ZÜRICH ODER IRGENDWO, MITTWOCH, 8. AUGUST – 03:55 UHR
Es war das »Requiem«, Eschenbach erkannte es sofort.
Die dunklen Klänge kamen aus riesigen, glänzenden Orgelpfeifen, die an der hinteren Kirchenwand befestigt waren und wie übergroße Haifischzähne aussahen. Der Kommissar schloss die Augen. Er spürte das harte Holz der Bank unter sich. Noch nie hatte er Mozarts letzte Komposition als so gewaltigen Lärm wahrgenommen. Es schien ihm, als suche jeder Ton verzweifelt Verbündete, mit denen er sich zu einem Dreiklang formieren konnte.
Zuerst hatte Eschenbach vermutet, dass der Mann an der Orgel etwas nachlässig war und gewisse Noten zu lange hielt. Nun hörte er, dass dem nicht so war. Im Gegenteil. Der Mann an den Registern kämpfte gegen den gigantischen Raum eines Gotteshauses, unter dessen Kuppel die Töne einfach nicht verstummen wollten. Eine angeschlagene Sequenz blieb und vermischte sich mit späteren Akkordfolgen zu einem einzigen Chaos.
Eine Melodie, dachte Eschenbach, der eigentlich von Musik nicht viel verstand, entsteht nur, wenn die einmal angeschlagenen Töne, einem Rhythmus folgend, auch wieder verstummen. Kommen und gehen zur richtigen Zeit, darin lag das Geheimnis.
Harmonie ist eine Frage des richtigen Timings, folgerte er, und plötzlich plagten ihn Zweifel, ob es richtig gewesen war, zurückzukommen und den Dienst bei der Kantonspolizei Zürich wieder aufzunehmen.
In der Kirche war es allmählich still geworden. Eschenbach öffnete die Augen. Er sah, wie der Pfarrer, der etwas abseits auf einem Stuhl saß, sich kurz erhob und ihm ein Zeichen gab. Nun war es an ihm. Eschenbach nickte und stand auf. Noch einmal tauschte er mit dem Geistlichen, der ihm ermutigend zulächelte, einen Blick, dann machte er sich auf den Weg. Es waren knapp zehn Meter bis zu dem schlichten Pult, das man neben dem aufgebahrten Sarg hingestellt hatte.
Der Hall seiner Schritte erfüllte den riesigen Kirchenraum. Etwas verunsichert durch den Lärm, den er verursachte, griff der Kommissar nach seinen Notizen. Er trug sie in der Innentasche seines Vestons. Eschenbach war beruhigt, als er die zusammengefalteten Blätter zwischen den Fingern spürte.
Natürlich hatte er nicht die Absicht, die Rede abzulesen. Das hatte er nie getan. Wenn er einmal einen Vortrag halten musste, was er stets zu vermeiden versuchte (er hasste Reden), dann sprach er frei.
Eschenbach konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn Leute mit der Nase auf dem Papier irgendeinen Text ablasen, meist monoton und nuschelnd, sodass niemand es verstand und es keinen berührte.
Die freie Rede war etwas, auf das man in der Schweiz keinen besonderen Wert legte. Hierzulande konzentrierte man sich auf Mathematik, Physik und Biologie. Fächer, in denen man richtig und falsch möglichst gut auseinanderhalten konnte. In den USA war das anders. Das hatte ihm Kathrin noch von der UCLA geschrieben. Sie hatte einen Kurs zum Thema Teaching skills besucht. »Da solltest du deine Leute mal hinschicken, Paps«, hatte sie ihm per WhatsApp mitgeteilt. »Dann lernen die endlich einmal, etwas kurz und knapp zu präsentieren, und zwar so, dass man auch drauskommt.«
Frei sprechen bekomme man in Amerika schon im Kindergarten beigebracht, hatte Kathrin gemeint. Bereits die Knirpse seien dort angehalten, aufzustehen und – an die Klasse gerichtet – zu irgendeinem Thema ein paar Sätze zu sagen. Kurz, laut und deutlich. Dabei käme es überhaupt nicht darauf an, was man sage. Nur laut und deutlich wäre wichtig.
Fand Kathrin das jetzt gut? Eschenbach war irritiert. Hatte seine Erziehung versagt – war Kathrin bereits trumpisiert? Er hatte ihr am selben Abend noch zurückgeschrieben, besorgt und hundemüde. Mühsam hatte er Wort für Wort in dieses furchtbare WhatsApp getippt, mit großen Fingern auf viel zu kleinen Tasten. Fast eine halbe Stunde hatte er dafür gebraucht. Er wollte schließlich, dass sie verstand, worum es ihm ging. Zur Inspiration hatte er das »1. Klavierkonzert« von Brahms in den CD‑Player geschoben. Glenn Gould spielte es rekordverdächtig langsam. Anders als der kanadische Meisterpianist, der alles auch viel schneller hätte spielen können, war Eschenbachs Tippgeschwindigkeit am äußersten Limit. Mit dem Schlussakkord des ersten Satzes war schließlich auch Eschenbach fertig und die Flasche Tessiner Merlot zu drei Viertel ausgetrunken.
Liebe Kat –
wenn man nicht darum herumkommt, einmal etwas laut und deutlich sagen zu müssen, dann sollte das Thema schon ziemlich wichtig sein, finde ich. Zudem sollte man es sich gut überlegen, ob es überhaupt laut sein muss. Denn wenn das, was man sagt, wirklich interessant ist, dann hören einem die Leute sowieso zu – und wenn man dann etwas leiser spricht als sonst, dann hängen sie einem sogar an den Lippen. Überhaupt ist mir Folgendes aufgefallen: Je lauter, eindring-licher die Leute auf einen einreden, desto uninteressanter ist das, was sie sagen. Meistens sind es Plattitüden, irgendwelche Stammtischparolen oder aus Fernsehsendungen und Boulevardzeitungen aufgeschnapptes Zeugs. Am Ende werfen sie einem noch die Sportresultate an den Kopf – wie grauenhaft ist das denn?
Ich glaube, ich werde alt. Jedenfalls nervt es mich, je länger, je mehr … der ganze Quatsch, den die Leute von sich geben.
Ich liebe Dich, Kat.
›Ich liebe Dich‹ ist übrigens einer der wichtigsten Sätze überhaupt, und ich habe noch niemanden getroffen, der ihn einfach so hinausgeplärrt hat. Laut und deutlich … so einen Scheiß!
Dann ist es mir absolut schleierhaft, weshalb man bereits Knirpsen die freie Rede beibringen will. Kleine Kinder können noch nicht lesen – sie reden per se frei.
Zwei Schritte waren es noch bis ans Rednerpult. Eschenbach nahm die zusammengefalteten Blätter lieber doch in die Hand, hob langsam den Kopf und wandte sich den Trauergästen zu. Es waren nur ein paar wenige, die in den vorderen Rängen der Kirche auf den Holzbänken saßen. Schwarz gekleidet, in sich versunken; wie eine kleine Gruppe Krähen auf einem riesigen Feld sahen sie aus. Auf einen Schlag erfasste Eschenbach eine unendliche Traurigkeit.
Er schluckte.
Verdammt noch mal, Ewald, dachte er und erschrak. Eschenbach war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob er laut oder nur in Gedanken geflucht hatte. Obwohl, spielte das in einem Got-teshaus überhaupt eine Rolle? Mein lieber Freund: Du hättest eine volle Kirche verdient und nicht nur so ein trauriges Häufchen. Ein Staatsbegräbnis wie im Film – mit einer rührigen Ansprache von Corinne Mauch, der Stadtpräsidentin von Zürich.
Zum Teufel, mein Lieber – und abermals stockte er. Vielleicht ist es besser so. Ein paar wenige sind manchmal besser, Hauptsache, gute Freunde. Leute, mit denen man in den Krieg ziehen würde, wie du es immer genannt hast.
In der vordersten Bank gleich beim Mittelgang, auf den Plätzen, die für die Familienangehörigen des Verstorbenen reserviert waren, saßen Rosa Mazzoleni und Claudio Jagmetti. Neben ihnen Eschenbachs Chefin Christine Saager sowie Röbi Ketterer und ein paar weitere enge Mitarbeiter aus der Abteilung Kapitalverbrechen. In der zweiten Reihe entdeckte der Kommissar den Geigenbauer mit seiner Familie. Sie bewohnten die Mühle an der Forchstrasse, die Ewald Lenz gehört und in der er auch gelebt hatte. Eschenbachs zweite Frau Corina saß bei ihnen, in Begleitung eines Unbekannten, und auf einer der hinteren Bänke, in großem Abstand zu den anderen, saß ein Paar, das Eschenbach noch nie gesehen hatte. Der Mann musste um die siebzig sein, mit schlohweißem Haar. Die Frau neben ihm trug eine dunkle Kopfbedeckung mit einem Schleier, der ihr Gesicht verdeckte.
Eschenbachs Blick schweifte zurück und blieb an Jagmetti hängen. Der Bündner schien wie versteinert. In seinem perfekt sitzenden Anzug sah er aus wie der junge George Clooney in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett.
Eschenbach versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Sein Blick traf Rosa. Auch sie war ganz in Schwarz gehüllt und trug eines ihrer Kaschmirkleider, das ihr bis über die Knie reichte. Eschenbach kannte das Modell. Er hatte es schon in verschiedensten Pastelltönen zu Gesicht bekommen. Nur in Schwarz noch nicht. Schwarz hatte Rosa nie getragen. Auch das Kopftuch, mit dem sie ihre meist kunstvoll hochgesteckten Haare verbarg, hatte er noch nie gesehen. Mit dieser Aufmachung und mit dem weiß gepuderten Gesicht glich sie einer sizilianischen Witwe. Rosa drückte sich ein Taschentuch vor den Mund und sah den Kommissar mit großen dunklen Augen an.
Über ein Vierteljahrhundert war Rosa nun seine Assistentin. Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen: Eschenbach, damals jung und ehrgeizig, hatte gerade die Leitung der Kripo übernommen, als Rosa – noch keine zwanzig, mit italienischen Wurzeln und überschäumendem Temperament – plötzlich auf dem Tapet stand. Als Praktikantin wollte sie sich ein paar Franken dazuverdienen, mehr nicht. Auf keinen Fall bleiben – das hatte sie nie gewollt. Doch die Jahre vergingen, und sie blieb. Der kauzige und lichtscheue Ewald Lenz, der bis zu seiner Pensionierung das Archiv geführt hatte, und Rosa, die Strahlefrau aus Eschenbachs Sekretariat, freundeten sich an. Eschenbach war nie darauf gekommen, was die beiden verband. Schliefen sie miteinander? Rosa hätte Ewalds Tochter sein können. Spielte das eine Rolle für sie, weil ihr eigener Vater sich nie um sie gekümmert hatte? Oder war es etwas ganz anderes gewesen?
Ewald und er hatten nie darüber gesprochen. Eschenbach hatte auch nie danach gefragt. Vermutlich hätte der Alte auch nichts dazu gesagt. Ewald war nicht der Mensch, der irgendetwas erzählte, nur um der Stille auszuweichen. Ewald konnte schweigen. Vielleicht war er deshalb einer der besten Informationsspezialisten, mit denen der Kommissar je zusammengearbeitet hatte.
Viele Leute, die Eschenbach kannte, plauderten irgendwann drauflos, gaben Halbwahrheiten zum Besten, nur weil sie nicht damit leben konnten, etwas nicht zu wissen. Frei Erfundenes mischte sich mit Kenntnis, oder wie es heute heißt: Fake news.
Lenz traute den Bibliotheken mehr als den Universitäten. Und das Internet mied er, denn es sei nur der Boden für Fallobst. Wer frische Früchte haben wolle, müsse sich anstrengen und auch einmal eine Leiter an den Baum der Erkenntnis anstellen und hinaufklettern. Das weltweite Netz und die Sozialen Medien hätten die Informationslandschaft in einem ähn-lichen Maße verändert wie McDonald’s das gute Essen. Was wir heute als Wissen bezeichneten, sei vorbereitet und weich gekocht: Wir verhungerten an vollen Töpfen und wüssten immer weniger.
Eschenbach hatte sich oft gewundert, woher der Alte seine Informationen bezog und über welche Quellen er verfügte. Allein die Bibliotheken und Archive konnten es nicht sein. Wer waren seine Informanten? Auch darüber hatte Ewald nie ein Wort verloren. Was er zutage förderte, hatte sich im Nach-hinein immer als richtig erwiesen. Und wenn jemand etwas anderes behauptet hatte, lag diese Person immer falsch.
Bevor Eschenbach zu seiner Rede ansetzte, in der er die Trauernden begrüßen und Ewald Lenz und dessen ganz eigenwilliges Leben würdigen wollte, blickte er zur Seite. Der Sarg aus hellem Holz, den man aufgebahrt und mit Gestecken aus Chrysanthemen und Rosen geschmückt hatte, war offen. Man hatte den Toten sorgsam in weißes Samtfutteral gebettet, die blassen Hände über dem Bauch gefaltet.
»Holy shit«, stieß der Kommissar aus und trat näher. Was er sah, konnte er nicht glauben. Der Tote im Sarg war gar nicht Lenz. Er selbst lag da – Eschenbach!
Als seine Knie nachgaben, griff der Kommissar nach einem der Kränze neben dem Sarg, riss diesen im Fallen mit und schlug eine gefühlte Ewigkeit später mit dem Hinterkopf hart auf dem Boden auf.
Eschenbach stöhnte. Etwas verwirrt rieb er sich die Augen. Was zum Teufel war los? Sein Schädel brummte wie ein Bienenstock. Diese verdammte Kirche, die Abdankung von Lenz, die Kränze mit den blau-weißen Schleifen … er hatte das alles nur geträumt. Denn so, wie es aussah, lag er auf dem Holz-boden in seiner Wohnung. Er musste im Schlaf von der Couch gefallen sein. Und im Fallen hatte er noch ein Kissen mitgerissen.
So einfach und bescheuert war die Erklärung.
Der Kommissar rappelte sich auf und setzte sich hin. Als er die Flasche mit dem Rest Merlot und das leere Weinglas auf dem Beistelltisch sah, fiel ihm alles wieder ein. Jetlag und Wein, das lass sein. Und vielleicht war es auch keine gute Idee gewesen, in den USA ganz auf den Alkohol zu verzichten. Neumodischer Auszeit-Kram.
Eschenbach seufzte. Er hatte Kathrin diese Nachricht geschrieben, während Glenn Gould sich schleppend durch den Brahms gearbeitet hatte. Er nahm sein Handy zur Hand, das zwischen die Sitzkissen des Sofas gerutscht war, und las:
Nimm doch nicht alles immer so ernst, Paps. Hier alles easy. Küsse, Kat
Da haben wir’s, dachte er. Wenn man die eigene Beerdigung nicht mehr ernst nehmen konnte, was dann?
Nachdem er den Rest der Flasche ausgetrunken hatte, ging er zu Bett, lag noch lange wach, bis ihn ein traumloser Schlaf erlöste.