ZÜRICH, MITTWOCH, 8. AUGUST – 09:10 UHR
»Sie kommen aber spät«, begrüßte ihn Rosa Mazzoleni am nächsten Morgen im Büro.
»Ich komme von meiner eigenen Beerdigung«, sagte Eschenbach.
»Tatsächlich?« Rosa, die gerade etwas in den PC tippte, hielt irritiert inne und warf Eschenbach über den Goldrand ihrer Brille einen Blick zu. »Sie meinen diesen Brand gestern … grauenhaft, nicht wahr? Und ausgerechnet dieses Haus, wo doch der Tote gefunden wurde.«
»Grauenhaft«, wiederholte Eschenbach.
»Waren Sie dort?«
Der Kommissar nickte. »Es sind nicht sehr viele Leute da gewesen«, murmelte er. »Eigentlich verdammt wenig. Und ehrlich gesagt ist es genau das, was mich bedrückt.«
»Aber da waren doch Hunderte«, meinte Rosa. »Ein riesiger Pulk Schaulustige. Ich hab’s im Fernsehen gesehen.«
»Die meine ich nicht«, sagte er.
»Sondern?«
»Meine Beerdigung«, sagte er stur.
»Ach so?« Rosa sah ihren Chef verständnislos an. »Aber Sie sind doch hier, ich meine …«
»Ich hab’s geträumt.«
»Wirklich?«
Er nickte.
»Und Sie haben gesehen, wer da war?«
»Man sieht alles, wenn man gestorben ist.«
Rosa wusste nicht recht, was sie sagen sollte.
»Zudem musste ich eine Abdankungsrede halten. Von vorne sieht man erst recht, wer in die Kirche gekommen ist.«
»Sie haben an Ihrer eigenen Abdankung gesprochen?«
Eschenbach zögerte. Sollte er Rosa erzählen, dass er die Rede für Lenz geschrieben hatte, dass es eigentlich Ewalds Beerdigung gewesen war?
»Easy«, meinte der Kommissar schließlich. »Man soll die Dinge nicht allzu ernst nehmen. Meint Kathrin.«
»Aber … ist sie nicht in Amerika?«
»Hat sie per WhatsApp geschrieben, Frau Mazzoleni.«
»Ach so.« Rosa sah ihn mit offenem Mund an.
»Sie waren da, Frau Mazzoleni, das ist die Hauptsache. Claudio auch und sogar die Saager …«
»Die Saager?!«
»Ja. Und Ewald natürlich, der auch. Haben Sie übrigens eine Idee, wo er steckt? Ich habe schon eine Weile nichts mehr von ihm gehört.«
»Ich auch nicht«, sagte Rosa.
»Sie telefonieren doch manchmal miteinander.«
»Ist das jetzt ein Verhör?«
»Ich mein ja nur.«
Etwas pikiert rückte Rosa ihre Brille zurecht.
»Ist ja auch egal.« Eschenbach hob die Schultern. »Er wird sich schon melden.«
»Brauchen Sie ihn?«
»Nun …« Der Kommissar, der noch immer mit den Händen in den Hosentaschen vor Rosa stand, überlegte.»Plan B«, sagte er, »das ist eine Bar in Winterthur. Ich hab’s gegoogelt. Aber es bedeutet vielleicht auch etwas anderes. Vielleicht könnte er mir dazu ein paar Informationen beschaffen.«
»Dann rufen Sie ihn doch einfach an.«
»Habe ich schon versucht«, meinte Eschenbach und sah Rosa dabei in die Augen. Er kramte ein Zündholzbriefchen aus der Tasche und legte es auf den Tisch. »Das wurde mir zugespielt. Vielleicht könnten Sie?«
»Zugespielt?« Rosa schüttelte den Kopf. »Was soll das schon wieder heißen?« Sie nahm das weiße kleine Ding in die Hand, begutachtete es und tippte ein paar Wörter in den PC.
Eschenbach, der sie dabei beobachtete, dachte nach. So, wie seine Sekretärin reagiert hatte, schien es, als wüsste sie wirklich von nichts. Aber sicher war sich der Kommissar nicht. Wenn es um Ewald Lenz ging, konnte Rosa dichtmachen wie ein Schweizer Militärbunker. Dazu kam, dass sie eine überaus gute Schauspielerin war – das machte die Sache noch schwieriger.
Das Zündholzbriefchen hatte Eschenbach am Abend zuvor gefunden, bei Ewald zu Hause – zusammen mit etwas, das ihn weit mehr beunruhigte.
Der Taxifahrer, der Eschenbach die Forchstrasse hinauf bis zu Lenz’ Mühle gebracht hatte, war etwas zu weit gefahren. Er entschuldigte sich.
»Egal, ich gehe die paar Meter zu Fuß«, sagte der Kommissar, bezahlte die Rechnung und stieg aus.
Der Weg war etwas abschüssig, und doch hatte Eschenbach das Gefühl, er hätte die Nordseite des Eigers vor sich. In seiner Brust zog sich etwas zusammen. Tief atmete er durch. Wie oft hatte er sich um Lenz schon Sorgen gemacht. Angefangen hatte alles mit der Bemerkung seines Vorgängers Toni Stalder. »Halt ein Auge auf den Lenz im Archiv. Auch wenn der nicht so aussieht, aber das ist ein Ferrari.« Den Vergleich mit den Autos hatte Eschenbach nie mehr vergessen. Bei Mitarbeitern gebe es, genauso wie bei Autos, zwei Kategorien, hatte Stalder gemeint: die normalen, die dafür aber zuverlässig seien – und dann eben die Ferraris. Launische Diven, die Spitzengeschwindigkeiten erreichten, dafür aber auch in der Lage seien, Kata-strophen zu verursachen. Ein ewiges Abenteuer, bei dem man nie genau wisse, was auf einen zukomme: Ein bisschen zu viel Feuchtigkeit in der Luft könne den Motor schon zum Husten bringen, ein wenig zu heiße Luft den Kühler schon überhitzen. Aber wenn es einmal rundlaufe, gewinne man jedes gottverdammte Rennen der Welt.
Vieles lief rund in den gemeinsamen Jahren. Aber Ausfälle hatte es auch gegeben, ohne Vorwarnung, wie eine Faust aus dem Dunkeln.
Dazu kam, dass der Alte nicht offen über seine Gefühle sprach; auch nicht um Hilfe bat oder anrief, wenn es ihm schlecht ging. Ewald Lenz war von der alten Schule, jemand, der durchhielt, bis nichts mehr ging.
Wie Eschenbach vermutet hatte, war die Haustür nicht abgeschlossen. Lenz sperrte seine Wohnung nie zu. Bei ihm sei sowieso nichts zu holen, hatte er Eschenbach einmal erklärt. Aber das war nur Tarnung, ein Bluff. Eschenbach wusste genau, dass der Alte nichts unbewacht ließ. Rund um die Mühle waren Kameras und Mikrofone installiert, an Orten, die nicht auf den ersten Blick zu erkennen waren.
Lenz wusste immer, wer ihn besuchte, auch wenn er einmal für ein paar Stunden weg war.
Bevor Eschenbach eintrat, winkte er dem Kameraauge zu, das über ihm, kaum sichtbar, in die Dachschräge eingelassen war. Es war ein halbherziges Winken. Das »Hallo«, das der Kommissar unmittelbar danach in das geräumige Wohnzimmer rief, war von einem tiefen Unbehagen begleitet.
Eschenbach hatte das Gefühl, dass Lenz ihn weder hörte noch sah. Irgendetwas stimmte nicht.
In der Wohnung war es heiß.
Eschenbach zog die Vorhänge auf und öffnete zwei Fenster. Licht strömte herein und ließ etwas Staub tanzen, den der Kommissar mit einer Handbewegung über der Holztischplatte aufgewirbelt hatte.
»So ein Scheiß«, murmelte er. Dann ging er in den oberen Stock, fand ein ordentlich gemachtes Bett im Schlafzimmer und keinerlei Unordnung im Bad.
Wieder im Erdgeschoss, machte sich der Kommissar an Ewalds Schreibtisch zu schaffen. Das große Holzpult aus den Sechzigerjahren stand vor einem mächtigen Bücherregal in der Ecke. Die Schubladen mit den hübsch verzierten Messingrosetten ließen sich mühelos öffnen. Die Hängeregistraturen im Innern waren mit Artikeln und Notizen gefüllt. Genauso wie die verschiedenen Korpusse und Wandschränke, die Eschenbach in der Folge inspizierte. Eigentlich schien alles in Ordnung zu sein. Vielleicht war der Alte einfach nur für ein paar Tage weggefahren. Eschenbach schüttelte den Kopf. Er konnte es sich beim besten Willen nicht vorstellen. Nicht Lenz. Auch nach seiner Pensionierung reiste der Alte so gut wie nie. Tagesausflüge waren das höchste der Gefühle. Abends wollte er stets zurück sein und in seinem eigenen Bett schlafen. Einmal auf der Rigi waren sie gewesen, und jedes Jahr gingen sie beide im September zu den Gießbachfällen. Betriebsausflug mit Pensionär, wie Lenz es nannte. Am liebsten aber hielt Lenz sich in der Zentralbibliothek auf, in Zürich. Das war sein wirkliches Erholungsgebiet.
Eschenbach ging in die Küche und drehte am Wasserhahn. Ein leichtes Glucksen war zu hören, bevor der Strahl ins Spülbecken traf. Der Kommissar wartete eine Weile, dann nahm er ein Glas aus dem Schrank, füllte es und trank.
Schon die ganze Zeit war er in Gedanken bei jenem Tag, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. In der Woche vor seiner Abreise in die USA: Verdammt, wo bist du, mein Freund?
Lenz’ Tabakdose kam ihm in den Sinn.
Der Alte hatte stets akribisch darauf geachtet, dass sein Tabak nicht austrocknete. Das Befeuchtungssystem war nicht besonders kompliziert: ein feuchter Schwamm, den Lenz einmal die Woche mit Wasser versorgte, mehr nicht.
Der Kommissar hob den Deckel, roch am Inhalt und griff hinein. Der Tabak war feucht, genauso, wie er sein musste. Zudem war die Dose prall gefüllt. Lange konnte Lenz also noch nicht weg sein.
Mit den Fingern stieß Eschenbach an etwas Hartes. Ein Pfeifenstopfer? Er nahm es heraus. Es war eine Münze, ungefähr so groß wie ein Fünf‑Franken-Stück. Viel erkennen konnte Eschenbach nicht, da die Oberfläche mit einer Kruste aus dunklem Tabak überzogen war. Eschenbach ging zum Spülbecken und machte sich mit Wasser und Seife daran, das Metallstück zu reinigen. Was zum Vorschein kam, raubte Eschenbach für einen kurzen Moment den Atem.
Gold.
Eschenbach betrachtete die Goldmünze genau. Auf der einen Seite war ein Adler mit zwei mächtigen Schwingen abgebildet. Darüber die Lettern: UNITED STATES OF AMERICA – TWENTY DOLLARS. Auf der anderen Seite konnte er das Ganzkörperbild einer Frau erkennen. Sie trug einen Stab in der rechten Hand, ihr Haar wehte im Wind. Es musste sich um die Freiheitsgöttin handeln, denn darüber entzifferte der Kommissar die Buchstaben LIBERTY.
Eschenbach beschlich ein seltsames Gefühl. Er horchte auf, als er in der Ferne ein Motorengeräusch wahrnahm. Kam Lenz zurück? Er hatte den alten Saab in der Einfahrt nirgends gesehen. Für einen Moment hielt Eschenbach den Atem an, warf einen Blick zum Fenster. Aber es war nichts. Es mussten die Autos auf der Forchstrasse sein, dachte er. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass die Berührung von Gold auf den Menschen eine eigenartige Wirkung hätte. Er schüttelte den Kopf. Und trotzdem, ganz wohl war ihm nicht. Lenz war kein Münzsammler, dachte er. Der Alte hätte ihm bestimmt davon erzählt. Zudem bewahrten Leute, die sich mit Numismatik beschäftigten, ihre wertvollen Stücke nicht in einer Tabakdose auf. Es musste etwas anderes sein, nur was?
In Gedanken versunken steckte Eschenbach die Goldmünze in die Hosentasche, roch noch einmal am Tabak, bevor er die Dose mit dem Deckel verschloss. Daneben lag ein großer, aus Rosenholz gefertigter Aschenbecher in der Form eines Pentagons. Eine runde Messingschale war darin eingelassen, in der Mitte ein Stück Kork, auf dem man die Pfeife ausklopfen konnte. Eschenbach fand keinerlei Reste von Tabak. Einzig ein Zündholzbriefchen lag in der Schale. Eschenbach nahm es in die Hand. Seit Amerika hatte er nicht mehr geraucht. Nun hatte er plötzlich Lust, wieder damit anzufangen. Er würde gleich am nächsten Tag im Tabaklädeli eine Schachtel Brissagos kaufen, dachte er und betrachtete die Zündhölzer. Das Briefchen war weiß und mit orangenen Lettern bedruckt: Plan B stand drauf, sonst nichts. Als er es aufklappte, sah er, dass ein paar Zündhölzer fehlten. Zudem entdeckte er auf der Innenseite eine verblasste Notiz, geschrieben in blauer Tinte: Wenn alle Stricke reißen. Ein paarmal drehte und wendete er das Briefchen, dann steckte er es ein und verließ wenige Minuten später das Haus.