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Ein Freund, ein lieber Freund

ZÜRICH, MITTWOCH, 8. AUGUST – 23:55 UHR

Eschenbach traute seinen Augen nicht.

Eine knappe halbe Stunde war er durch das nächtliche Zürich zurück zu seiner Wohnung gegangen. Die Luft hatte sich nur wenig abgekühlt, es war noch immer sommerlich warm. Und jetzt, kaum einen Steinwurf von seinem Hauseingang entfernt, in einer schmalen Gasse, sah er den dunklen BMW mit Berner Kennzeichen. Ließ Köhler ihn nun tatsächlich auch überwachen?

Der Kommissar entschied sich für einen Frontalangriff. Entschlossen ging er auf das Fahrzeug zu. Zwei Männer saßen im Wagen. Offenbar hatten sie ihn im Blickfeld, denn die Tür auf der Beifahrerseite öffnete sich. Ein groß gewachsener Mittvierziger stieg aus. Er wartete, bis Eschenbach vor ihm stand. Dann streckte er seine Hand aus.

»Hansueli Rohrbach, Nachrichtendienst des Bundes.«

»Fahrverbot, Parkverbot, Halteverbot«, sagte Eschenbach. »Was zum Teufel tun Sie hier?«

Rohrbach hob die Brauen. »Wir halten ein Auge auf Sie … Hat Ihnen das Frau Köhler vorhin nicht gesagt?«

»Das ist doch widersinnig …« Eschenbach schüttelte den Kopf. »Ich werde jetzt eine Runde schlafen gehen. Aber wenn Sie wollen, Sie können mich morgen um acht gerne abholen und ins Büro fahren.«

»Wir warten hier …« Rohrbach grinste. »Weil Auftrag ist Auftrag. Aber natürlich nehmen wir Sie morgen gerne mit. Anytime

Der Kommissar wusste nicht, was er sagen sollte. Zwei Beamte, die ihn beim Schlafen überwachten. Und das alles auf Kosten der Staatskasse. So ein Blödsinn. Er wollte sich schon verabschieden, da fiel ihm noch etwas ein. »Ach ja«, sagte er. »Sind Sie und Ihr Kollege nicht zufällig die beiden Topagenten, die am letzten Sonntag in Koblenz …?«

»Shit happens«, unterbrach ihn Rohrbach.

»Allerdings«, sagte der Kommissar. »Dann geben Sie sich jetzt aber Mühe.« Eschenbach machte auf dem Absatz kehrt und ging. Während er den kurzen Weg zu seiner Wohnung zurücklegte, winkte er den Kollegen noch einmal zu.

Die Haustür fiel hinter Eschenbach ins Schloss, als sich sein Handy meldete. Es war Rosa.

»Kommissario, bitte entschuldigen Sie, es ist spät, aber …« Rosas Stimme klang aufgeregt. »Ewald hat mich angerufen, gerade vorhin. Er hat gesagt …«

»Stopp«, rief der Kommissar. »Sagen Sie jetzt nichts, Frau Mazzoleni. Ich erkläre Ihnen das nachher.«

»Ma, Ewald mi ha detto …«

Eschenbach beendete das Gespräch auf der Stelle. Er überlegte kurz, dann rief er Rosa zurück. »Frau Mazzoleni, ich sage Ihnen jetzt etwas, und Sie hören nur zu, ja?«

»Ma volvo dire que …«

»Zuhören, verdammt!« Der Kommissar erschrak über die Härte in seiner Stimme. Aber es musste sein. Zuhören war für Rosa schwierig, insbesondere dann, wenn sie, weil sie sich aufregte, ins Italienische verfiel. »Mein Telefon wird vermutlich abgehört, Frau Mazzoleni. Sagen Sie also nichts … nur ja oder nein.«

»Santa Maria!«

»SI o NO, okay?«

»Okay … vol dire SI

»Kennen Sie meinen Freund, den Anwalt? – Nur ja oder nein!«

»SI.«

»Wissen Sie, wo er wohnt?«

»SI.«

»Dann nehmen Sie ein Taxi und fahren Sie hin. Das Haus hat eine Tiefgarage. Dort warten Sie bitte auf mich.«

»Okay.«

»Und Frau Mazzoleni …«

»SI.«

»Vergewissern Sie sich, dass Ihnen niemand nachfährt. Und falls es so wäre, rufen Sie mich an, okay?«

»Madonna mia!«

Nach dem Telefonat öffnete Eschenbach die Haustür und trat wieder nach draußen. Er blickte kurz zu der Gasse, wo der Wagen mit den Beamten stand, und machte sich dann in die entgegengesetzte Richtung davon. Eschenbach lief durch In Gassen hinunter bis zur Storchengasse, bog nach rechts und wenig später nach links in die Kämbelgasse. Ein letzter Spurt bis zur Limmat. Dort hielt er einen Moment inne, verschnaufte und horchte in die Nacht. Wenn die Männer ihm folgten, würde er es nun hören. Die Kämbelgasse war ein Schlauch, es war unmöglich, sie mit einem Personenwagen zu passieren. Aber er vernahm weder Schritte noch sonst ein Geräusch. Einigermaßen beruhigt ging er den Fluss entlang und überquerte die Münsterbrücke.

Er hätte Christian gerne vorgewarnt. So einfach mitten in der Nacht bei Freunden aufzukreuzen war nur etwas für äußerste Notfälle. Aber ein solcher lag ja schließlich auch vor.


Christian Pollack hielt seinen lose gebundenen Bademantel mit beiden Händen fest und sah Eschenbach mit großen Augen an. »Mein lieber Freund …«

»Ich hoffe, ich störe nicht«, sagte der Kommissar. Er hatte denselben Satz zwei Minuten zuvor schon der Sprechanlage anvertraut, nachdem er mehrere Male bei COP auf die Klingel gedrückt hatte. COP – typisch Christian. Das O stand für seinen Mittelnamen. Eschenbach hatte seinen Freund oft wegen dessen Namensschild auf den Arm genommen.

»Wie könntest du stören?«, sagte Christian Oswald Pollack. Er fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare. Ein etwas müdes Grinsen folgte. »Ich komme gerade aus der Dusche. Morgen steht ein wichtiges Signing an. Die Verkäufer machen mich wahnsinnig. In zwanzig Minuten wollen sie mich wieder in einer Telefonkonferenz haben. Dann ist vorhin noch eine Bekannte vorbeigekommen – um die muss ich mich ebenfalls kümmern. Und gegessen habe ich auch noch nichts. Aber bitte, komm rein in die gute Stube.«

Die »gute Stube« war ein teuer eingerichtetes 270 Quadratmeter großes Penthouse im Seefeld. Um das ganze Apartment herum zog sich eine kunstvoll begrünte Dachterrasse, von der man einen herrlichen Blick auf den See und den gegenüberliegenden Üetliberg hatte.

»Rosa kommt auch gleich«, sagte der Kommissar. Sie standen im breiten Flur zwischen zwei chinesischen Vasen und einem Bronzebuddha, der friedlich von einem Sockel lächelte. Der Kommissar versuchte, in ein paar Sätzen seine Notlage darzulegen. Es gelang ihm nicht wirklich gut. »Die Sache ist ziemlich kompliziert, Christian. Ich kann es dir später ausführlicher erklären. Aber jetzt müssen wir handeln. Vielleicht weiß Rosa, wo Ewald sich aufhält. Dann könnten wir ihn warnen … einen kleinen Vorsprung herausholen.«

»Schlechte Idee«, warf Christian ein. Der Anwalt überlegte kurz, dann meinte er: »Sag ihm, er soll sich den Behörden stellen. Und zwar sofort. Erhobenen Hauptes und aus freien Stücken, verstehst du? Das ist immer am besten. Ich kann ihm einen Strafverteidiger organisieren – einen wirklich guten. Der soll sich um die Sache kümmern. Und wenn Lenz nichts verbockt hat, nichts Schlimmes jedenfalls, dann kommt er auch wieder frei.«

»Wenn du meinst …« Der Kommissar wiegte den Kopf. »Aber dann müssen wir ihm das sagen.«

Hinter Christians Rücken huschte eine schlanke junge Frau, in ein dunkelgraues Badetuch eingehüllt, von einem Zimmer ins andere.

»Dein Besuch«, murmelte Eschenbach. Er sah an Christian vorbei und hob das Kinn. »Spielst du immer noch in der Jugendabteilung?«

»Elodie ist achtundzwanzig.«

»Eben.«

»Meine Assistentin«, meinte Christian, ohne den geringsten Anflug von Verlegenheit. »Eine hervorragende angehende Juristin übrigens.«

»Natürlich.« Eschenbach nickte. Franka, Giuseppa, Lea, Claudia, Tatjana und selbstverständlich auch diese Elodie: Die Welt war gesegnet mit hervorragenden angehenden Ju-ristinnen. Aber was konnte er schon dagegen vorbringen? Christian war ein Freund – und die waren im Gegensatz zu den flüchtigen Affären des Anwalts eher selten.


Rosa seufzte erleichtert, als Eschenbach endlich in der Tiefgarage stand. Sie trug einen hellgrauen Flanelltrainingsanzug. »Kommissario, ich bin sicher, es ist mir niemand gefolgt.« Es war ihr erster vollständiger Satz. Die beiden umarmten sich.

»Wissen Sie, wo Ewald ist?«

»Sì, sì …« Rosa nickte.

»Dann schießen Sie los!« Der Kommissar grinste. »Hier hört uns niemand.«

»Ach so …« Rosa verbannte die dunkle Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, hinters Ohr. »Ich habe sofort ein Taxi gerufen, wie Sie’s gesagt haben. Und das ist so schnell gekommen … ich habe gar keine Zeit mehr gehabt, mich umzuziehen.«

»Frau Mazzoleni.« Eschenbach holte Luft. »Hellgrau steht Ihnen wunderbar. Aber Ewald, wo ist er?«

»Nur ein Hausanzug …«, murmelte sie. »Ma Ewald … er hat mich angerufen.« Sie sah kurz auf ihr Handy. »Das war exakt um sieben nach zwölf. Er kommt zurück, hat er gesagt.«

»Von wo und mit was …« Eschenbach wurde ungeduldig. »Es pressiert, Frau Mazzoleni. Wir müssen ihn irgendwo abfangen. Und zwar, bevor er zu Hause ankommt. Am besten, wir rufen ihn gleich an.«

Rosa schüttelte den Kopf. »Hab’s schon versucht. Es ist eine Festnetznummer in Deutschland. Aber es nimmt niemand ab. Und Handy …«

»Ich weiß.«

»Dabei habe ich ihm letztes Jahr eines geschenkt. Aber nicht einmal eingerichtet hat er es.«

»Ja, eben!«

»Er wird verhaftet, oder?«

»Wie kommen Sie darauf?« Eschenbach verdrehte die Augen. »Aber jetzt erzählen Sie doch wenigstens einmal, was er Ihnen gesagt hat.«

Eschenbachs Sekretärin nahm einen Anlauf. Ohne Punkt und Komma schoss es aus ihr heraus: »Rosa cara hat er gesagt mach dir keine Sorgen es tut mir leid dass ich mich nicht gemeldet habe ich fahre gleich los bin noch im Schwarzwald und es könnte sein dass man mich an der Grenze …« Hier stockte ihr atemlos vorgetragener Erzählstrang.

»Verhaftet?« Eschenbach hob die Augenbrauen.

Rosa nickte. »Er hat doch nichts verbrochen, oder?«

»Ich weiß es nicht, Frau Mazzoleni. Und sonst: Hat er gesagt, welchen Grenzübergang er nimmt? Fährt er mit dem Auto?«

Sie nickte abermals. »Und jetzt hat es noch zu regnen angefangen«, meinte sie. »Es ist mitten in der Nacht. Ewald ist kein guter Autofahrer, er fährt nie, wenn es dunkel …«

»Grenzübergang, Frau Mazzoleni, wo?«

»Das hat er nicht gesagt …« Rosa schniefte. Eine Träne kullerte ihr über die Wange. »Aber ich hab’s gegoogelt, während ich im Taxi gesessen bin. Entweder es ist bei Bad Zurzach oder Koblenz …«

»Koblenz«, sagte Eschenbach, dem Köhlers Geschichte mit den Agenten wieder einfiel. Vermutlich würde Lenz denselben Weg wählen, den er schon bei der Hinfahrt genommen hatte. Der Kommissar blickte auf seine Uhr. »Wenn er bereits vor über einer halben Stunde losgefahren ist, wird’s knapp. Aber wir können es versuchen.«

»Und ich soll auch Ihnen Bescheid geben, hat er gesagt.«

»Schon gut.« Eschenbach ging auf den schwarzen Maserati Quattroporte zu, der auf einem der Parkplätze stand. »Christian hat mir seine Autoschlüssel gegeben. Steigen Sie ein, Frau Mazzoleni. Los geht’s!«


Nachdem Lenz mit Rosa telefoniert hatte, war er in sein Zimmer gegangen. Es gab nicht viel zu packen. Seine alten Kleider nahm er unter den Arm, die Bruyèrepfeife steckte er sich in die Hosentasche. In der Garage öffnete er das Tor, stieg in seinen Saab und fuhr los.

»Hallo, Ewald«, sagte eine vertraute Stimme im Innern des Wagens.

Lenz zuckte zusammen. Er war noch keine hundert Meter gefahren. Mit voller Wucht trat er auf die Bremse. Obwohl er langsam unterwegs war, schlitterte der Saab auf dem Waldweg und blieb, kurz bevor es eine Böschung hinunterging, stehen. Die Lichtkegel der Scheinwerfer leuchteten ins dicke Geäst der Bäume.

»Hoffentlich habe ich dich jetzt nicht erschreckt«, fuhr die hohe, etwas unangenehm klingende Stimme von Walter Habicht fort. Sie kam aus den Boxen der Anlage, registrierte Lenz nun, nachdem er einen Blick in den Fond des Wagens geworfen hatte.

»Ich stelle mir gerade dein Gesicht vor …« Eine kurze Pause folgte. »Es muss bestimmt seltsam sein, jemanden sprechen zu hören, von dem man weiß, dass er bereits seit einigen Tagen tot ist. Nun gut, ich bin es. Das weißt du ja … Und Isabel ist es inzwischen auch. Das nehme ich zumindest an. Sonst würdest du mich jetzt nicht hören. Vermutlich bist du auf dem Heimweg. Isabel wollte dir das Band für die Rückfahrt in deinen Kassettenrekorder schieben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich von ihrem Vorhaben hat abbringen lassen. Wenn’s um Planung geht, ist Isabel kaum zu übertreffen … eine Meisterin in der Kunst des Steuerns.«

Manipulation wäre das treffendere Wort, dachte Lenz.

»Erinnerst du dich noch, als wir in unserem kleinen Studierzimmer am Hönggerberg das Thema der Macy-Konferenzen diskutiert haben? ›Circular causal and feedback mechanisms in biological and social systems‹. Es war ein Meilenstein der Forschung. Man hatte die Gemeinsamkeiten und Schnittstellen verschiedener Disziplinen erkannt: Themen wie mensch-liches Verhalten, Nachrichtenübertragung, Regelung, Entscheidungs- und Spieltheorie. Norbert Wiener hat dem Zusammenspiel einen Namen gegeben: Kybernetik, hergeleitet von dem griechischen Wort kybernétes – Steuermann. In memoria Isabel würde ich es heute mit Steuerfrau übersetzen.«

Vorsichtig drehte Lenz am Lenkrad und brachte den Wagen wieder in die Mitte des Waldweges. Behutsam fuhr er weiter. Es war ihm längst klar geworden, dass sein Ausflug nach Freiburg – die Übergabe des Päckchens, Isabels Beichte und ihr Freitod – von langer Hand geplant war. Und wie bei jedem, dem bewusst wurde, dass er manipuliert worden war, hatte sich auch bei Lenz zuerst Unbehagen und schließlich Wut breitgemacht. Doch schon Minuten nach Isabels Tod, als sie friedlich in seinen Armen gelegen hatte, war diese Wut -einer stillen Trauer gewichen.

»Isabel und ich wussten, dass es nicht mehr lange gut gehen würde«, fuhr Walters Stimme fort. »Man war uns dicht auf den Fersen. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Wir hätten unsere Zelte wieder abbrechen und irgendwo anders aufschlagen müssen. In meinem Fall ein ziemlich schwieriges Unterfangen.« Räuspern erklang. Eine kurze Pause folgte. »Als sich die entsprechenden Anzeichen verdichteten, haben wir spaßeshalber begonnen, uns Morgenstern vorzusagen: Ich bin so dumm, du bist so dumm, wir wollen sterben gehen, kumm!« Ein kurzes Lachen war zu hören. »Du kennst es bestimmt. Aber im Gegensatz zu den beiden finsteren Eseln in diesem hübschen Gedicht wollten wir den Plan tatsächlich umsetzen. In Freiheit sterben, gewissermaßen. Alles andere war für uns keine Option. Mir war es recht – mein Körper war sowieso daran, seinen Dienst aufzugeben. Und bei Isabel war es die Angst, alles aufgeben zu müssen. Vor allem ihre Unabhängigkeit. Sich in die Gewalt anderer zu begeben … ihr Trauma. Das wollte sie nicht.«

Lenz hatte den steilen Teil des Weges passiert, er kam nun besser voran. Plötzlich kamen ihm die Wanderschuhe in den Sinn. Die Verhandlungsbasis, von der Isabel gesprochen hatte. Er hatte sie vergessen einzupacken. Wenn er nun tatsächlich verhaftet werden würde?

»Ich weiß nicht, ob man dich unbehelligt lässt, mein Freund«, sprach Habicht weiter. »Aber die Kassette, die Franziska dir gebracht hat, enthält so einiges, was die Terrorabwehr interessiert. Einfach, damit du’s weißt. Und was Isabel angeht, sei ihr nicht böse. Es war nicht ihre Idee, dich noch einmal zu treffen. Eigentlich wollte sie mit mir zusammen aus dem Leben gehen. Aber weil sie über all die Jahre immer wieder nach dir gefragt hat und ich dir nie etwas sagen durfte … Ich habe einfach gedacht, es wäre schön, wenn ihr noch einmal zusammenkommt. Damit sich alles rundet. Verstehst du? Denn ich wusste schon, dass du dich damals aus Rücksicht mir gegenüber aus dem Staub gemacht hast. Und dass Isabel und du einander mehr bedeutet habt, als jeder von euch mir gegenüber zugeben wollte.«

Die Stimme verstummte. Lenz hatte inzwischen die Hauptstraße erreicht. Er horchte auf. Ein Klicken folgte. So, wie es schien, war das Band zu Ende. Ein leichter Regen setzte ein. Lenz betätigte den Scheibenwischer und hing einen Moment seinen Gedanken nach. Er würde Walter vermissen.

»Mein lieber Freund …«

Die Stimme war wieder da. Das Gerät spielte nun die zweite Seite der Kassette ab.

»Ich weiß nicht, wohin man kommt, wenn man tot ist. Auch als Biologe ist mir das immer ein Rätsel geblieben. Was ich aber weiß, ist, dass mir die Diskussionen mit dir fehlen werden. Wir haben uns immer verstanden. Ist dir das auch aufgefallen? Ich glaube, es liegt daran, dass wir anders sind.

Wenn ich am Pausenhof einer Schule vorbeigehe, was heute selten mehr vorkommt, schaue ich, ob irgendwo ein Kind alleine herumsteht. Ich finde immer eines. Abseits verdrückt es eine Banane oder ein Sandwichbrot und gehört nicht dazu. Warum? …«

Lenz folgte den Gedanken von Walter, vorgetragen mit dieser seltsamen Stimme, an die er sich schon vor langer Zeit gewöhnt hatte. Der Regen war stärker geworden. Die Scheibenwischer des Saab liefen auf Hochtouren. Konzentriert blickte Lenz durch die Windschutzscheibe auf die nasse Fahrbahn und folgte langsam den weit gezogenen Kurven, die ihn zur Schweizer Grenze führten.