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Der Flug der Libelle

HOCHSCHWARZWALD, MONTAG, 6. AUGUST – 08:55 UHR

Isabel und Lenz saßen an ihrem Frühstückstisch im Schatten der Laubbäume. Gedankenverloren sahen sie auf den Teich, der keine drei Meter von ihnen entfernt war.

Lenz hatte eine Ahnung, wie schwer es Isabel fiel, über die Zeit zu sprechen, als sich ihre Wege getrennt hatten. Auch er dachte ungern daran zurück: seine Besuche in der psychia-trischen Klinik und der Abend, als Walter Habicht zurückgekommen war. Noch nie in seinem Leben war er sich so nutzlos und klein vorgekommen. Dabei war Walter derjenige, der klein gewesen war. Unmöglich konnte er ihm die Frau wegnehmen. Es hätte Walter das Herz gebrochen. Deshalb war er damals gegangen. Nie mehr hatte er etwas von sich hören lassen.

In Freiburg, bei ihrem gemeinsamen Mittagessen, hatte er versucht, es Isabel zu erklären, aber über seine wirklichen Gründe hatten sie nicht gesprochen.

»Nach meinem Aufenthalt im Burghölzli war ich eine Zeit lang auf Arbeitssuche«, begann sie. »Das war nicht einfach. Intellektuell hatte ich einiges vorzuweisen. Menschlich war ich ein Wrack. Zudem war ich vorbestraft, wegen Brandstiftung, Sachbeschädigung. Die Firma, bei der ich angestellt war, wollte Geld von mir. Geld, das ich nicht hatte.« Isabel hielt inne und sah einer Libelle zu, die über der glatten Oberfläche des Teichs schwebte. Kaum ein Zentimeter trennte sie vom Wasser.

Auch Lenz hatte das Insekt entdeckt, das wie ein winziger extraterrestrischer Flugkörper aussah. Manchmal hielt es scheinbar regungslos in seiner Position inne, um diese gleich darauf pfeilschnell wieder zu verlassen. Es war unmöglich, die Flugbahn der Libelle vorauszusehen. Ebenso wenig konnte er erahnen, an welcher Stelle sie aufs Neue für eine kurze Weile verharren würde.

»Walter musste wieder zurück. Er verdiente an der Harvard nicht schlecht, so kam auch ich über die Runden. Derweil besuchte ich allerlei Symposien über Elektronikwissenschaften, Medien und Technik. In diesen Gebieten herrschte Aufbruchsstimmung, es interessierte mich. Rückblickend muss ich sagen, dass ich dort falsch war. Denn eigentlich suchte ich Menschen.«

Die Libelle war weitergezogen. Ein dürres Blatt, vom Wind herbeigetragen, fiel auf die Wasseroberfläche. Kleine, konzentrische Kreise breiteten sich aus und verschwanden wieder.

»In dieser Zeit habe ich Jeffrey Archer kennengelernt. Ein Amerikaner und, wie Walter auch, ursprünglich Biologe. Zudem kannte er sich mit Datenprozessen aus und … nun ja, besonders schlecht ausgesehen hat er auch nicht. Er hat mir von einem Projekt bei der NATO erzählt: Untergruppe Nachrichten und strategische Alternativen, kurz UNA. Ich habe erst später begriffen, um was es dort ging.«

Interessiert hob Lenz den Kopf. Er hatte ein Ei gepellt, bereits sein drittes. Mit der Gabel teilte er es und bot Isabel eine Hälfte an.

Sie aß das Ei und fuhr fort: »Die UNA war eine Propaganda-maschine, um es einmal ganz plump zu sagen. Die Leute dort waren darauf aus, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, insbesondere bei Konflikten, in denen die NATO involviert war. Jeffrey Archer, im Grad eines Oberst, leitete damals die Abteilung.«

»Du hast Propaganda für die NATO gemacht?«

»So hat es angefangen«, meinte sie.

Natürlich war die NATO für Lenz ein Begriff, die North Atlantic Treaty Organization, wie sie mit vollem Namen hieß. Sie war die größte und am stärksten bewaffnete Militäral-lianz, die es auf dem Planeten je gab. Am 4. April ​1949 war sie in Washington ins Leben gerufen worden. Zu ihren Gründungsmitgliedern zählten die USA, Dänemark, Belgien, Frankreich, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Holland, Norwegen, Portugal und Großbritannien. Sukzessive erweiterte sie sich. Mit der Gründung der Bundeswehr im Mai 1955 war auch die damalige Bundesrepublik Deutschland der NATO beigetreten. Fünf Tage nach ihrem Beitritt gründeten die Ostblockstaaten unter der Führung der UdSSR den Warschauer Pakt als Gegenstück. Nach dem Fall der Berliner Mauer, dem Ende des Kalten Kriegs also, zählte die NATO 16 Mitglieder.

»Im Rahmen der Osterweiterung wurde die NATO deutlich größer«, führte Isabel aus. »Eine Expansion, die den Russen überhaupt nicht in den Kram passte. Aber auch sonst hat sich die NATO verändert. Ursprünglich sollte das Bündnis die Mitgliedsländer schützen, doch seit gut zwanzig Jahren greift sie auch vereinzelt aktiv in Konflikte ein. So zum Beispiel 1999 in Serbien, zwei Jahre später in Afghanistan und 2003 im Irak.«

»Vergessen wir Libyen nicht«, sagte Lenz.

»Genau.« Isabel hielt inne. »Ich staune immer wieder, du hörst mir tatsächlich zu? Ich bin das nicht gewohnt.« Sie schob ihren Stuhl etwas zurück, beugte sich über den Tisch und gab Lenz einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Der Sturz von Gaddafi im Jahr 2011, richtig.«

Lenz errötete. Verlegen griff er zur Serviette und fuhr sich damit über Schnurrbart und Mund.

Isabel, die nun auch noch die dritte Tasse Kaffee leer getrunken hatte, schien etwas unruhig. Sie streckte die Arme. »Wollen wir zurück? Ich muss noch einiges erledigen.«

Lenz nickte unwillig. Viel hatte er noch nicht erfahren.

Sie standen auf.

»Wir können alles hierlassen«, meinte sie und deutete auf den Esstisch, die Stühle und den Korb. »Hans kümmert sich darum.«

Langsam folgten sie dem grasbewachsenen Pfad, der zuerst um den Weiher herum und dann zurück zum Haus führte.

Aus der Baumkrone einer groß gewachsenen Buche startete ein kleiner Vogel. Mit seinen kurzen Flügeln legte er sich mächtig ins Zeug und überflog in einem nervösen Auf und Ab den Weiher, um sich gleich darauf auf dem Tisch niederzulassen. Ein zweiter Vogel folgte ihm. Und nach einer Weile kam noch ein dritter hinzu.

»Dass sich die NATO aktiv an Konflikten beteiligt, ist politisch nicht unproblematisch«, erläuterte Isabel, die sich mit großer Sicherheit durch das Gelände bewegte. »Sie verletzt dadurch die UNO-Charta. Denn seit der Gründung der UNO-Friedensorganisation 1945 gilt ein weltweites Kriegsverbot. Das ist für alle UNO-Staaten eine verbindliche Regelung, zu der es nur zwei Ausnahmen gibt: Erstens gilt das Recht auf Selbstverteidigung. Ein Land, das angegriffen wird, darf sich verteidigen. Zweitens darf Krieg gegen ein Land geführt werden, wenn ein ausdrückliches Mandat des UNO-Sicherheits-rates vorliegt.«

»Das ist wohl eher schön gedacht …«

»Genau, ein Papiertiger ist es«, warf Isabel ein. »Ich könnte dir mindestens ein Dutzend Konflikte nennen, an denen die NATO gewissermaßen illegal beteiligt war.«

Und ohne dass dies groß in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, dachte Lenz. Schließlich waren die verantwortlichen Politiker viel zu einflussreich, als dass man sie Straßenmördern gleich verurteilen würde. Und die Massenmedien wagten es nicht, das oft selbstherrliche Gebaren der NATO-Mächte anzuprangern. Die Folgen davon waren klar: Was nicht in den Zeitungen stand und nicht den Weg in die Nachrichtensendungen fand, wurde nicht gedacht oder öffentlich diskutiert.

»Niemand kommt auf die Idee, dass die NATO-Staaten mitschuldig sind an der Verwüstung ganzer Regionen und somit wesentlich zur Flüchtlingskrise beitragen.«

Als es steil bergab ging, schwieg Isabel. Besorgt sah sie auf Ewalds abgetretene Lederschuhe. »Geht es?«

»Ich werde zu Tode stürzen«, grummelte er. Mit kurzen Schritten, und immer wieder einen Baum anvisierend, an dem er sich festhalten konnte, suchte er sich den Weg nach unten. Einmal, als er zu straucheln drohte, hielt Isabel ihn fest.

»Es geht«, sagte Lenz. Und weil er bemerkte, wie schroff er geklungen hatte, bedankte er sich anschließend bei ihr.

Nach einer Weile wurde der Weg flacher.

»Wir haben das Schlimmste überstanden«, meinte sie.

»Noch nicht ganz.« Lenz suchte einen Baumstrunk, auf den er sich hinsetzen konnte. »Ein Kieselstein«, sagte er und entfernte das Malheur aus seinem linken Schuh.

»Ich werde dir besseres Schuhwerk für das Gelände hier besorgen.«

Lenz ging nicht auf ihre Bemerkung ein. »Die UNA …«, sagte er und nahm den Faden wieder auf. »Was macht ihr dort genau?«

»Nun, die Zeiten haben sich geändert«, begann sie aufs Neue. »Die Hackerszene produziert am Laufmeter Datenlecks, und Hochbrisantes findet in Kürze den Weg in die Öffentlichkeit. Zum Beispiel im Dezember 2011, als unmarkierte NATO-Kriegsflugzeuge auf türkischen Flughäfen nahe der Grenze zu Syrien gelandet sind. Es ging um eine Waffenlieferung, mit der die Dschihadisten unterstützt werden sollten. Die Waffen stammten aus den Beständen Gaddafis. Nach seinem Tod waren sie in Libyen beschlagnahmt worden – und nun reichte man sie weiter, um den Aufstand gegen Assad zu befeuern.«

»Das steht so natürlich nicht in der Zeitung«, bemerkte Lenz.

»Genau. Aber die Information landete prompt im Netz«, fuhr Isabel fort. »Der CIA-Analytiker Philip Giraldi berichtete darüber.«

»Solche Berichte lassen sich kaum verhindern.«

»Eben nicht«, sagte Isabel. »Und das weiß auch die NATO. Für die kriegsführenden Parteien ist es heute fast unmöglich, Geheimnisse lange geheim zu halten. Es gibt immer wieder Misstöne. Ausgelöst durch Leute wie diesen Investigativjournalisten Giraldi oder Whistleblower – irgendjemanden, der ein paar unbequeme Fakten ans Licht bringt.«

»Solange die Misstöne nicht die Oberhand gewinnen, müsste das für euch kein Problem sein«, folgerte Lenz. Er hatte sich ein Leben lang mit Informationen beschäftigt, nun dämmerte ihm, um was es bei der UNA ging. »Ihr sorgt einfach für ein lautstarkes Gegengewicht. Zu jeder dieser sogenannten Enthüllungen schafft ihr eine Schwemme neuer, alternativer Fakten. Und in diesem Verwirrspiel aus Halbwahrheiten und Lügen gibt es bestimmt irgendwo noch einen Skandal zur Ablenkung … Nach und nach trübt sich die Suppe ein, und keiner weiß mehr, was oben und was unten ist.« Lenz blieb stehen und sah Isabel an. »Und wenn ich das alles richtig verstanden habe, macht ihr das ganze Theater in diesem Fall nur deshalb, damit die NATO mit einem Teil der Golfmonarchien einen Angriffskrieg gegen Assad führen kann – während die Öffentlichkeit glaubt, es handle sich um einen Konflikt Diktator gegen das Volk.«

Isabel senkte den Blick. Ihr Haar glänzte in der Sonne, die durch das Blätterwerk der Bäume schien. »Genau so ist es, Ewald. Genau so. Manchmal denke ich, mit der Wahrheit verhält es sich wie mit dem Modern Jazz: Nur eine kleine Minderheit interessiert sich dafür und nur wenige verstehen sie wirklich.«

»Und der Terror«, fragte Lenz. »Die ganze Angstmacherei, die vielen Toten. Gehört das auch zu eurem Repertoire?«

»Wieso fragst du mich das?« Unter einer mächtigen Kiefer blieb Isabel stehen.

»Einfach so«, sagte Lenz. Auch er hatte angehalten.

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke.

Isabel schwieg. Sie legte ihre Hand an den mächtigen Stamm des Baumes, brach ein Stück lose Borke heraus und betrachtete es. Dann sagte sie: »Föhren sind Tiefwurzler, hast du das gewusst? Sie schließen den Boden für andere Gewächse auf und sind unempfindlich gegen Frost und Hitze.«

»Du weichst mir aus, Isabel.«

»Dann sag mir wenigstens, weshalb du das wissen willst. Es ist mein Leben, nicht deines.«

»Ich weiß«, sagte Lenz. »Aber es interessiert mich und …« Er tat einen Schritt auf Isabel zu. »Vielleicht wünsche ich mir einfach, dass du nichts damit zu tun hast.«

Isabel nickte. »Schön«, sagte sie leise. »Das ist schön … bin ich nur nicht gewohnt, dass sich noch jemand außer Walter für mein Leben interessiert.« Sie warf Lenz das Stück Borke zu.

Er fing es auf.

»Ich habe alles aufgeschrieben, Ewald. Ironischerweise vielleicht auch deshalb, weil ich Angst hatte, mich am Ende zu verlieren, im Labyrinth, dessen Architektur ich selbst mitbestimmt habe.«

»Dann gib mir die ganze Geschichte«, sagte er. »Ich werde sie lesen.«

»Versprochen?«

Lenz nickte.

»Bestimmt wirst du mich danach hassen.«

»Das weiß ich erst, wenn ich sie gelesen habe.«

Sie setzten ihren Gang fort.

»Im Syrien-Krieg geht es weder um Religion noch um den eruptiven Aufstand eines Volkes gegen seinen Herrscher. Das ist alles Mumpitz. Demokratisierungsüberlegungen spielen dabei genauso wenig eine Rolle wie der Terrorismus per se.« Isabel schaute kurz zu Lenz. »Beim Konflikt in Syrien geht es im Wesentlichen um die Versorgung Europas mit Erdöl und Erdgas, um die Vormachtstellung Russlands in dieser Sache und um das Interesse einiger Golfmonarchien und der USA, hier ein Wörtchen mitreden zu wollen.«

»Davon gehe ich mittlerweile aus«, sagte er.

»Gut. Aber was du nicht weißt: Die Destabilisierung Sy-riens, zusammen mit dem Versuch, Assad zu stürzen, folgte einem von langer Hand vorbereiteten Plan.«

Sie hatten das Haus noch nicht ganz erreicht, als ihnen ein Mann entgegenkam. Er schien um die fünfzig zu sein, hatte kurzes, dunkles Haar, war groß gewachsen und schlank.

»Kann ich dich einen Moment sprechen, Isabel?« Ein flüchtiger, etwas abschätziger Blick galt Lenz.

»Ist es dringend?«, fragte sie.

Er nickte.

Isabel überlegte kurz. »Treffen wir uns in zehn Minuten in meinem Arbeitszimmer.«

»Okay«, sagte der Mann und entfernte sich wieder.

»Das war übrigens Hans, Hans Kowalski«, meinte Isabel, die mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein schien. »Und jetzt habe ich völlig vergessen, euch einander vorzustellen.«

»Das nächste Mal«, meinte Lenz.

Sie gingen ins Haus.


Nachdem Lenz geduscht hatte, roch er an seinen Kleidern. Er entschied sich, nun doch einen Blick in den Schrank zu werfen.

Alles war da: ein paar weiße T‑Shirts, zwei Hosen (sandfarben und dunkelblau), einige Hemden in Weiß, Hellblau und Weiß-Hellblau kariert, sowie zwei Sakkos und Unter-wäsche. Socken fand er ebenfalls. Zuunterst auf dem Schrankboden standen ein paar Wildleder-Loafers von Tod’s.

Irritiert fuhr sich Lenz mit der Hand über die nassen Haare. Er hatte sich nie viel aus Kleidern gemacht. Meist trug er ein Paar zerbeulte Cordhosen – auch im Sommer – und die paar Hemden, die er sich im Laufe der Jahre angeschafft hatte. Wenn etwas kaputtging, brachte er es zu Donjetta, einer jungen Albanerin, die an der Forchstrasse ein Nähatelier unterhielt. Dort ließ er es stopfen. Wenn nichts mehr zu machen war, ersetzte er das Stück. Meist fand Donjetta in ihrem kleinen Bestand an Secondhand-Kleidern etwas Passendes.

Nun stand er vor einer Auswahl, die ihm Kopfzerbrechen machte. Blitzschnell überschlug er im Geist die Anzahl un-terschiedlicher Kombinationen. Mehr als zwanzig Minuten brauchte er, sich für eine zu entscheiden.

Die sandfarbenen Hosen passten wie angegossen, das weiße Hemd auch. Lenz sah an sich hinunter bis zu den Schuhen, die er ebenfalls angezogen hatte. Obwohl alles perfekt saß, fühlte er sich nicht ganz wohl darin, so als hätte man ihm die Seele aus dem Leib gezogen.

Zögerlich machte er ein paar Schritte. Hin zum Bett und wieder zurück ging er. Er tat es ein zweites Mal, wobei er in der Mitte der Strecke kurz in die Hocke ging. Nichts spannte oder zwickte. Beim dritten Durchgang machte er einen kleinen Hüpfer.

Irgendwie musste er es wagen, dachte er – wenigstens -versuchen, sich daran zu gewöhnen. Vermutlich würde es Ta-ge dauern. Dabei hatte er gar nicht geplant, so lange zu bleiben.

Die Libelle, die er beim Weiher beobachtet hatte, kam ihm wieder in den Sinn. Nicht die geringste Gesetzmäßigkeit hatte er in ihrer Flugbahn entdecken können, obwohl er sie eine ganze Weile beobachtet hatte.

Das Rätsel beschäftigte Lenz. Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und dachte darüber nach. Woher kamen die Impulse, denen die Libelle folgte? Gab es ein übergeordnetes System, das den Bewegungen zugrunde lag, oder ergaben sich die Abläufe rein zufällig?

Während Lenz nachdachte, entdeckte er auf dem Beistelltisch das schwarze Etui. Er wunderte sich. Hatte es am Morgen auch schon dort gelegen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Nur daran, dass Isabel plötzlich im Zimmer gestanden hatte, das wusste er noch. Hastig hatte er sich angezogen, dann waren sie losmarschiert.

Auch eine runde Tabakdose lag da: Early Morning. Es war seine Marke, schon seit Jahrzehnten. Und als er das Etui öffnete, fand er darin eine rotbraune Pfeife mit gebogenem Holm. Sie glich seiner eigenen, die er zu Hause vergessen hatte. Abgesehen davon, dass sie neu war. Lenz betrachtete das Stück liebevoll, roch an ihr. Die Pfeife war aus Bruyèreholz gefertigt, eine Bent, mit einem schönen Wurzelmuster an der Unterseite des Kopfes.

Ein Geräusch vor der Zimmertür riss ihn aus seinen Gedanken.

»Herr Lenz, sind Sie da?«

Es klopfte.

»Ja, bitte«, rief Lenz. Sorgsam legte er die Pfeife zurück ins Etui und erhob sich. Durch die spaltweit geöffnete Tür erkannte er Gertrud. »Kommen Sie nur rein.«

»Ich möchte den Herrn nicht lange stören«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. Sie tat ein paar Schritte auf Lenz zu und blieb stehen. »Ich soll fragen, ob Sie Frau Hagen zu einem späten Mittagessen treffen möchten.«

»Klar«, sagte Lenz. Er sah auf die Uhr. »Wann soll ich hochkommen?«

»Frau Hagen ist mit Herrn Kowalski weggefahren«, sagte Gertrud. »Die Herrschaften würden sich im Hofgut Sternen treffen, hat sie gemeint, um ein Uhr.«

»Ach so.« Lenz überlegte und zögerte. »Und diese Herrschaften … ich meine, wer ist das alles?«

»Nur Sie und Frau Hagen natürlich.« Gertrud strich mit ihren Händen über die Schürze. »Ich habe mich wohl etwas unklar ausgedrückt. Aber wenn Sie wollen, können Sie auch hier essen. Dann koche ich etwas.«

»Schon gut«, sagte Lenz. Jetzt, da er wusste, dass er mit Isabel allein sein würde, sagte er zu. »Sie müssten mir einfach erklären, wie ich zu diesem Hofgut komme.«

»Das ist kein Problem«, meinte Gertrud.


Das Hofgut Sternen war eine kleine Ansammlung stattlicher Häuser, von denen eines eine Gaststube war. Es lag mitten im grünen Nirgendwo in einer Talsenke und war umgeben von Wiesen und Wäldern. Etwas weiter oben, an einem der dicht bewaldeten Hänge, spannte sich in mehreren Bögen ein riesiges Viadukt waghalsig über eine Schlucht.

»Ich bin mit Frau Hagen zum Essen verabredet«, sagte Lenz der Empfangsdame beim Eingang.

Die junge Frau in Schwarzwälder Tracht nickte und führte ihn an einen hübschen Tisch auf der Terrasse. Ein roter Sonnenstore spendete ausreichend Schatten, die Speisekarte lag bereit.

Lenz sah auf die Uhr. Obwohl er sich beeilt hatte, war er ein paar Minuten zu spät. Über dreißig Minuten hatte er für den Weg gebraucht, wobei mehr als die Hälfte der Zeit für den Waldweg bis zur Hauptstraße draufgegangen war.

Die Bedienung brachte die Karaffe mit Quellwasser, die Lenz bestellt hatte. Er sah sich die Karte an.

Eine knappe Stunde verging, Isabel kam nicht.

»Hat der Herr schon etwas gefunden?«

Lenz schrak auf: »Ich, ja … ähm, nein.«

»Sie können sich ruhig Zeit lassen.«

Lenz nickte. Er hätte wiederum auf der Stelle sämtliche Gerichte aufsagen können, die Weine noch dazu. Und weil auch wieder ein längerer Abschnitt der Geschichte des Hofguts gewidmet war, wusste er, dass Marie Antoinette und Johann Wolfgang von Goethe auch schon dort gewesen waren.

Nur Isabel fehlte.

»Danke«, sagte er.