»Mein lieber Freund,
ich weiß nicht, wohin man kommt, wenn man tot ist. Auch als Biologe ist mir das immer ein Rätsel geblieben. Was ich aber weiß, ist, dass mir die Diskussionen mit dir fehlen werden. Wir haben uns immer verstanden. Ist dir das auch aufgefallen? Ich glaube, es liegt daran, dass wir beide anders sind.
Wenn ich am Pausenhof einer Schule vorbeigehe, was heute selten mehr vorkommt, schaue ich, ob irgendwo ein Kind alleine herumsteht. Ich finde immer eines. Abseits verdrückt es eine Banane oder ein Sandwichbrot und gehört nicht dazu. Warum? Ich bleibe stehen und beobachte, was passiert. Manchmal kommt ein Lehrer, erkennt die Situation und kümmert sich um den Solitär. Er spricht mit dem Kind und führt es zu einer Gruppe Schüler, die ausgelassen und fröhlich miteinander spielen. Das Kind lächelt den Lehrer dankbar an und freut sich. Innerlich schließe ich dann eine Wette mit mir selbst ab, dass der Versuch scheitern wird, dass am nächsten Tag alles wieder beim Alten ist.
Es gibt Leute, zu denen geht man nicht hin, wenn sie alleine an einem Tisch sitzen. Insbesondere dann nicht, wenn man ihnen schon von Weitem ansieht, dass sie anders sind. Es ist ein interessantes Phänomen, das ich seit meiner Kindheit beobachte. Menschen sind nicht wie Magnete, deren unterschiedliche Pole sich anziehen. Bei uns ist es umgekehrt: gleich und gleich. Seit einigen Jahren hat sich diese Tendenz verstärkt, denke ich. Was vordergründig als Toleranz und Offenheit daherkommt, mit Homo-Ehe, Multikulti-Verständnis und einer ausufernden Gender-Diskussion, ist in Wirklichkeit nur eine brüchige Tapete von Lippenbekenntnissen. Das Andersartige bleibt fremd – und es wird zunehmend fremder. Und wenn es stört, versucht man es leise loszuwerden. Die heutige Gesellschaft ist wieder dazu übergegangen, anders Denkende auszuschließen. Der Mainstream setzt sich durch, und das hat verheerende Folgen.
Wer von der Herde ausgestoßen wird, ist leichte Beute. Bei den Tieren ist das gut zu beobachten; sie werden gerissen und sterben, als Opfer eines Kollektivs, das bemüht ist, seine Stärke nicht preiszugeben. Bei der menschlichen Spezies funktioniert dieser Aussonderungsmechanismus anders. Wir sind zivilisiert, die Ausgestoßenen überleben. Verletzt und gekränkt verschwinden sie in Verstecken jenseits gesellschaftlicher Kontrollen. Einige von ihnen kommen wieder an die Oberfläche, landen in den einschlägigen Karteien der Polizei – oder sie werden tot gefunden, irgendwo an einem dunklen Ort, mit einer Überdosis Crystal Meth oder einer Kugel im Kopf.
Das ist schrecklich.
Richtig gefährlich ist es allerdings deshalb, weil die meisten von ihnen nirgends mehr auszumachen sind. Sie scheinen wie vom Erdball verschwunden zu sein. Bis sie es in die Schlagzeilen schaffen, eine Kalaschnikow in der Hand, oder sie rasen, verrückt geworden durch den Schmerz und den Hass, den ihre einsamen Seelen hervorgebracht haben, mit einem Lastwagen durch eine Fußgängerzone.
Das ist es, was uns wirklich Sorgen bereiten sollte. Der Verrat ihrer Sippe lässt sie zum Spielball radikaler Strömungen werden.
Schlafende Hunde unserer Zeit.
Ich denke oft daran, wie wir uns zum ersten Mal begegnet sind.
Geht es dir auch so, dass die Erinnerung mit zunehmendem Alter an Klarheit gewinnt? Schwierig zu sagen, weshalb das so ist. Viele sagen, es habe mit der Distanz zu tun, die man über die Jahre gewinnt. Manche sagen, es sei die Erfahrung. Vielleicht ist es auch nur selektives Vergessen. Das hieße aber, dass wir einer Täuschung aufsitzen. Die Dinge erscheinen uns einfacher, als sie wirklich sind. Das mögen wir. Einfache und klare Zusammenhänge, die wir ohne Weiteres verstehen können. Rasch gewöhnen wir uns daran. Wenn wir uns die Fernsehnachrichten ansehen oder die Zeitung lesen, treffen wir eine entsprechende Auswahl: Wir glauben das, was sich mühelos in unser Weltbild fügt. Immer mehr vom Gleichen kommt hinzu, und wir sehen uns bestätigt in unserer Gedankenwelt.
Aber ist es wirklich meine Welt, oder hat sie jemand anders für mich zusammengestellt? Mein Online-Buchladen kennt mich, er trifft für mich eine Vorauswahl. Er spricht Empfehlungen aus in der Hoffnung, dass ich die Bücher kaufe. Mit dem Internet ist mein Konsum-, Lese- und Wahlverhalten öffentlich geworden. Mein Denkverhalten auch.
Wer kennt mich besser als ich mich selbst?
Vereinfachungen machen die Dinge aber nicht richtiger oder wahrer. Komplexität hat seinen Reiz, als Biologen können wir ein Lied davon singen. Das Pflanzen- und Tierreich hat über Äonen diffizile Strukturen und Hierarchien aufgebaut, und die Wechselwirkungen, die sie erzeugen, sind schwer zu durchschauen. Das ist genauso beeindruckend wie problematisch. Denn die Flexibilität des Systems ist begrenzt. Geringfügige Änderungen haben fatale Folgen. Fällt die Lebensgrundlage einer Gattung weg, stirbt sie aus. So einfach ist das. Und es ist geradezu typisch für unsere Zeit, dass sich die Arten auf unserem Planeten in noch nie da gewesenem Maße dezimieren. Die Klimaforscher meinen, die Ursache zu kennen, und malen Schreckensbilder an die Wand, fordern den Menschen auf, sich zu ändern.
Hier beginnt der Schwachsinn.
Der Mensch ändert sich nicht. Warum auch? Er ist als siegreiche Spezies aus der Evolution hervorgegangen. Das ist eine erhebliche Leistung. Dass er selbst ein Egoist ist, hat ihm dabei mehr genützt als geschadet. Dessen ist er sich bewusst. Wie kein anderes Lebewesen versteht er es, sich anzupassen. Das ist sein eigentlicher Vorteil. Der Mensch kann sein Land verlassen, aber auch unliebsame Herrscher stürzen und Systeme verändern. Er kann Kriege führen und sich die Welt untertan machen. Und wenn am Ende alles zerstört ist, dann kann er zu den Sternen fliegen und das Universum erschließen. Daran glaubt er. Und er ist ein Meister darin, andere für sich einzunehmen. Das ist sein Steckenpferd. In seinem tiefsten Kern ist der Mensch ein Manipulator.
Es ist vielleicht ungewöhnlich, das zu sagen, aber es ist die Wahrheit. Und ich glaube, ich bin zu dem geworden, der ich bin, weil ich als Biologe gescheitert bin.
Informationen sind mein wahres Gebiet.«
Der Mann drückte auf den Knopf seines Diktiergeräts und legte den Apparat auf das kleine Tischchen neben sich. Ein paarmal atmete er tief durch. »Ich mache gleich weiter«, sagte er.
»Nehmen Sie sich Zeit«, sagte die Frau. Sie war Anfang vierzig, klein und kräftig, und hatte weiche Gesichtszüge. Mit einem Lächeln setzte sie sich auf die Kante des ungewöhnlich kurzen Bettes und tupfte ihm mit einem Stofftaschentuch die Schweißperlen von der Stirn.