber wird kein Wort verloren. Wie man dem Kind helfen kann, über die Emotion hinwegzukommen und das Problem anzugehen, das die Wut oder den Streit ausgelöst hat. Wenn wir Kinder andauernd in ihren Emotionen bestätigen, wie sollen sie dann einen produktiveren Umgang mit Frustration oder Problemen erlernen?
Mir kommen Eltern manchmal wie Zimmerleute vor, die unablässig daran arbeiten, ein robustes, wunderschönes Haus zu bauen. Plötzlich aber kommt ein sogenannter Experte des Wegs, nimmt ihnen das einzige Werkzeug, das sie haben, weg – einen lauten, wütenden Hammer – und geht wieder, ohne ihnen ein Ersatzwerkzeug ausgehändigt zu haben, keinen Bohrer, keine Säge, keine Wasserwaage, keine Schrauben oder Sonstiges. Was sollen sie dann tun?
Bei meinen Besuchen in Kugaaruk und auf der Halbinsel Yucatán konnte ich erleben, dass sich die Mütter und Väter dort einer geradezu überwältigenden Vielfalt an Erziehungswerkzeugen bedienten. Diese Werkzeuge formen nicht nur das Verhalten der Kinder und sorgen für deren Sicherheit, sie gehen noch viel weiter. Durch sie lernen Kinder auch nachzudenken, bevor sie handeln, und wie sie mit Enttäuschung und Veränderungen umgehen können. Anders ausgedrückt: Mit diesen Werkzeugen entwickeln Kinder ganz fantastische exekutive Funktionen.
Noch ein Wort zu diesen Werkzeugen, bevor wir sie anwenden. Ich habe am Anfang den Fehler gemacht, sie zu wörtlich zu nehmen. Verpflanzt man eine Idee von einer Kultur in eine andere, kann sich die Idee in ihrer Form verändern. Sie ziehen das Beste aus dem im Folgenden Beschriebenen, wenn Sie es an die Bedürfnisse Ihrer eigenen Kinder, Ihrer eigenen Familie und Ihres eigenen Alltags anpassen. Ein Werkzeug beispielsweise besteht darin, dem Kind durch Fragen dabei zu helfen, über sein Verhalten nachzudenken. Nun sind die Fragen, auf die die Inuit-Eltern in der Zentralarktis in den 1960er-Jahren oder auch fünfzig Jahre später zurückgriffen, für ein amerikanisches vorpubertäres Kind in New York City in den 2020er-Jahren vielleicht nicht so gut geeignet. Seien Sie kreativ. Lassen Sie sich etwas einfallen. Beobachten Sie, wie Ihr Kind reagiert, welche Wörter es benutzt, und passen Sie die Werkzeuge entsprechend an.
Ein weiteres Beispiel: Um Kindern und Kleinkindern beizubringen, mit einem neuen Geschwisterchen zu teilen, machen sich einige Maya-Eltern den Wunsch der Kinder zunutze, eine »große Schwester« oder ein »großer Bruder« zu sein und sich um kleinere Kinder zu kümmern. »Das ist dein kleineres Geschwisterchen, das Arme. Gib ihm doch etwas ab«, sagen die Eltern etwa und deuten an, dass das Kind dem Baby helfen sollte.
Als ich das aber mit Rosy ausprobierte, kamen wir nicht viel weiter. Sie sah mich an, als spräche ich eine andere Sprache. Na gut, das funktioniert also nicht, dachte ich mir, bis ich sie eines Tages mit ihrem Teddy Einstein spielen sah. »Shhhh, Einstein, shhhh. Du musst nicht weinen, Einstein, Mama ist ja da«, sagte sie und wiegte den Teddy wie ein Baby.
Da wurde mir mit einem Schlag klar, dass Rosy mir gerade zeigte, wie ich ihr das Teilen beibringen konnte. Sie will nicht die große Schwester sein – dafür hat sie auch gar kein Vorbild –, sie will die Mutter sein! Als wir also das nächste Mal auf dem Spielplatz waren, ein Kleinkind in Windeln zu ihr hinübertapste und ein Stück von Rosys Keks wollte, sagte ich zu ihr: »Der Arme, er braucht seine Mama, die ihm ein Stückchen Keks gibt. Bist du die Mama, Rosy?« Es war, als hätte jemand das Licht in ihrem Kopf angeknipst. Ihre Augen weiteten sich, ihr Mund formte sich zu einem kleinen Lächeln, und ein paar Sekunden später hatte der Kleine sein Stück Keks.
Ich stelle Ihnen die Werkzeuge in drei Etappen vor. Zunächst werden wir uns mit Wut- oder Tobsuchtsanfällen beschäftigen, den Augenblicken, in denen das Kind die Kontrolle über seine Emotionen verloren hat. Danach geht es um ganz alltägliche Ungezogenheiten wie Quengeln, Murren und Fordern. Und schließlich lernen Sie in den Kapiteln 11 und 12 Werkzeuge kennen, die das Verhalten des Kindes langfristig verändern und ihm Schlüsselwerte vermitteln.
Einige Tage nach unserer Ankunft in Kugaaruk wird mir endlich allmählich klar, wie ich Rosy helfen kann, wenn sie einen ihrer Tobsuchtsanfälle hat – und wie ich dafür sorgen kann, dass diese Tobsuchtsanfälle weniger intensiv verlaufen und weniger häufig auftreten. Diese Erkenntnis verdanke ich vor allem einem Menschen: meiner Dolmetscherin Elizabeth Tegumiar.
Eines Nachmittags machen Elizabeth, Rosy und ich uns zum Lebensmittelladen auf, wo wir uns fürs Mittagessen mit Kartoffelchips, Putenaufschnitt und Crackern eindecken wollen. Als wir an der Kasse anstehen, entdeckt Rosy ein Gestell mit pastellfarbenen Haarbändern – rosa, blau und gelb – mit kleinen Einhörnern darauf. Sie ist sofort wie elektrisiert: »Mama, kann ich eins haben, nur eins?«
»Tut mir leid, Rosy«, antworte ich. »Wir brauchen nicht noch ein Haarband.«
Umgehend braut sich bei Rosy ein Tobsuchtsanfall zusammen. »Ich will aber eins! Ich will!«, schreit sie.
Ich reagiere darauf mit meiner üblichen Routine: eine Kombination aus Strenge, rationalen Argumenten und der Aufforderung, sie solle aufhören zu quengeln. Ich begegne Rosys Schreien mit Forderungen meinerseits. Zwischen uns zucken Spannungen auf wie Blitze an einem Gewitterhimmel. Wut schleicht sich wie Donnergrollen in meine Stimme und bricht aus meinen Augen hervor. Rosy spürt die Wut und reagiert ihrerseits mit Blitzen des Zorns: Sie schlägt um sich und schreit immer lauter. Sie verliert die Kontrolle über ihre Emotionen.
Zum Glück ist Elizabeth bei uns. Sie geht zu Rosy hinüber und tut das genaue Gegenteil dessen, was ich tue: Sie senkt das Energieniveau. Statt hart und streng zu sein, ist sie liebevoll, zärtlich und unglaublich ruhig. Ihr Gesichtsausdruck ist weich, ihr Körper entspannt. Sie macht kleine, sanfte Bewegungen. Zuerst sagt sie nichts. Sie wartet ein paar Sekunden. Dann spricht sie zu Rosy in der ruhigsten, süßesten Stimme, die ich bis dahin von ihr gehört habe. Die Worte kommen langsam und überlegt. Aber sie sagt nicht viel. Sie begegnet Rosys Ungestüm einfach nur mit Zärtlichkeit, hüllt die Blitze in eine weiche Decke. Rosy ist wie gebannt – und hört augenblicklich auf zu schreien. Dann dreht sie sich zu Elizabeth um und sagt in ihrem süßesten Tonfall: »Iqutaq«, das Inuktitut-Wort für Hummel.
Wenn Sie auch nur einen Vorschlag aus diesem Buch in die Tat umsetzen, so hoffe ich sehr, dass Sie sich für diesen hier entscheiden. Das wird nicht leicht sein; ich verspreche Ihnen aber, es ist die Mühe wert.
In vielen Kulturen der Welt gilt es als eine der Hauptverantwortlichkeiten von Eltern, ihren Kindern beizubringen, wie man sich beruhigt, wie man auf die ganz alltäglichen Frustrationen des Lebens mit Souveränität und Gelassenheit reagiert. Diese Verantwortlichkeit nehmen die Eltern ebenso ernst, wie dem Kind Fähigkeiten wie das Lesen, Rechnen oder sich gesund zu ernähren beizubringen.
»Ich sage nachfolgenden Generationen immer: ›Die Kinder sollten nicht zu viel weinen; versucht, sie zu beruhigen‹«, erzählt Maria Kukkuvak mir an ihrem Küchentisch. »Die Eltern und Großeltern müssen die Kinder beruhigen.«
Und der beste Weg, das zu tun – egal ob die Kinder weinen, schreien oder endlos Forderungen stellen –, besteht für die Erwachsenen darin, ihnen mit äußerster Ruhe zu begegnen. Mit einer Ruhe, die man so in der westlichen Kultur selten erlebt. Stellen Sie sich vor, Sie hätten gerade eine professionelle einstündige Rückenmassage bekommen oder ein langes, heißes Bad genommen – von dieser Ruhe spreche ich.
In Kugaaruk gilt: Je höher das Energielevel des Kindes in einer bestimmten Situation ist, desto niedriger sollte es bei den Erwachsenen sein. Schreit das Kind, schlägt es um sich, weint es oder haut es sogar, reagieren die Eltern darauf nicht mit einem Schwall an Befehlen, auch sagen sie dem Kind nicht, es solle sich beruhigen. Weder drohen sie ihm (»Wenn du jetzt nicht aufhörst zu schreien, dann …«) noch bemuttern sie es (»Was ist denn los, Schatz? Willst du etwas zu trinken? Willst du …?«).
Stattdessen zeigen sie dem Kind, wie man sich beruhigt, indem sie selbst ruhig bleiben.
Wann immer Kinder weinen oder schreien, sagen die Eltern nur wenig, denn Worte reizen. Sie machen wenn überhaupt auch nur kleine Bewegungen, denn Bewegungen reizen ebenfalls. Und sie bedienen sich fast keiner Mimik, denn Emotionen reizen auch. Das bedeutet nicht, dass die Eltern zaghaft oder ängstlich wären. Im Gegenteil: Sie verströmen Zuversicht und Selbstvertrauen. Doch sie verhalten sich dem Kind gegenüber so, wie man sich einem Schmetterling im Garten nähern würde: sanft, langsam und leise.
Die Anthropologin Jean Briggs hat diesen Erziehungsstil während ihres Aufenthalts bei Allaqs und Inuttiaqs Familie in den 1960er-Jahren mehrmals dokumentiert. »Auch in der ruhig rationalen Art und Weise, in der die Erwachsenen auf kindliches Fehlverhalten reagierten, steckte Konsequenz … Als Saarak [ein dreijähriges Mädchen] [ihrer Mutter] mit einem Löffel ins Gesicht schlug, drehte diese das Gesicht weg und sagte ganz ruhig: ›Sie hat keine Vernunft (ihuma).‹«
Später musste sich die Dreijährige mit einem neuen Geschwisterchen abfinden. Als die Mutter das Kleinkind dann nicht mehr stillte, brach die Hölle los. Saarak entfesselte einen wahren »Sturm an Heulen und Um-sich-Schlagen«. Darauf reagierte die Mutter nicht etwa, indem sie das Kind ermahnte, sondern mit einer »unglaublich zärtlichen Stimme«. »Ich hätte nie geglaubt, dass die Krise [die Entthronung durch ein Geschwisterchen] derart sanft aus der Welt geschafft werden könnte«, so Briggs.
Warum ist diese Strategie so ungeheuer effektiv? Nun, das lässt sich ganz leicht erklären: Die Emotionen von Kindern – inklusive Energielevel – spiegeln die der Eltern wider, so die Kinder-Psychotherapeutin Tina Payne Bryson, Co-Autorin zweier Erziehungsratgeber, die es auf die New York Times-Bestsellerliste geschafft haben.
»Emotionen sind ansteckend«, erläutert Payne Bryson. Das menschliche Gehirn enthält Neuronen und Schaltungen, die einzig dazu da sind, die Gefühle anderer Menschen zu spiegeln. »Unser Gehirn verfügt über eine Art Schaltkreis der sozialen Resonanz, der aktiviert wird, wenn wir mit anderen Menschen interagieren.«
Soll das Energielevel Ihres Kindes also hoch sein, müssen Sie nur Ihr eigenes Energielevel in die Höhe schrauben. Stellen Sie dem Kind eine Reihe von Fragen. Geben Sie ihm Instruktionen. Äußern Sie zahlreiche Bitten. Sprechen Sie schnell, empathisch und eindringlich. Erheben Sie die Stimme. Wiederholen Sie die Bitten. Sprechen Sie mit Intensität.
Wollen Sie hingegen, dass sich Ihr Kind beruhigt, müssen Sie selbst ruhig sein. Sagen Sie nichts. Seien Sie still. Seien Sie zärtlich. So wird das Kind Sie mit der Zeit als sicheren Hafen im Sturm seiner Emotionen betrachten.
Keine Frage: Das Erziehen mit Ruhe funktioniert. Aber es kommt noch besser: Das bloße Ruhigbleiben der Eltern wirkt sich auf das Kind nicht nur im Krisenfall massiv aus, es hat auch Langzeiteffekte. Im Laufe der Zeit lernt das Kind, sich ohne die Hilfe der Eltern zu beruhigen, so Payne Bryson.
»Das Tolle ist: Übt sich das Kind mithilfe der Eltern darin, vom Zustand des Gestresstseins in den Zustand der Kontrolle zurückzugelangen, lernt das Gehirn, wie das Kind das auch alleine schafft«, fügt Payne Bryson hinzu. »Hier werden Fähigkeiten aufgebaut.«
Denken Sie auch hier wieder an unsere Gleichung: Üben + Vormachen + Anerkennen = Lernen einer Fähigkeit.
Begegnen wir dem Kind hingegen unsererseits mit einem hohen Energielevel – sprechen wir laut, erteilen wir Befehle, stellen wir Fragen –, verschlimmern wir den Wut- oder Tobsuchtsanfall noch. Außerdem geraten wir dadurch leicht in den Teufelskreis der Wut: Ihre Wut verschlimmert die Wut des Kindes, was wiederum Ihre Wut verschlimmert und so weiter und so weiter. Gleichzeitig verpasst das Kind die Gelegenheit, exekutive Funktionen aufzubauen.
Das Werkzeug der Ruhe ist unser Ausweg, um Machtkämpfen aus dem Weg zu gehen. Reagieren wir auf emotionale Ausbrüche des Kindes mit Ruhe, ermöglichen wir dem Kind, diese Reaktion auch in sich selbst zu finden und sich im Ruhigwerden zu üben.
Oder, wie Payne Bryson es formuliert: »Wir müssen Ruhe vormachen. Wir müssen erst unsere eigenen inneren Zustände unter Kontrolle bringen, bevor wir von unseren Kindern erwarten können, dieses Verhalten zu erlernen.«
Wie also um alles in der Welt finde ich als Mutter zu innerer Ruhe, wenn sich meine Tochter wie eine rasende Irre benimmt? Wie werde ich zum ruhigsten Menschen auf Erden, wenn ich von einer Dreijährigen ins Gesicht geschlagen werde? Der Weg dorthin war sicherlich kein leichter. Das zu erlernen hat mich monatelanges Üben gekostet. Doch je mehr ich mich wundersamerweise zusammenreiße und ruhig bleibe, wenn Rosy es nicht ist, desto leichter wird es. Und desto mehr genießen Rosy und ich es, zusammen zu sein.
Ich persönlich finde Fantasiereisen hilfreich, um ruhig zu bleiben. Ich stelle mir vor, ich mache gerade Urlaub in einem Wellnesshotel und gönne mir eine Massage. Ich schließe die Augen und visualisiere den Ort. Ich befinde mich in einem schwach beleuchteten Raum mit malvenfarbenen Wänden. Klangschalen ertönen sanft, und durch die Luft zieht der Duft nach Lavendel.
Tun Sie, was immer für Sie funktioniert, was immer Ihr ruhigstes, unerschütterlichstes Inneres aktiviert. Wo man Ihnen Milch ins Gesicht spucken kann und Sie darauf mit einem milden Lächeln reagieren. Schütteln Sie dieses Alter Ego aus dem Ärmel, wann immer Ihr Kind sich aufregt. Mein Mann hat da seine ganz eigene Methode: »Ich stelle mir dann vor, ich wäre ein bisschen bekifft.«
Tina Payne Bryson hat mir erzählt, sie stelle sich ihr Kind in diesen Augenblicken wie eine Stereoanlage vor. »Und sein Nervensystem wie den Lautstärkeregler. Meine Aufgabe ist es, meinem Kind dabei zu helfen, die Lautstärke runterzuregeln. Und dafür muss ich zuerst meine runterregeln. Schreie ich meinen Sohn an oder stimme ich ins Chaos ein, regle ich seine Lautstärke hoch. Also muss ich sicherstellen, dass meine Lautstärke richtig eingestellt ist.«
Nachdem ich diese Strategie erlernt hatte, ließen Rosys Wutausbrüche und Tobsuchtsanfälle allmählich nach. Die emotionalen Gewitter geschehen jetzt weit weniger häufig, und wenn sie doch einmal aufkommen, ebben sie schneller wieder ab. Nach ein paar Monaten waren sie fast ganz verschwunden. Wir reden hier über eine erstaunliche Reduktion von mehreren Tobsuchtsanfällen am Tag auf ein bis zwei Wutausbrüche pro Monat.
Der Unterschied ist so auffällig, dass sogar meine Mutter zugeben musste, dass diese Erziehungsmethode wahrscheinlich besser funktioniert.
An unserem zweiten Abend bei Maria stellt einer ihrer Urenkel ihre Erziehungsüberzeugungen auf eine harte Probe. Der achtzehn Monate alte Caleb ist wie bereits erwähnt ein wahrer Satansbraten. Er ist schlau, neugierig, kräftig und furchtlos. Wann immer er ins Wohnzimmer kommt, beginnt er umgehend damit, auf Stühle und Tische zu klettern. Zuerst wirft er die Xbox hinunter, dann stellt er Missy, dem winzigen Yorkshire Terrier der Familie, nach und zieht sie am Schwanz.
Sally nimmt Caleb auf den Arm, wo sich der kleine Junge so kräftig an ihren Wangen festhält, dass er Sally eine blutende Wunde beibringt. Rote Tröpfchen rinnen Sallys Wangen hinab, was ihr sichtlich wehtut. Sie beißt die Zähne zusammen und blinzelt ein paar Mal, sicherlich schreit sie Caleb jetzt an. Doch nichts dergleichen geschieht: Sally bleibt ganz ruhig und löst Calebs kleine, dicke Finger langsam von ihrem Gesicht. Dann sagt sie freundlich: »Dir ist nicht klar, dass das wehtut, oder?«
Anschließend wendet sie das Erziehungswerkzeug der Körperlichkeit an.
Ganz langsam dreht sie Caleb auf den Bauch und klopft ihm einige Male sanft auf den Po. »Aua, das tut mir weh«, sagt sie dabei mit derselben freundlichen und ruhigen Stimme. »Wir tun anderen nicht weh.« Dann hebt sie ihn, immer noch auf dem Bauch liegend, auf und bewegt ihn wie ein Flugzeug im Kreis durch die Luft. Caleb kichert. Er will nun nicht mehr kratzen, sein Zorn ist verflogen. Und das hat Sally durch diese einfache körperliche Handlung geschafft – sie hat ihn beruhigt und ihm gleichzeitig gezeigt, dass sie stark und liebevoll, mit anderen Worten dass sie der Boss ist.
Einige Tage später geschieht etwas Ähnliches mit Rosy und mir. Ich versuche, ein Interview zu führen, bei dem Elizabeth dolmetscht. Rosy ist es langweilig, sie will zu Marias Haus zurück. Doch erst müssen wir dieses Interview über die Bühne bringen. Zwischen Rosy und mir entbrennt ein Streit, in dessen Verlauf sie mich haut und Elizabeth klar wird, dass nun wieder einer von Rosys Tobsuchtsanfällen bevorsteht. Elizabeth dreht sich zu mir um und sagt ungewöhnlich eindringlich: »Pack sie weg, Michaeleen! Pack sie einfach weg!« Womit sie meint, dass ich sie mir in der Babytrage auf den Rücken schnallen soll. Wirklich?, denke ich. Das soll den Tobsuchtsanfall verhindern? Rosy ist dreieinhalb und kein Baby mehr.
»Ist Rosy nicht zu alt für die Babytrage?«, frage ich skeptisch.
»Manche Mütter packen auch vier- oder fünfjährige Kinder in die Trage, wenn es sein muss – und gerade kein Baby die Trage braucht«, erwidert Elizabeth und fügt noch hinzu, dass ich mich nicht schämen muss, wenn ich die Trage benutze. Hilft dies dem Kind dabei, sich zu beruhigen, heiligt der Zweck das Mittel. »Jedes Kind ist anders. Manche brauchen etwas länger, bis sie gelernt haben, sich zu beruhigen.«
Also schnalle ich mir die Trage um und winke Rosy zu mir herüber. Und tatsächlich springt sie ohne zu zögern hinein und hört sofort auf, zu schreien und zu weinen. Minuten später werfe ich einen Blick über meine Schulter und sehe, dass Rosy fest eingeschlafen ist.
Bei beiden Vorfällen hat Körperlichkeit – in Form von Berühren, Halten, im Kreis Herumwirbeln – den Kindern dabei geholfen, über ihre Wut hinwegzukommen und sich zu beruhigen. In Calebs Fall war die Körperlichkeit energiegeladen und hat nicht nur die aufkommende Spannung zwischen den beiden abgebaut, sondern den kleinen Jungen auch von seinem destruktiven Verhalten abgelenkt. In Rosys Fall war die Körperlichkeit auf einem niedrigen Energieniveau angesiedelt und hat ihr Nervensystem beruhigt.
Man kann Körperlichkeit als Erziehungsmethode ein wenig wie ein Schweizer Taschenmesser betrachten: Sie bietet mehrere Werkzeuge in einem. Um einen drohenden Tobsuchtsanfall abzuwenden, können Sie beispielsweise sanft den Arm des Kindes berühren oder ihm über den Rücken streichen. Oder Sie nehmen es auf den Arm, setzen es sich auf den Schoß und spielen Hoppe, hoppe Reiter, wenn sich ein Wutausbruch abzeichnet. Sie können dem Kind aber auch Inuit-Küsse, kuniks, geben – also mit der Nase die Wange des Kindes berühren und an seiner Haut schnuppern –, es ein wenig unter dem Arm kitzeln oder ihm auf den Bauch prusten. Was auch immer Sie tun – mit dieser Form von Körperlichkeit zeigen Sie dem Kind, dass es sicher ist und geliebt wird und dass sich eine ruhigere und stärkere Person um das Kind kümmert.
»Die körperliche Berührung baut die Spannung zwischen Kind und Elternteil ab«, erläutert der Psychologe Dr. Larry Cohen, der mehrere Bücher über Erziehung geschrieben hat, darunter auch Playful Parenting. »Kinder haben das natürliche Bedürfnis zu kooperieren. Sie lieben es, ihren Eltern eine Freude zu machen. Tun sie das nicht, stehen sie unter zu starker Anspannung.«
Etwas Ähnliches habe ich mit Rosy bei unserem Aufenthalt in dem Maya-Dorf erlebt. Immer wenn sie ein wenig außer Kontrolle geriet, kitzelten die Mädchen im Teenageralter sie. Sie nahmen sie einfach auf den Arm und begannen, sie zu kitzeln – unter den Armen oder am Bauch. Manchmal endete das damit, dass Rosy lachend auf dem Boden lag und sich alle um sie herum versammelten, um sie zu umarmen und zu küssen. Dann rannte sie kreischend weg, und ich war mir nicht sicher, ob sie das mochte oder nicht. Als ich sie aber danach fragte, war ihre Antwort vollkommen eindeutig: »Das ist toll, Mama, einfach toll!«
Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet gibt es für das Erziehungswerkzeug der Körperlichkeit jede Menge gute Gründe. Berührungen stimulieren das Gehirn des Kindes auf ganz besondere Weise. Beim spielerischen Raufen etwa wird eine Chemikalie freigesetzt, der sogenannte Wachstumsfaktor BDNF, der, wie der Name schon sagt, dem Gehirn dabei hilft, zu wachsen und zu reifen. Beim sanften Streicheln wird das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin ausgeschüttet, das dem Kind Sicherheit und Liebe signalisiert.
Ebenso wie eine ausgewogene Ernährung und ausreichend Schlaf »sind Berührungen gut für die Gesundheit«, schreibt die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett in ihrem Buch How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain.
Für Kinder allen Alters ist diese Form der Körperlichkeit effektiver als Vorträge halten, schimpfen oder lange Erklärungen abgeben. Sind Kinder wütend, haben sie keinen Zugang zur linken, für logische Denkprozesse zuständigen Hälfte des Gehirns, so die Kinder-Psychotherapeutin Tina Payne Bryson. Während emotionaler Ausbrüche hat die rechte Hemisphäre das Sagen – und bei der dreht sich alles um nonverbale Kommunikation, so Payne Bryson und ihr Kollege Dr. Dan Siegel in ihrem Buch Achtsame Kommunikation mit Kindern. »Der rechten Hirnhälfte geht es um die größeren Zusammenhänge, die Bedeutung und das Gefühl einer Erfahrung. Sie hat sich auf Bilder, Emotionen und persönliche Erinnerungen spezialisiert.« Nehmen wir ein schreiendes zweijähriges Kind also ruhig in den Arm oder berühren ein weinendes achtjähriges sanft an der Schulter, sprechen wir damit direkt den zugänglichsten Teil des kindlichen Gehirns an, was die Kommunikation mit dem Kind weitaus effektiver macht.
In vielerlei Hinsicht sind Kinder darauf programmiert, die emotionale Regulation über die Körperlichkeit zu erlernen, nicht über verbale Instruktionen. »In unserer Gesellschaft wird uns beigebracht, Dinge mittels Worten und Logik zu klären. Ist dein vier Jahre alter Sohn aber stinksauer, weil er nicht an der Decke entlanggehen kann wie Spider-Man (hier spricht Tina Payne Bryson aus Erfahrung), ist es vermutlich zwecklos, ihm in dieser Situation einen Einführungsvortrag über die Gesetze der Physik halten zu wollen«, schreibt das Autorenduo.
Bei Rosy hat sich das Erziehungswerkzeug der Körperlichkeit gut bewährt, nicht nur um Wutanfällen ein Ende zu setzen, sondern auch um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Spüre ich, dass ich wütend auf Rosy werde, und will ich meine Stimme nicht erheben, nehme ich sie spielerisch auf den Arm. Ich halte sie kopfüber oder wiege sie wie ein Baby. »Bist du mein süßes Baby?«, sage ich zu ihr. Oder ich kitzle sie am Bauch. Dann verraucht mein Zorn beinahe augenblicklich, und auch ihre Wut schmilzt wie Butter in der heißen Pfanne. Sie hört auf zu weinen und lacht oder geht in Sekundenschnelle vom Schreien zum Kichern über. »Weiterkitzeln, Mama, weiterkitzeln!«, ruft sie.
Erst heute Morgen, als ich sie für die Kita fertig gemacht habe, sind wir beinahe wieder in den Teufelskreis der Wut geschlittert. Wir konnten ihre Schuhe, ihren Fahrradhelm und ihre Lieblingswasserflasche (»Die brauche ich wirklich, Mama!«) nicht finden. Spannungen bauten sich auf, und Rosy merkte, dass ich allmählich wütend wurde. Als Reaktion darauf schrie sie: »Jetzt werde ich echt sauer!« Ich wollte zurückschreien, wusste aber, dass das alles nur schlimmer machen würde. Also schloss ich die Augen und stellte mir den malvenfarbenen, herrlich nach Lavendel duftenden Massageraum mit den Klangschalen vor. Ich dachte an Sally und was sie in einem solchen Augenblick mit Caleb tun würde. Ich kniete mich vor Rosy hin und sagte so sanft es mir möglich war: »Ich will nicht, dass wir sauer sind.« Dann spielte ich Krümelmonster, das versucht, ihren Arm zu fressen: »Njam, njam, njam!« Plötzlich war die Spannung weg, und Rosy begann zu kichern. Lachend machten wir uns auf den Weg zur Kita.
Eines Abends befinden Elizabeth, Rosy und ich uns gegen zehn Uhr auf dem Weg zurück zu Marias Haus. Der Himmel über uns bietet ein großartiges Schauspiel: Die Sonne steht tief über der Bucht und taucht Wolkenfetzen in spektakuläres Pink und Violett.
Wir haben den ganzen Tag gearbeitet, und Rosy ist völlig übermüdet. Sie setzt sich mitten auf die Straße und beginnt zu quengeln. Ich ignoriere sie. Daraufhin fängt sie an, zu weinen und zu schreien. Elizabeth geht zu ihr hinüber, kniet sich neben ihr auf den Boden und sagt voller Erstaunen: »Was für ein wunderschöner Sonnenuntergang. Siehst du das Pink? Das Violett?«
Misstrauisch beäugt Rosy Elizabeth. Sie runzelt die Stirn. Doch sie kann Elizabeths Sanftheit und Liebenswürdigkeit einfach nicht widerstehen – ebenso wenig wie der Schönheit des Sonnenuntergangs. Rosy blickt in den Himmel, und ihr Gesichtsausdruck ändert sich sofort. Ihre Augen werden weicher, das Weinen hört auf. Rosy steht auf und geht weiter.
Plötzlich fällt mir auf, dass Elizabeth gerade etwas getan hat, das ich seit unserer Ankunft in Kugaaruk schon bei vielen Inuit-Müttern beobachtet habe. Sie wenden bei Kindern im Alter zwischen einem und sechzehn Jahren ein unglaublich raffiniertes psychologisches Werkzeug an: Sie lehren sie, Wut in Ehrfurcht umzuwandeln.
Rund ein Jahr vor unserer Reise in den Norden hatte ich an einer Reportage für das National Public Radio gearbeitet, bei der es um Wutkontrolle bei Erwachsenen gegangen war. In einem Interview hatte mir die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett einen der besten Ratschläge gegeben, die ich je bekommen habe: »Versuchen Sie es doch mal mit der Kultivierung von Ehrfurcht.«
Kultivierung von was?
»Ehrfurcht.«
»Wenn Sie das nächste Mal spazieren gehen, halten Sie nach einem Riss im Asphalt des Gehwegs Ausschau, aus dem Unkraut wächst. Halten Sie dort einen Augenblick inne und beschwören Sie das Gefühl der Ehrfurcht herauf – Ehrfurcht angesichts der Kraft der Natur«, hatte sie mir geraten. »Üben Sie das wieder und wieder. Ehrfurcht beim Anblick eines Schmetterlings. Ehrfurcht beim Anblick einer besonders schönen Blume. Ehrfurcht beim Anblick der Wolken am Himmel.«
Dann hatte Feldman Barrett mir erzählt, wie sie diese Technik in ihrem eigenen Alltag nutzt. »Wenn ich beispielsweise mit jemandem in China videochatte, bin ich immer schnell gereizt, wenn die Verbindung nicht gut ist. Dann aber mache ich mir voller Ehrfurcht klar, dass ich jemanden auf der anderen Seite des Globus sehen und hören kann, wenn auch vielleicht nicht immer störungsfrei, und dass ich dafür sehr dankbar sein kann.«
Feldman Barrett vergleicht Emotionen mit Muskeln. Benutzt man sie nicht, gehen sie verloren. Und umgekehrt: Je mehr man sie trainiert, desto stärker werden sie. Je mehr man sich also in Ehrfurcht übt – je mehr man diesen »Nervenmuskel« im Gehirn trainiert –, desto leichter zugänglich ist die Emotion fortan. Spürt man dagegen, dass eine unproduktive Emotion wie Wut aufkommt, kann man dieses negative Gefühl leichter durch ein positives wie beispielsweise Ehrfurcht ersetzen. Spürt man Ärger aufkommen, kann man ihn durch Dankbarkeit ersetzen.
Genau das ist es, was Elizabeth angesichts des violetten Sonnenuntergangs mit Rosy praktiziert. Und ich erlebe oft, wie Sallys Mutter Maria diese Technik bei ihrem Urenkel Caleb anwendet. Bei unserem Aufenthalt in Marias Haus trägt Maria Caleb jedes Mal ans Fenster und zeigt ihm die wunderschöne Bucht, wenn der Kleine anfängt, zu weinen oder zu quengeln. Damit erinnert sie das Kind an etwas Schönes in seinem Leben, etwas, wofür es dankbar sein kann, etwas, das größer ist als es selbst. Diese Neuausrichtung beruhigt Caleb jedes Mal.
»Das mag in der Theorie zwar nicht besonders überzeugend klingen, aber ich garantiere Ihnen, dass das Gehirn schließlich umprogrammiert wird, wenn man sich wiederholt in Ehrfurcht übt. Dadurch steht Ihnen die Emotion [Ehrfurcht oder Dankbarkeit] in Zukunft leichter zur Verfügung«, so hatte Feldman Barrett mir erklärt.
Die Technik ist vor allem für Kinder wichtig, weil deren Gehirn noch wesentlich formbarer ist: »Das Gehirn eines Kindes wartet praktisch auf Programmieranweisungen aus seinem Umfeld«, so Feldman Barrett.
So hilft das Werkzeug der Ehrfurcht nicht nur dabei, Wutanfälle im entsprechenden Augenblick zu beenden, durch die Technik treten die Wutanfälle in Zukunft auch weniger häufig auf.
Ich habe zuerst gezögert, dieses Werkzeug ins Buch aufzunehmen, weil es mir ein wenig abgedroschen erschien. Doch seit unserer Rückkehr nach San Francisco hat mir die simple Strategie derart dabei geholfen, Rosy beizubringen, wie man sich beruhigt, dass ich sie einfach erwähnen muss. Sie sollten sie auch für Situationen im Hinterkopf behalten, in denen Sie sich in der Öffentlichkeit aufhalten. Die Methode ist einfach, sie funktioniert in der Mehrzahl der Fälle und Mütter aus verschiedenen Kulturen empfehlen sie.
Auf sie aufmerksam gemacht hat mich Suzanne Gaskins: »Benimmt sich ein Kind nicht so, wie man es anhand seines Entwicklungsstands von ihm erwarten könnte, schicken Maya-Eltern es nach draußen«, erzählte Gaskins mir. Dies macht dem Kind deutlich, dass sein Verhalten oder seine Forderung für sein Alter oder seinen Grad an Reife nicht akzeptabel ist. »Es dient als Hinweis darauf, dass sich das Kind Gedanken über seine soziale Verantwortung machen sollte«, so Gaskins.
Etwas Ähnliches hat mir auch Dolorosa Nartok in Kugaaruk erzählt: »Wenn kleine Kinder unleidlich werden, waren sie zu lange im Haus oder Iglu. Dann sollten sie am besten ein paar Minuten an die frische Luft.«
Diese Strategie hat Dolorosa von ihrer Schwiegermutter gelernt: »Kleine Kinder fangen an zu quengeln, wenn sie zu lange drin waren. Dann setzt man sie am besten in die Trage, geht nach draußen und läuft ein bisschen mit ihnen herum.«
Das geht genauso, wie es klingt: Hat das Kind einen Wut- oder Trotzanfall, nimmt man es ganz ruhig auf den Arm und bringt es nach draußen. Dort kann man es absetzen, ins Haus zurückgehen und das Kind vom Fenster aus beobachten – so würden Maya-Eltern es tun. Man kann das Kind aber auch in eine Trage setzen und ein wenig mit ihm spazieren gehen, wie Dolorosa vorgeschlagen hat. Wohnt man in einer Stadt, wo es schwierig ist, mal eben schnell nach draußen zu gehen – wie es bei uns der Fall ist –, kann man das Kind auf den Arm nehmen, auf den Balkon, die Terrasse oder vor die Tür treten und einfach still sein. Wenn Sie das Gefühl haben, unbedingt etwas sagen zu müssen, versuchen Sie es mit: »Du bist in Sicherheit. Ich liebe dich.« Hat sich das Kind dann etwas beruhigt, können Sie noch hinzufügen: »Wir können wieder reingehen, wenn du dich beruhigt hast.«
Das funktioniert natürlich nur bei kleineren Kindern. Rosy beispielsweise will inzwischen nicht mehr auf den Arm genommen werden, wenn sie wütend ist. Stattdessen nehme ich sie an die Hand und führe sie sanft nach draußen. Sage ich dabei überhaupt etwas, dann etwas wie: »Komm, wir schnappen ein bisschen frische Luft. In ein paar Minuten wirst du dich schon besser fühlen.« Im Allgemeinen aber bedarf es nicht vieler Worte – das ruhige, sanfte Handeln reicht völlig aus.
In zahlreichen Kulturen weltweit ignorieren Eltern die Wutanfälle ihrer Kinder. In anthropologischen Studien häufen sich die Beispiele, bei denen ein kleines Kind nach einem Erwachsenen schlägt und die anwesenden Erwachsenen darauf reagieren, als sei das Kind gar nicht da.
Viele Inuit-Eltern gehen jedoch etwas differenzierter an die Sache heran. Sie warten manchmal ein wenig, bevor sie auf einen Wutanfall reagieren, vielleicht geht die Emotion ja auch von allein vorüber. Im Allgemeinen lassen die Eltern ihre Kinder jedoch nie lange weinen, meist wird das Kleinkind von ihnen oder den Geschwistern auf die eine oder andere Weise getröstet. Bei älteren Kindern sieht das anders aus. Glauben die Eltern, dass das Kind durchaus dazu in der Lage ist, sich zu beruhigen, ignorieren sie dessen emotionalen Ausbruch.
In Kugaaruk beispielsweise, wir waren gerade mit Elizabeth unterwegs, haben wir einmal ein vielleicht sieben- oder achtjähriges Mädchen gesehen, das auf dem Vordersitz eines Pick-ups in der Nähe eines Fischerlagers weinte. Seine Großeltern hätten es absichtlich allein gelassen, erzählte Elizabeth mir. »Wir ignorieren Wutausbrüche.« Danach erklärte uns die Großmutter des Mädchens, was passiert war: »Sie [das Mädchen] wollte auf dem Weg zum Lager am Flughafen anhalten, aber wir hielten nicht an«, so die Großmutter nüchtern. Sie wusste genau, dass das Mädchen schon dazu in der Lage war, sich zu beruhigen, also ließ sie ihre Enkelin allein, um genau das zu tun.
In welchem Alter erlangt ein Kind in der Regel diese überaus geschätzte Fähigkeit? Das variiert von Kind zu Kind und Situation zu Situation, dauert vermutlich aber länger, als wir denken. Wie bereits erwähnt neigen Amerikaner dazu, die emotionalen Fähigkeiten ihrer Kinder zu überschätzen (und ihre körperlichen Fähigkeiten zu unterschätzen). Meine Kinderärztin etwa hat mir empfohlen, Rosys Wutanfälle zu ignorieren, als meine Tochter gerade einmal achtzehn Monate alt war. Dieser Schuss ging furchtbar nach hinten los: Die empfohlene Taktik machte Rosys Tobsuchtsanfälle – und unser Leben – nur noch schlimmer. Zu diesem Zeitpunkt hatte Rosy einfach noch nicht die Fähigkeit besessen, sich selbst zu beruhigen, und beim Weinen alleingelassen zu werden befeuerte ihre Wut noch. Was sie in diesen Augenblicken gebraucht hätte, wäre sanfte, ruhige Liebe gewesen, die eine physische Verbindung hergestellt hätte.
Ich muss mich selbst immer wieder daran erinnern, dass sich Kinder hinsichtlich dieser Fähigkeiten nicht in einem Wettstreit befinden. Ich selbst bin mit zweiundvierzig immer noch dabei, nach ihr zu streben. Es ist nie falsch, das Kind in den Arm zu nehmen, wenn es wütend ist, ihm Ehrfurcht oder Dankbarkeit beizubringen, wenn es schreit, oder mit ihm an die frische Luft zu gehen, wenn sich ein Tobsuchtsanfall abzeichnet. Damit gibt man dem Kind keineswegs nach, sondern man nutzt den emotionalen Ausbruch, um ihm dabei zu helfen, andere neurologische Schaltkreise zu trainieren. Betrachten Sie Wutanfälle doch einmal als Chance für Ihr Kind, sich im Beruhigen zu üben, und als Chance für Sie selbst, Ruhe vorzumachen. Wutanfälle sind schlicht nicht der geeignete Zeitpunkt für Eltern zu beweisen, dass sie recht haben.
Die Inuit-Mütter haben mir durch ihre Worte und Handlungen immer wieder zu verstehen gegeben, dass man sanft sein soll mit Kindern, die die Kontrolle über ihre Emotionen verloren haben. Werfen Sie Ihre eigene Wut und Ihre Frustration über Bord, denken Sie an den Massageraum und ersetzen Sie negative Gefühle durch Empathie und Liebe. Vergessen Sie nicht, dass Kinder noch nicht über die emotionalen Fähigkeiten verfügen, über die die Erwachsenen verfügen. Wir müssen ihnen erst zeigen, wie Ruhe funktioniert, und zwar immer und immer wieder, bevor wir von ihnen erwarten können, das Konzept zu beherrschen.
Ein wichtiges Ziel in der Inuit-Erziehung besteht darin, das Kind zum Nachdenken zu bringen. »Kinder müssen darüber nachdenken, was sie tun. Sie müssen immer nachdenken«, so die einundsiebzigjährige Theresa Sikkuark. Tatsächlich lautet das Wort für Erziehung in einem Inuktitut-Dialekt isummaksaiyug, »das übersetzt etwa so viel wie nach Denken streben, nach Geist … und anderen kognitiven Dingen streben bedeutet«, wie die Anthropologin Jean Briggs schrieb. »Dieses Sich-Üben in gedanklichen Prozessen zieht sich durch das gesamte Leben des Kindes.«
Mit den nächsten Werkzeugen wird deutlich, wie wichtig – und effektiv – es ist, das Kind zum Nachdenken anzuregen. Mit ihnen sagen wir Kindern nicht, was sie tun sollen, wir geben ihnen lediglich die Hinweise, die sie brauchen, um selbst herauszufinden, was das angemessene Verhalten ist. Mit anderen Worten: Es sind Werkzeuge zum Ermutigen und Anleiten, nicht zum Fordern und Zwingen.
Die Werkzeuge eignen sich für die ganz alltäglichen Schwierigkeiten mit Kindern aller Altersstufen, vom Kleinkind bis zum Teenager. Sie wirken übrigens auch bei Erwachsenen Wunder. Vielleicht will das Kind den Spielplatz nicht verlassen oder beim Aufräumen des Wohnzimmers nicht helfen. Vielleicht will es seine Hausaufgaben nicht machen oder nicht damit aufhören, die kleine Schwester zu hauen. Vielleicht will es abends einfach nicht ins Bett gehen. In all diesen Fällen hat das Kind – im Gegensatz zu einem Wutanfall – aber immer noch die Kontrolle über seine Emotionen, zumindest teilweise. Sein rationales, logisches Selbst ist wach und offen für Input.
Die Werkzeuge sind in mehrfacher Hinsicht wichtig:
Dieses Werkzeug ist so effektiv, dass ich immer wieder verblüfft bin, wenn ich nur daran denke.
Wussten Sie, dass Kinder ihren Eltern fast alles vom Gesicht ablesen können? Sogar Babys und Kleinkinder können das. Deshalb müssen Eltern meist kein einziges Wort verlieren, um das Verhalten ihres Kindes zu verändern. Sie müssen ihm nur »einen Blick« zuwerfen.
Drücken Sie also alles, was Sie sagen wollen, jede kleine Emotion, die Sie Ihrem Kind gegenüber empfinden, durch Ihre Augen, Ihre Nase, Ihre gerunzelte Stirn oder irgendeinen anderen Teil Ihres Gesichts aus.
Überall auf der Welt bedienen sich Eltern ihrer Mimik, um das Verhalten ihrer Kinder zu lenken. Ein gut sitzender Blick sagt mehr als tausend Worte. Damit können Sie Ihr Kind dazu bringen, dem Süßigkeitenständer an der Kasse im Supermarkt den Rücken zu kehren, damit aufzuhören, den Bruder oder die Schwester zu ärgern, oder seinen Schokoriegel auf dem Spielplatz mit einem Freund zu teilen.
»Meine Mutter hatte einen Blick drauf, der uns das Blut in den Adern gefrieren ließ«, hat mir eine Freundin einmal erzählt.
Die Inuit sind besonders gut darin, durch ihr Gesicht etwas auszudrücken und Gesichtsausdrücke zu lesen. Ein rasches Kräuseln der Nase bedeutet Nein, das schnelle Heben der Augenbrauen heißt Ja. (In Kugaaruk haben einige der Mädchen im Teenageralter so subtile Bewegungen mit ihren Augenbrauen und ihrer Nase gemacht, dass ich sie zuerst gar nicht mitbekommen habe.)
Die Mütter und Väter beherrschen »den Blick« in vielen Varianten – mit weit geöffneten Augen, mit fast geschlossenen, sogar mit nur einem Blinzeln. »Wenn meine Mutter wollte, dass ich aufhörte, mich auf eine bestimmte Art und Weise zu benehmen, musste sie mich nur langsam, aber entschlossen anblinzeln, das bedeutete ein strenges Nein«, berichtet die Lehrerin Kristi McEwen, deren Mutter einer anderen indigenen Gruppe in der Arktis angehört, den Yupik.7
»Der Blick« hat Worten gegenüber zahlreiche Vorteile. Er funktioniert auch aus einiger Entfernung, beispielsweise vom anderen Ende des Spielplatzes, des Wohnzimmers oder des Esstischs aus. Und da er eben ohne Worte auskommt, können Kinder im wahrsten Sinne des Wortes auch kaum Widerworte geben. Auf eine Nase oder ein Paar Augen kann man nicht so reagieren wie auf einen verbalen Befehl.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass »der Blick« effektiver ist als ein verbales Nein oder die Aufforderung: »Tu das nicht.« »Der Blick« fasst alles, was gesagt werden muss, rasch und gebündelt zusammen. Er zeigt, dass man sich nicht aus der Fassung bringen lässt.
»Der Blick« hat mir schon viel Ärger erspart, vor allem beim Einkaufen. Einmal hat sich Rosy im Supermarkt einen gigantischen Snickers-Riegel aus dem Regal vor der Kasse geschnappt. Und wie Eltern es häufig tun, hat mein Mann darauf mit verbalen Anweisungen reagiert: »Rosy, du kannst das nicht haben. Leg es zurück.« Daraufhin beschloss Rosy, aus der ganzen Sache ein Spiel zu machen, und rannte durch den Gang zwischen den Regalen davon – mit meinem erbosten Mann im Schlepptau. Nun war es an mir zu beschließen, diesem Machtkampf ein Ende zu setzen.
Ich drehte mich zu Rosy um, sah ihr tief in die Augen und feuerte »den Blick« ab. Ich kräuselte die Nase, als hätte ich gerade etwas Widerliches gerochen, verengte die Augen und dachte: Nicht mit mir, Kleine. Und was tat Rosy? Sie sah mich mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht an, ging zum Regal und legte den Schokoriegel zurück. Eigentlich wusste sie, was richtig war. Sie musste durch »den Blick« nur daran erinnert werden.
»Sag ihnen ganz offen, was für Konsequenzen ihr Verhalten hat«, so Theresa Sikkuark.
Drei Tage nach unserer Ankunft in Kugaaruk habe ich hinsichtlich der Art, wie ich mit Rosy spreche, eine regelrechte Offenbarung in puncto Erziehung gehabt. Mir wird plötzlich klar, dass sie nicht die produktivste ist und wahrscheinlich eher zu Konflikten führt.
Rosy und ich verbringen gerade den Tag mit Elizabeth, die nicht nur in Interviews dolmetscht, sondern uns auch etwas über die Geschichte und die Traditionen der Inuit erzählt. Sie begleitet uns zu einem Fischerlager rund eine Stunde von Kugaaruk entfernt. Unterwegs kommen wir zu einer Hochbrücke, die den kuuk überquert. Die Brücke macht mir Angst. Sie erhebt sich mehr als zwölf Meter über den Fluss und hat kein Geländer, das ein Kind davor bewahren könnte, von der Brücke zu fallen. Als Rosy direkt darauf zurennt, will ich ihr hinterherschreien: »Warte! Geh nicht zu nah an den Rand!« Doch Elizabeth ist schon bei Rosy. Sie nimmt sie sanft an der Hand und sagt ganz ruhig: »Du könntest herunterfallen und dir wehtun.«
Und da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Elizabeth und ich sprechen auf völlig unterschiedliche Art und Weise mit Rosy. Meine Befehle beinhalten fast immer das Wort »nicht«: »Klettere nicht auf diesen Stuhl«, »Verschütte die Milch nicht«, »Nimm dem Baby nicht sein Spielzeug weg«, tu dies nicht, tu das nicht, tu jenes nicht, ein inflationärer Gebrauch des Wortes »nicht«.
Im Gegensatz dazu scheint Elizabeth das Wort nie – oder selten – zu benutzen. Sie und viele andere Inuit-Mütter und -Väter, die ich kennengelernt habe, bedienen sich bei ihren Aufforderungen einer produktiveren Sprache: Sie sagen ihren Kindern, was passieren wird, wenn sie sich verhalten, wie sie es sich in den Kopf gesetzt haben. Sie teilen ihnen die Konsequenzen ihrer Handlungen mit.
Etwa beim Jonglieren mit Steinen. Eines Nachmittags auf dem Spielplatz beschließt Rosy, genau das zu tun. Sie hebt drei ungefähr zitronengroße Steine auf und beginnt, sie in die Luft zu werfen. Bevor ich »Hör auf, mit Steinen zu werfen!« zu ihr sagen kann, übernimmt ein zehnjähriges Mädchen namens Maria das für mich. Ganz ruhig sagt sie: »Du wirst jemanden mit den Steinen treffen, Rosy.« Dann dreht sie sich um und geht aufs Klettergerüst. Das ist alles. Maria konstatiert sachlich die Konsequenzen, die Rosys Verhalten haben wird, und lässt sie die angemessene Reaktion darauf selbst herausfinden. Und zu meiner großen Überraschung funktioniert das! Rosy hält einen Augenblick inne, sieht auf die Steine und legt sie dann wieder hin.
Während ich die Szene beobachte, fällt mir ein Satz aus Jean Briggs’ Buch wieder ein: »Das Ziel der Inuit-Erziehung ist es, die Kinder zum Nachdenken zu bringen.« Und die kleine Maria hat genau das getan: Sie hat Rosy dazu veranlasst nachzudenken.
Bei näherer Betrachtung enthalten die an Kinder gerichteten Nicht-Sätze – »Wirf nicht«, »Nimm nicht«, »Klettere nicht«, »Schrei nicht« – sehr wenige Informationen. Rosy weiß ja schon, dass sie wirft, nimmt, klettert oder schreit. Was sie noch nicht weiß beziehungsweise was ihr noch nicht klar ist, sind die Konsequenzen, die aus ihrem Handeln folgen. Vielleicht erkennt sie in diesem Augenblick nicht, warum sie diese Dinge nicht tun soll. Sagt man einem Kind »nicht« und »hör auf«, nimmt man an, es würde automatisch gehorchen – ohne selbst darüber nachzudenken.
Inuit-Eltern trauen Kindern mehr zu. Sie glauben, dass sogar kleine Kinder schon selbstständig denken oder es zumindest erlernen können. Deshalb versorgen sie Kinder mit nützlichen Informationen über ihr Verhalten. Sie geben ihnen einen Grund, noch einmal darüber nachzudenken, bevor sie mit dem, was sie tun, fortfahren.
Nach dem Vorfall auf dem Spielplatz fällt mir diese Art der Führung und Disziplinierung plötzlich überall in Kugaaruk auf, nicht nur bei Rosy, sondern bei Kindern aller Altersstufen. Da klettert beispielsweise ein siebenjähriges Mädchen auf einen etwa viereinhalb Meter hohen Schuppen, und ein älteres Mädchen sagt ganz nüchtern zu ihm: »Du wirst herunterfallen, Donna, und dir wehtun.« Donna hält auf dem Dach inne, wartet ein wenig und klettert dann wieder hinunter. Bei Maria zu Hause turnt die sechs Jahre alte Samantha auf dem Rand der Couch in der Nähe eines Regals voller zerbrechlicher Porzellanfiguren herum, und Samanthas Mutter Jean sagt ruhig: »Du wirst eine der Figuren runterwerfen.« Später drückt Samanthas drei Jahre alte Schwester Tessa einen lauten Spielzeughund neben ihrer Oma, die gerade ein Nickerchen macht, und wiederum sagt Jean ganz ruhig: »Das ist zu laut. Du wirst Oma aufwecken.«
Danach sagt Jean nichts mehr. Sie drängt Tessa nicht dazu, mit dem Drücken des Hundes aufzuhören. Weder nörgelt sie noch wird sie laut. Sie als Erwachsene gibt dem Kind lediglich die Möglichkeit, über sein Verhalten und dessen Konsequenzen nachzudenken. Anschließend überlässt die Mutter es dem Kind, aus der Information die angemessene Reaktion selbst abzuleiten. Kommuniziert man auf diese Weise mit Kindern, respektiert man ihre Autonomie und ihre Fähigkeit zu lernen.
Meiner Meinung nach funktioniert dieses Alltagswerkzeug besonders gut bei eigensinnigen Kindern – man könnte auch sagen bei Kindern, die gern experimentieren und allein herausfinden wollen, wie es in der Welt läuft. In der westlichen Kultur sagen wir auch oft, diese Kinder wollen »ihre Grenzen austesten«. Und ja, damit meine ich auch Rosy. Wenn sie heute Morgen wie eine Möwe kreischt, sage ich ruhig und freundlich: »Das ist zu laut. Davon werde ich Kopfschmerzen bekommen.« Teilt sie sich ein Spielzeug nicht mit einem Freund, sage ich: »Kian wird uns nicht mehr besuchen wollen, wenn du nicht teilst.« Ich versuche immer, das so ruhig und emotionslos wie möglich zu sagen. Denn würde sich Strenge oder Urteilen in meine Stimme schleichen, würde das nur zu Streit führen.
Die Methode funktioniert relativ gut. Rosy macht dann zwar nicht immer, was ich will, lenkt aber häufig ein. Auf jeden Fall hört sie mir besser und mit weniger vorprogrammiertem Widerstand zu.
Fährt sie mit ihrem Verhalten fort, versuche ich, es auf sich beruhen zu lassen, in dem Vertrauen darauf, dass sie mich gehört hat und auf dem besten Weg zum Lernen ist. Oft spüre ich, dass Rosy über das, was ich gesagt habe, nachdenkt. Es ist ein gutes Gefühl zu wissen, dass ich ihr Informationen an die Hand gegeben habe, die ihr dabei helfen, das nächste Mal die richtige Entscheidung zu treffen.8
Bringt Rosy sich oder andere in echte Gefahr – ist beispielsweise mit ernsthaften körperlichen Verletzungen zu rechnen –, gehe ich zu ihr und helfe ihr physisch. Aber ich schreie sie nicht an und ich versuche, Dringlichkeit aus meiner Stimme herauszuhalten. Ich erkläre ihr die Konsequenzen, damit diese im Idealfall gar nicht erst eintreten.
Mit diesem Werkzeug möchte ich Ihnen eine weitere Erziehungsweisheit vorstellen, auf die ich in Kugaaruk und später auch in Tansania bei den Hadza gestoßen bin: Wandeln Sie Befehle, kritische Anmerkungen und andere Rückmeldungen in Fragen um.
Ich habe diese Technik das erste Mal bei Sally beobachtet, als sie eines Nachmittags von der Arbeit nach Hause kam. Sally kümmert sich nicht nur um ihren fünfzehnjährigen Sohn und ihre drei Enkelkinder, sie arbeitet auch Vollzeit in einer Klinik. Sie kommt also nach Hause, geschafft nach einem langen Arbeitstag, und findet im Wohnzimmer das totale Chaos vor. Der Boden ist mit Spielkarten übersät, auf dem Tisch türmen sich die Papierhüllen von Süßigkeiten. Doch wird Sally wütend? Nein. Sie sieht die beiden Schuldigen – Rosy und ihre Freundin Samantha – an und fragt freundlich: »Wer hat diese Unordnung gemacht?«
Hm, denke ich. Interessant.
Danach fällt mir diese Technik überall auf. »Wer ignoriert mich da?«, fragt Sallys Schwägerin Marie ihre vierjährige Tochter, als diese ihre Bitte überhört, das Haus zu verlassen. »Was habt ihr mir mitgebracht?«, fragt Sally eines ihrer Enkelkinder, das vom Einkaufen zurückkommt. Und als ein Kind Sally Müll zum Wegwerfen in die Hand drückt, stellt sie diese brillante Frage: »Was bin ich – ein Mülleimer?«
Auch in Tansania erfreut sich diese Technik großer Beliebtheit. Als eine Zweijährige ein kleineres Kind schlägt, wird sie von ihrer Mutter gefragt: »Was tust du denn da mit deiner Freundin?« Als ein Dreijähriger auf einem längeren Fußmarsch von einem anderen Vater getragen werden will, fragt dieser: »Was bin ich – dein Esel?«
Häufig stellen die Eltern diese Fragen in einem halb ironischen und halb ernsthaften Tonfall. Nie jedoch sind die Fragen vorwurfsvoll oder sogar verunglimpfend. Sie drängen das Kind nie in die Defensive. Sie sind eher als Rätsel für das Kind gemeint, als Impuls, über das eigene Verhalten und dessen mögliche Konsequenzen nachzudenken.
Ich finde die Strategie einfach genial. Sie eignet sich besonders gut für Augenblicke, in denen Sie das Gefühl haben, Ihr Kind wolle Sie »provozieren«, und in denen Sie zwar nicht wütend werden wollen, andererseits aber auch nicht wissen, was Sie tun oder sagen sollen. Oder für Augenblicke, in denen sich das Kind so benimmt, dass Sie sein Verhalten zwar ignorieren wollen, es aber irgendwie kommentieren müssen. Mit einer Frage machen Sie Ihren Standpunkt deutlich, ohne dabei einen Machtkampf zu riskieren.
Ich beginne gleich nach unserer Rückkehr nach San Francisco damit, dieses Werkzeug zu benutzen. Ich will damit vor allem das Schreien und Fordern in unseren eigenen vier Wänden reduzieren. Also frage ich: »Wer schreit mich denn da an?« Meckert Rosy am Abendessen herum, sage ich nüchtern: »Wer ist denn da undankbar?« Und mache danach einfach weiter. Für eine Antwort oder gar Debatte stehe ich nicht zur Verfügung – ich erwarte auch keine sofortige Verhaltensänderung. Ich will nur, dass Rosy über ihr Verhalten nachdenkt.
Besonders nützlich erscheint mir das Werkzeug, wenn ich Rosy allgemeinere Verhaltenskonzepte wie respektvolles Handeln beibringen will. Ich hatte angenommen, dass sie mit der Bedeutung des Wortes »Respekt« bereits vertraut ist, doch wie sich herausstellte, hat sie mit ihren dreieinhalb Jahren diesbezüglich noch keine Ahnung – ein weiteres Beispiel dafür, dass wir in der westlichen Kultur die emotionalen Fähigkeiten von Kindern häufig überschätzen. Niemand hat Rosy beigebracht, was Respekt ist, und so versuche ich es nun mit der Fragemethode.
Als ich sie eines Tages von der Kita abhole, bitte ich sie freundlich mithilfe des Konsequenzwerkzeugs, sich mit einem Sonnenschutzmittel einzucremen: »Es ist heute sehr sonnig«, sage ich. »Du wirst einen Sonnenbrand bekommen, wenn du dich nicht eincremst.« »Nein!«, schreit Rosy und schmeißt die Flasche mit dem Sonnenschutzmittel auf den Gehweg. Früher wäre ich in dieser Situation ausgeflippt und hätte meine Tochter angeschrien.
Jetzt aber bleibe ich ruhig und ziehe das Fragewerkzeug aus dem Ärmel. Ganz sachlich sage ich: »Wer ist da respektlos?« Während ich das sage, sehe ich Rosy nicht an, damit ich nicht doch aus Versehen vorwurfsvoll klinge, denn ich will sie schließlich nur zum Nachdenken bringen. Dann mache ich einfach weiter. Ich hebe das Sonnenschutzmittel auf, stecke es wieder in meine Tasche und gehe schon davon aus, dass die Sache damit erledigt ist. Doch etwa eine Minute später sagt Rosy: »Na gut. Gib mir die Creme«, und cremt sich ohne weiteres Gezeter ein.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Frage »Wer ist da respektlos?« schon seit etwa einer Woche in Gebrauch. Jedes Mal, wenn Rosy etwas Gemeines sagte oder schrie, sie wolle gefälligst zwei Kekse, nicht nur einen, und jedes Mal, wenn sie auf stur schaltete, fragte ich sie in dem gleichen nüchternen Ton: »Wer ist da respektlos?«
Ich hätte nicht sagen können, wie viel davon wirklich bei ihr ankam. Doch zehn Tage nach Beginn des Experiments gab sie mir endlich einen Hinweis. Wir lagen nebeneinander im Bett und plauderten über ihren Tag in der Kita, als Rosy plötzlich fragte: »Mama, was heißt respektlos?« Aha! Sie hört also doch zu – und sie denkt nach.
Eine Freundin von mir, ebenfalls aus San Francisco, hat die Methode bei ihrer dreijährigen Tochter ausprobiert und rief mich schon ein paar Stunden später an, um von ihr zu schwärmen: »Es funktioniert tatsächlich!« Ihre Tochter hatte ihren Bruder, der noch ein Baby war, mit einem Stofftier gehauen, worauf meine Freundin mit der Frage reagierte: »Wer ist da gemein zu Freddy?«
Das Mädchen hörte auf, seinen Bruder zu hauen, kuschelte sich fünf Minuten später an die Mutter und sagte: »Tut mir leid, dass ich gemein war, Mama.«
Den Umgang mit diesem Werkzeug habe ich von der wunderbaren Maya-Mutter Maria de los Angeles Tun Burgos auf der Halbinsel Yucatán gelernt. Vor der Reise hatte Rosy mich und Matt vor eine neue Herausforderung gestellt: Sie hatte damit begonnen, das Haus ohne uns zu verlassen. Im Alter von nur zwei Jahren hatte sie herausgefunden, wie man zwei Türen aufschließt, darunter eine mit einem Verriegelungsbolzen. Eines Morgens jedenfalls wachten wir auf, und sie war nirgends zu finden. Ich sah aus dem Küchenfenster, und da war sie: Splitterfasernackt rannte sie den Gehweg hinauf. Na, wenigstens ist sie nicht auf der Straße, dachte ich.
Es wurde so schlimm, dass wir bereits mit dem Gedanken spielten, ein weiteres Schloss an der Tür anzubringen. »Schließt sie ein!«, rief meine Schwiegermutter eines Abends am Telefon.
Doch als ich Maria von Rosys Eskapaden erzähle, hat sie eine andere Idee: »Kann Rosy in einen Laden gehen und etwas für dich einkaufen?« Worauf Maria hinauswill, ist, dass Rosy mehr Freiheit und mehr Verantwortung braucht.
Allerdings lebt Maria in einer kleinen Stadt mit nur etwa zweitausend Einwohnern. In der Stadt herrscht wenig Verkehr, die Verbrechensrate ist niedrig und es kennt so ziemlich jeder jeden. In Marias Stadt ist ein zweieinhalbjähriges Kleinkind, das zum Laden an der Ecke geht, wo der Besitzer es kennt, absolut sicher. In San Francisco aber sieht das leider anders aus. Unser Haus liegt an einer verkehrsreichen Straße, wo die Autos mit hoher Geschwindigkeit um eine schlecht einsehbare Kurve brausen. Und selbst wenn die Umgebung sicherer wäre, glaube ich nicht, dass die Nachbarn für ein Kleinkind, das einkaufen geht, bereit wären. Würde die zweijährige Rosy in den Laden an der Ecke stiefeln, allein, und einen Tetra Pak Milch sowie einen Fünf-Dollar-Schein auf die Theke legen, bekämen Matt und ich sicher bald Besuch von der Polizei.
Hinter Marias Vorschlag aber steht eine Idee, die ich durchaus auch bei uns zu Hause umsetzen kann: Mit Fehlverhalten macht das Kind darauf aufmerksam, dass es mehr Verantwortung braucht, dass es mehr zur Familie beitragen möchte, dass es mehr Freiheit will. Bricht das Kind Regeln, stellt es Forderungen oder erscheint es sturköpfig, müssen die Eltern ihm etwas zu tun geben. Mit seinem Verhalten sagt das Kind: »Hey, Mama, Papa, ich fühle mich unterfordert, und das ist ein doofes Gefühl.«
Seien wir mal ehrlich: Würden wir uns bei der Arbeit langweilen oder hätten wir das Gefühl, unser Chef nutze nicht unser gesamtes Potenzial, würden wir auch quengelig werden. Vielleicht würden wir nicht splitterfasernackt aus dem Büro rennen, aber wir hätten sicherlich große Lust, dem Chef zuzurufen: »Sieh mich an! Ich kann all das, was die anderen tun, auch, also gib mir eine Chance!«
Matt und mir hilft dieses Werkzeug dabei, zwei große Erziehungsziele zu erreichen: Rosy beizubringen, weniger zu quengeln, und sie dazu zu ermutigen, mehr zu helfen. Beschwert sie sich jetzt darüber, was ich ihr zum Mittagessen zubereite, sehe ich diese Beschwerden in einem neuen Licht: als Rosys Art, eingebunden werden zu wollen. Man kann es auch so ausdrücken: Quengelt ein kleines Kind, zeigt es damit möglicherweise Interesse daran, eine neue Fertigkeit zu erlernen. Und Sie können sich dieses Interesse zunutze machen und das Kind mehr helfen und beitragen lassen. Statt ihm zu sagen, es solle aufhören zu quengeln, geben Sie ihm einfach etwas zu tun.
Selbst die schlichteste Aufgabe kann ein kleines Kind vom Quengeln ablenken. Rosy beispielsweise ist eines Morgens schon quengelig aufgewacht und hat den Tag damit begonnen, sich über die Musik aus dem Google-Home-Gerät zu beschweren (das Problem eines Kleinkinds des 21. Jahrhunderts, ich weiß). »Ich will ein anderes Lied hören, nicht das!«, heulte sie drauflos. Doch bevor Rosy richtig loslegen konnte, gab ich ihr etwas zu tun. »Ich glaube, Mango hat Hunger. Weißt du, kleine Mädchen dürfen nicht um etwas bitten, wenn sie nicht helfen. Füttere den Hund, dann kümmern wir uns um das Lied.«
Darauf warf mir mein Mann einen strengen Blick zu, weil er glaubte, nun sei ein Tobsuchtsanfall unvermeidbar. Aber nichts dergleichen geschah: Rosy nickte und machte sich an die Arbeit. Die Aufgabe hat sie abgelenkt – sie hatte jetzt Wichtigeres zu tun. Was sich ausgesprochen positiv auf den weiteren Verlauf des Vormittags auswirkte.
»Das war ja interessant«, lobte Matt. Es fühlt sich großartig an, etwas, das ich von Müttern wie Maria gelernt habe, anzuwenden. »Kinder brauchen Aufgaben«, erklärte ich Matt. »Sie mögen es gar nicht, unterfordert zu sein, das macht sie nervös.«
Beobachtet man die Interaktion zwischen Eltern und Kindern in der Arktis oder auf der Yucatán-Halbinsel, fällt als Erstes auf, wie ruhig es dabei zugeht. Man hat das Gefühl, man sehe sich ein Ballett ohne Musik an. Die Bewegungen scheinen choreografiert und gut geprobt. Alles geht leicht vonstatten, alles fließt. Und es wird nur sehr wenig gesprochen. Alles, was zu hören ist, sind die Füße der Tänzer, die sich über den Boden bewegen.
In der überwiegenden Mehrheit der Kulturen weltweit reden die Eltern nicht unablässig auf die Kinder ein oder stellen sie ständig vor eine Wahl. Stattdessen handeln die Eltern. Und zwar auf drei verschiedene Arten und Weisen:
Zur Mittagszeit auf der Yucatán-Halbinsel beobachte ich, wie eine Mutter die Teller mit dem Mittagessen auf den Küchentisch stellt und dann auf ihre beiden Töchter wartet, die draußen mit Malen beschäftigt sind. »Sie kommen, wenn sie so weit sind«, sagt sie zu mir. Und sie hat recht: Nur wenige Minuten später kommen die beiden Mädchen ins Haus und fangen an zu essen, ganz ohne dazu gedrängt worden zu sein.
In der überwiegenden Mehrheit der Kulturen weltweit – und das war auch im Laufe der gesamten Menschheitsgeschichte so – diskutieren Eltern nicht mit ihren Kindern darüber, was sie als Nächstes tun werden, oder ob das Kind lieber ein Erdnussbuttersandwich oder Nudeln zum Mittagessen haben möchte. Die Eltern stellen ihren Kindern keine »Möchtest du«-Fragen: »Möchtest du lieber Butter oder Tomatensauce auf deine Nudeln?« »Möchtest du mit mir einkaufen gehen?« »Möchtest du ein Bad nehmen?« Stattdessen handeln die Eltern einfach. Die Mutter bereitet schwarze Bohnen zum Mittagessen zu, der Vater greift nach seiner Jacke und macht sich auf den Weg zum Lebensmittelladen, die Großmutter geht ins Bad und lässt das Badewasser ein.
Ich glaube, dass dieser Erziehungsstil, der ohne viele Worte auskommt, einer der Hauptgründe dafür ist, warum die Kinder in diesen Kulturen so ruhig erscheinen. Weniger Worte erzeugen weniger Widerstand und weniger Stress.
Worte und Befehle sind ausgesprochen energiegeladen und reizen, zudem führen sie oft zum Streit. Jedes Mal, wenn wir einem Kind sagen, was es tun soll, schaffen wir damit eine Gelegenheit zum Streiten und Verhandeln. Beschränken wir Worte hingegen auf ein Minimum, halten wir auch das Energieniveau niedrig. Und mit diesem nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, dass es zu Debatten und Konflikten kommt. Auch Rosy gibt dann schließlich nach und entspannt sich.
Dasselbe gilt für das Vor-die-Wahl-Stellen. Selbst Erwachsenen fallen Entscheidungen schwer. Sie können Stress und Angst auslösen, weil wir uns die Option, die wir nicht wählen, gern noch offenhalten würden. Warum also sollte es Kindern da anders ergehen?9
Nachdem ich wieder und wieder Zeugin dieses gut funktionierenden Erziehungsstils geworden war, sowohl in der Arktis als auch auf der Halbinsel Yucatán, begann ich, meinen eigenen, wortreichen Erziehungsstil zu hinterfragen. Warum rede ich ständig auf Rosy ein? Hole episch aus, kommentiere, frage? Stelle Rosy vor die Wahl? Wo doch handeln so viel effektiver zu sein scheint?
Ich weiß, dass meine Art zu erziehen nie so ruhig und gelassen sein wird wie die der Maya- und Inuit-Mütter und -Väter. Ich bin eine lärmende, energiegeladene Amerikanerin, ich werde beim Erziehen immer auf Worte zurückgreifen. Gelingt es mir aber, meinen Wortschwall bei Alltagsaufgaben ein wenig einzudämmen, kann ich damit den Stress in unserer Familie massiv reduzieren und gleichzeitig für etwas mehr Flow sorgen. Ich könnte beispielsweise einmal sagen: »Wir gehen in fünf Minuten« und dann wirklich gehen, ohne meine Umgebung alle dreißig Sekunden mit Erinnerungen zu bombardieren. Ich könnte sagen: »Kommt zum Essen, Rosy und Matt« und dann einfach warten, bis sich die beiden zu mir gesellen.
Ich könnte Rosy zum Handeln bewegen, indem ich selbst handle. Beispielsweise muss sich Rosy jeden Morgen in der Kita erst einmal die Hände waschen und mit Sonnenschutzmittel eincremen. Das habe ich früher damit erreicht, dass ich sie ein paar Mal darum gebeten habe, bevor ich zum Meckern und Drohen übergegangen bin. Die Inuit-Mütter aber haben mich dazu inspiriert, es mit einer anderen Herangehensweise zu versuchen: Ich wasche mir selbst die Hände oder ermutige Rosy dazu, es gemeinsam mit mir zu tun. »Komm, wir waschen uns die Hände«, sage ich zu ihr, während ich zum Waschbecken hinübergehe. Ich trage selbst Sonnenschutzmittel auf und lade Rosy dazu ein, meinem Beispiel zu folgen. Oder ich bitte sie, mich einzucremen, und anschließend tauschen wir die Rollen.
Schon diese winzigen Veränderungen haben bei uns zu phänomenalen Ergebnissen geführt. Nicht nur geht es in unserem Haus mittlerweile viel weniger hektisch und viel friedlicher zu, Rosy ist auch beträchtlich selbstständiger geworden. Nachdem wir uns einige Monate lang immer gemeinsam die Hände gewaschen haben, tut sie es nun, ohne dass ich sie darum bitten muss. Sie trägt auch das Sonnenschutzmittel ganz allein und von sich aus auf. Und aus dem Haus zu gehen ist für uns zum Kinderspiel geworden. Denn Rosy weiß, dass ich nicht mehr debattiere oder verhandle: Wenn ich um Punkt viertel nach acht beginne, die Treppe hinunterzugehen, weiß Rosy, dass der Zug gleich abfährt und ich nicht noch einmal ins Haus zurückkehre, um sie zum Mitkommen aufzufordern. »Warte auf mich«, ruft sie mir heute häufig hinterher, wenn ich das Fahrrad aus der Garage hole.
Und schließlich stelle ich Rosy auch weniger oft vor die Wahl. Ich versuche beispielsweise, komplett auf »Möchtest du«-Fragen zu verzichten. Denn warum um alles in der Welt frage ich eine Dreijährige ständig, was sie möchte? Wie soll ein Kind da Flexibilität und Kooperation erlernen? Rosy war in puncto sagen, was sie will, nie schüchtern, da muss ich ihr nicht auch noch dauernd die Wahl lassen. Optionen anzubieten führt häufig zu Endlosdebatten, unnötigen Entscheidungen und letztlich Tränen. Meist ist Rosys »Ich will« unerheblich – die Prioritäten der Familie stehen an erster Stelle. Bei unseren gemeinsamen Mahlzeiten etwa spiele ich nicht mehr die Kellnerin, die aufzählt, was heute noch so alles auf der Tageskarte steht. Wenn Rosy sagt, dass sie Hunger hat, bereiten wir das Essen zu, das wir anschließend essen. Das ist alles.
Als Elizabeth dieses Werkzeug das erste Mal in meiner Gegenwart anwendete, traf es mich völlig unvorbereitet. Ihr Ignorieren unterscheidet sich grundlegend von meinem – es ist stärker und wirkungsvoller.
Wir sitzen gerade am Küchentisch von Elizabeths Schwester und trinken Kaffee, als Rosy anfängt, andauernd Elizabeths Aufmerksamkeit einzufordern. »Miss Elizabeth, guck mal! Guck mal, was ich mache. Miss Elizabeth!«, wiederholt sie ununterbrochen. »Guck mal!«
Doch Miss Elizabeth guckt definitiv nicht. Sie verändert ihren Gesichtsausdruck nicht im Geringsten, sie ist das personifizierte Pokerface. Statt zu gucken, was Rosy macht, wendet sie langsam den Kopf und heftet ihren Blick auf den Horizont über Rosys Kopf, als sei diese unsichtbar.
Mein erster Gedanke in dieser Situation ist ein ausgesprochen negativer. Du meine Güte, wie unhöflich, denke ich. Rasch aber wird mir klar, dass Rosys Verhalten unangemessen ist und Elizabeth sie das auf unglaublich sanfte und doch effektive Weise wissen lässt. Dann setzt Elizabeth unsere Unterhaltung fort, und Rosy hört auf, ihre Aufmerksamkeit einzufordern.
Elizabeth ist eine Meisterin darin, Rosy zu ignorieren. Manchmal muss sie das nur zehn Sekunden lang tun, und schon verhält sich Rosy anders und Ruhe kehrt ein. Hat Rosy erst erkannt, dass ihr unangemessenes Verhalten keine Aufmerksamkeit verdient – und auch keine bekommt – und dass sie unsere Aufmerksamkeit vielleicht ja auch gar nicht braucht, fügt sie sich und kooperiert. Woraufhin Elizabeth Rosy mit einem Lächeln oder einem Nicken wieder im sozialen Kreis willkommen heißt.
Während ich Elizabeth beobachte, wird mir bewusst, dass mein Ignorieren eigentlich genau das Gegenteil davon war. Ich habe Rosys schlechtem Benehmen damit tatsächlich eine Menge Aufmerksamkeit geschenkt. Ich habe sie angesehen. Schon mein Gesichtsausdruck hat Bände gesprochen, ganz zu schweigen von meinen Kommentaren. Am lächerlichsten war, dass ich Rosy sogar gesagt habe, dass ich sie jetzt ignoriere. So lächerlich, dass Rosy das Ganze als Spiel aufgefasst hat.
In vielen Kulturen ignorieren Eltern es völlig, wenn sich Kinder aller Altersstufen schlecht benehmen, erläutert Batja Mesquita, interkulturelle Psychologin an der Universität Löwen in Belgien. Sie sehen das Kind dann nicht an, sprechen nicht mit ihm und – vielleicht der entscheidende Aspekt – lassen auch nicht erkennen, dass ihnen das Benehmen irgendetwas ausmacht. (Sie wissen noch? In vielen Kulturen wird erwartet, dass sich das Kind noch nicht angemessen benehmen kann.)10 Damit übermitteln die Eltern dem Kind bezüglich seines momentanen Verhaltens eine ganze Reihe an Informationen, insbesondere die, ob das Verhalten nützlich ist und wie sehr es in der jeweiligen Kultur geschätzt wird.
Und was, wenn das Kind anfängt, seine Mutter beispielsweise mit einem Mikrofon zu traktieren? »Ja, auch dann würden viele Mütter auf der Welt das komplett ignorieren«, so Mesquita. »Und damit die Wut des Kindes dämpfen, bis sie schließlich ganz verfliegt oder durch eine andere Emotion ersetzt wird. Die Emotionen von Kindern werden erst durch die Reaktion ihres Umfelds zu dem gemacht, was sie sind.«
Eltern können ihren Kindern also beibringen, welche Emotionen bei ihnen zu Hause nicht geschätzt werden, indem sie auf diese nicht reagieren. Im Gegensatz dazu signalisiert selbst eine negative Reaktion auf das emotionale Verhalten dem Kind, dass die jeweilige Emotion wichtig und nützlich ist.
In der westlichen Kultur, so Mesquita weiter, schenken die Eltern kindlicher Wut und kindlichem Fehlverhalten oft sehr viel Aufmerksamkeit. Wir lassen uns auf das ungezogene Kind ein, stellen ihm Fragen und stellen Forderungen.
»Schon ein einfaches ›Hör damit auf‹ bedeutet Aufmerksamkeit«, erläutert Mesquita.
Denken Sie also daran: Je stärker wir auf Ungezogenheiten reagieren – auch wenn wir das Kind für die Ungezogenheit schelten –, desto mehr erkennen wir das Verhalten an und desto mehr erziehen wir das Kind im Wesentlichen dazu, sich auf genau diese Weise zu benehmen.
Sage ich »Hör auf« zu Rosy, bestärke ich sie in ihrer Emotion oder ihrem Verhalten noch, was letztlich verhindert, dass Rosy lernt, ihre Emotionen und Handlungen zu kontrollieren. Derweil glaube ich natürlich, dass ich exakt das Gegenteil tue.
Ignoriere ich Rosy hingegen – sehe ich sie nicht an und gebe ich nicht zu erkennen, dass mir ihr Verhalten etwas ausmacht –, geschehen Wunder: Rosy hört auf, ungezogen zu sein. »Siehst du«, sagte auch Elizabeth eines Nachmittags zu mir: »Als du sie wirklich ignoriert hast, hat sie sich beruhigt.«
Übung 5:
Ohne Worte disziplinieren
Erste Schritte
Wir praktizieren dies, wenn es bei uns zu hektisch wird – wenn sich Rosy nicht beruhigen kann, wenn sie unablässig Fragen stellt und Forderungen an uns richtet. Nach fünf bis zehn Minuten Schweigen (zumindest von meiner Seite aus) beruhigt sie sich in der Regel dann schließlich doch, und der Rest des Tages oder des Abends verläuft angenehmer.
»Sehen Sie sich im Haus um und überlegen Sie, was getan werden müsste«, riet eine Mutter in Kugaaruk mir. »Es gibt immer etwas, das Kinder im Haushalt tun können.« (Mehr Ideen dazu finden Sie in Kapitel 4.)
Laden Sie das Kind dazu ein, Ihnen zu helfen. Eine Mutter aus Berkeley erzählte mir, die Technik funktioniere bei ihrer fünfjährigen Tochter ganz ausgezeichnet. Eines Sonntagnachmittags war das Mädchen unleidlich, es quengelte und jammerte. Also sagte die Mutter zu ihm: »Komm, hilf mir beim Abendessenmachen. Du darfst die Rosmarinnadeln abzupfen.«
»Die Aufgabe war sehr einfach«, erzählte die Mutter mir später. »Aber sie liebte sie! Sie war so stolz auf das Ergebnis und zeigte mir die abgezupften Nadeln immer wieder.« Und auch der Rest des Abends verlief ruhiger, als er begonnen hatte.
Los gehtʼs
Wenn Sie das nächste Mal das Verhalten Ihres Kindes ändern wollen, warten Sie einen Augenblick, bevor Sie etwas sagen. Denken Sie darüber nach, warum Sie ihm einen Befehl erteilen wollen. Welche Konsequenzen hätte das Verhalten des Kindes? Warum wollen Sie es ändern? Was, fürchten Sie, wird passieren, wenn das Kind sein Verhalten nicht ändert?
Teilen Sie dem Kind dann eine der Antworten auf diese Fragen mit und lassen Sie es in Ruhe. Und das war’s auch schon! Mehr müssen Sie nicht sagen. Einmal beispielsweise begann Rosy, auf den Rücken unseres Hundes zu klettern. Statt zu sagen: »Klettere nicht auf den Rücken des Hundes«, hielt ich inne und überlegte: Was wird passieren, wenn Rosy auf den Rücken des Hundes klettert? Und dann sagte ich zu Rosy: »Wenn du auf Mangos Rücken kletterst, wird ihr das wehtun.« Ich hätte auch sagen können: »Aua, Rosy, du tust dem Hund weh.«
Wenn Sie es einige Tage (oder Wochen) mit dem Konsequenzwerkzeug versucht haben, können Sie mit anderen Werkzeugen experimentieren, um das »Tu dies« und »Tu das nicht« zu ersetzen. Sie können beispielsweise mit Fragen arbeiten (»Rosy, tust du dem Hund weh?« oder: »Wer ist da gemein zum Hund?«). Sie könnten Ihrem Kind auch stattdessen »den Blick« zuwerfen, um so zu signalisieren, dass Ihnen sein augenblickliches Verhalten missfällt. Oder Sie gehen einfach weg und ignorieren das Kind.
Welche spontanen Eindrücke haben Sie? Sprechen Sie die ganze Zeit über oder gibt es auch Augenblicke des Schweigens und der Stille? Sagen Sie dem Kind häufig, was es tun und was es nicht tun soll? Wie oft stellen Sie es vor eine Wahl oder fragen es, was es möchte? Wie oft sagen Sie: »Tu dies« oder »Tu das nicht«? Sind derartige Befehle wirklich nötig? Hört das Kind Ihnen zu? Hören Sie dem Kind zu?
Wie ich Ihnen schon erzählt habe (siehe Kapitel 6), habe ich dieses Experiment einmal unabsichtlich durchgeführt. Als ich mir die Aufzeichnung anhörte, musste ich weinen. Denn mir wurde klar, dass ich die ganze Zeit über redete, statt Rosy zuzuhören. Ich dachte, ich hörte ihr zu. In Wirklichkeit jedoch beachtete ich ihre Worte und Gedanken nicht, und das hat sie unglaublich frustriert. Ich kann das gut nachvollziehen, denn mir würde es genauso ergehen.
Natürlich sollen Sie nicht gemein zu Ihrem Kind sein oder seine Gefühle verletzen. Sie gehen immer noch auf seine Bedürfnisse ein und vor allem verhalten Sie sich ihm gegenüber nicht wütend. Sie reagieren auf das Fehlverhalten des Kindes nur nicht mehr emotional. Sie bleiben neutral und demonstrieren, dass Sie kein Interesse an dem Verhalten haben.
Ein weiteres Beispiel: Eines Mittwochnachmittags, als ich Rosy von der Kita abhole, sagt sie in weinerlichem Ton in ihrer Babystimme: »Ich hab Hunger, Mama.« Ich entgegne freundlich: »Ich hab auch Hunger. Aber ich habe nichts zu essen dabei. Lass uns doch unterwegs anhalten und uns einen Snack holen.«
Ein toller Vorschlag, oder?
Rosy aber, völlig unbeeindruckt, dreht jetzt richtig auf und sagt fordernd: »Aber ich hab Hunger, Mama, ich hab Hunger«, bis sie zu weinen beginnt.
Noch wenige Monate zuvor hätte ich mich an dieser Stelle in Erklärungen ergangen (»Ich habe dich gehört, Rosy. Du hast Hunger. Ich habe aber jetzt nichts zu essen für dich.«), die sich schließlich in Spannungen und Wut entladen hätten (»Was habe ich dir gerade gesagt? Wir können unterwegs anhalten und uns etwas zu essen besorgen. Ich habe jetzt nichts zu essen.«). Nun aber wende ich das Ignorierenwerkzeug an: Da ich Rosy im Moment schlicht nichts zu essen geben kann, hat sie keine andere Wahl, als hungrig zu bleiben und zu warten. Also bleibt mein Gesichtsausdruck neutral: Ich blicke über Rosy hinweg in die Ferne (wie Elizabeth es getan hat) und mache einfach weiter, als sei Rosy gar nicht da. Ich springe aufs Rad und fahre los, während Rosy immer noch weint. Und jetzt raten Sie mal, was dann geschieht. Nach etwa fünfzehn Sekunden hört Rosy auf zu weinen und akzeptiert ihre missliche Lage. Sie hat gelernt, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen – und das ganz alleine.
Zudem ist es nicht zu einer hitzigen Diskussion oder Verhandlungen gekommen, die leicht in einen Streit oder Tobsuchtsanfall hätten ausarten können. Ich habe es geschafft, einen potenziellen Kampf in eine Gelegenheit für Rosy umzuwandeln, sich zu beruhigen. Ich habe das Energieniveau gesenkt. Und so ganz nebenbei hat Rosy ihre exekutiven Funktionen geschult.
Zusammenfassung Kapitel 10:
Werkzeuge zur Verhaltensänderung
Ideen, um sie im Hinterkopf zu behalten
› In der westlichen Welt verlassen sich Eltern in der Regel auf verbale Instruktionen und Erklärungen, um das Verhalten ihres Kindes zu verändern. Allerdings sind Worte häufig der am wenigsten effektive Weg, um mit Kindern zu kommunizieren, vor allem mit kleinen Kindern.
› Die Emotionen von Kindern spiegeln unsere Emotionen wider.
∙ Wenn Sie möchten, dass Ihr Kind ruhig ist, sollten Sie selbst ruhig und sanft sein. Sprechen Sie wenig oder gar nicht, denn Worte reizen.
∙ Umgekehrt gilt: Wenn Sie wollen, dass Ihr Kind laut und voller Energie ist, müssen Sie nur Ihr Energielevel in die Höhe treiben und viel reden.
› Befehle und Vorträge führen oft zu Machtkämpfen, Debatten und dem Teufelskreis der Wut.
› Wir können Machtkämpfen aus dem Weg gehen und aus dem Teufelskreis der Wut ausbrechen, indem wir uns nonverbaler Erziehungswerkzeuge bedienen und dem Kind zum Nachdenken verhelfen, statt ihm zu sagen, was es tun oder nicht tun soll.
Weitere Tipps
› Tobsuchtsanfälle bändigen. Wut- und Tobsuchtsanfälle verschwinden, wenn wir ruhig auf das Kind reagieren. Hat Ihr Kind das nächste Mal mit einem emotionalen Ausbruch zu kämpfen, bleiben Sie ruhig und versuchen es mit einem der folgenden Werkzeuge:
∙ Energie. Kehren Sie die Energie um: Gehen Sie so ruhig wie möglich zu Ihrem Kind. Sagen Sie nichts. Zeigen Sie ihm, dass Sie in seiner Nähe sind und ihm helfen.
∙ Körperlichkeit. Berühren Sie das Kind sanft an der Schulter oder halten Sie ihm Ihre Hand hin. Manchmal ist eine weiche, ruhige Berührung alles, was das Kind braucht, um sich zu beruhigen.
∙ Ehrfurcht. Helfen Sie dem Kind dabei, seine Wut durch das Gefühl der Ehrfurcht zu ersetzen. Halten Sie nach etwas Schönem in der Umgebung Ausschau. Sagen Sie ganz ruhig und sanft zu dem Kind: »Oh, wie schön der Mond heute Abend ist! Siehst du?«
∙ Frische Luft. Kann sich das Kind immer noch nicht beruhigen, gehen Sie mit ihm an die frische Luft. Führen Sie es sanft hinaus oder nehmen Sie es auf den Arm.
› Verhalten ändern und Werte vermitteln. Statt dem Kind zu sagen: »Tu dies oder das nicht«, sollten Sie es zum Nachdenken bewegen. Lassen Sie es das angemessene Verhalten selbst herausfinden. Dazu haben Sie mehrere Möglichkeiten:
∙ »Der Blick«. Bündeln Sie alles, was Sie einem quengelnden Kind sagen wollen, in Ihrem Gesichtsausdruck. Öffnen Sie weit die Augen, legen Sie Stirn und Nase in Falten oder schütteln Sie den Kopf. Werfen Sie diesen »Blick« dann Ihrem Kind zu.
∙ Konsequenzen. Teilen Sie Ihrem Kind ganz ruhig die Konsequenzen seines Verhaltens mit und gehen Sie dann einfach weg (Beispiel: »Du wirst herunterfallen und dir wehtun.«).
∙ Fragen. Statt Ihrem Kind zu sagen, was es tun soll, stellen Sie ihm eine Frage (Beispiel: »Wer ist da gemein zu Freddy?«, wenn es sein Geschwisterchen haut, oder: »Wer verhält sich da respektlos?«, wenn das Kind Ihre Bitte ignoriert).
∙ Aufgaben. Geben Sie dem Kind, das sich gerade ereifert, etwas zu tun. Ist es beispielsweise unleidlich, könnten Sie zu ihm sagen: »Komm und hilf mir beim Essenmachen.«
∙ Taten. Statt Ihrem Kind zu sagen, was es tun soll – beispielsweise morgens aus dem Haus gehen –, tun Sie es selbst. Das Kind wird Ihnen mit Sicherheit folgen.
7 Sie erzählte mir auch von einer interessanten Taktik, mit der ihre Mutter Streitigkeiten unter Cousinen beilegte: »Wir mussten uns vor ihr aufstellen und unsere Arme nach oben strecken, während sie uns befahl, nicht zu lachen. Was bei uns natürlich umgehend zu einem Lachanfall führte.«
8 Sind andere Eltern anwesend, fällt es mir schwerer, »es auf sich beruhen zu lassen«, weil es mir peinlich ist, wenn Rosy mich ignoriert. Oft hilft es mir, wenn ich zu den anderen Eltern dann sage: »Meiner Erfahrung nach lernt sie besser, wenn ich sie nicht zu sehr dränge.«
9 Neulich hat Rosy tatsächlich zu mir gesagt: »Mama, Entscheidungen sind schwer. Sehr schwer.« Selbst Kindern ist also bewusst, dass Entscheidungen Stress verursachen. Außerdem helfen weniger Wahlmöglichkeiten Kindern dabei, das, was sie haben, zu akzeptieren und dankbar dafür zu sein.
10 In ethnografischen Aufzeichnungen findet sich eine Vielzahl von Beispielen dieser Erziehungsmethode. Auch Jean Briggs dokumentiert es in all ihren Büchern und zitiert Beispiele sowohl aus der Nähe von Kugaaruk als auch aus dem östlichen Kanada von der Baffininsel. »Häufig begegnete man kindlichem Fehlverhalten mit Schweigen – nicht der Art von Schweigen, in dem sich Spannung aufbaut, sondern mit anscheinend entspanntem und vernunftbegründetem Schweigen, das scheinbar zum Ausdruck brachte, dass sich das Kind im Augenblick zwar nicht rational verhielt, früher oder später aber zur Vernunft kommen und sich wieder reifer verhalten würde«, schreibt Briggs in Never in Anger.