ZÜRICH, DIENSTAG, 7. AUGUST – 12:15 UHR
Über Mittag traf sich Eschenbach mit seinen Freunden Christian Pollack und Gregor Allenspach zum Essen im Gartencafé des Landesmuseums. Gregor, der am Rämibühl ein Vollpensum als Gymnasiallehrer absolvierte, stöhnte: »Früher hatten wir in den Ferien noch Ferien, und jetzt machen die die uns mit Weiterbildungskursen madig.«
Christian lachte laut auf. »Ich habe in drei Jahren keine drei Wochen freigenommen.«
»Selber schuld«, meinte Eschenbach, nachdem er als Letzter beim Kellner seine Bestellung aufgegeben hatte, »wenn du als Anwalt den Hals nicht vollkriegen kannst. Lass doch einfach mal einen Deal aus.«
»Kann ich nicht.«
»Eben.«
Während sie aufs Essen warteten, lästerten Eschenbachs Freunde eine Runde über ihn, der, wie sie fanden, viel zu gut aussah, viel zu entspannt wirkte und überhaupt nicht mehr der Alte war.
Aber was hieß schon der Alte? »Ich stecke schon wieder bis zum Hals in der Mühle«, meinte der Kommissar. »Die Saager hat mir eine Stellvertreterin untergejubelt. Also, ich sage euch.«
Als Eschenbach mit seiner Geschichte fertig war, prostete ihm Christian mit einem Glas gespritzten Weißweins zu. »Da würde ich mich jetzt aber warm anziehen, mein Lieber. Frauen sollte man nicht unterschätzen. Das kannst du mir glauben. Die wird sich rächen.«
»Und ob«, warf nun auch Gregor ein und erzählte eine wüste Geschichte aus seinem Gymnasium.
Eschenbach, der amüsiert zuhörte, wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Je nachdem, welchen Ernst man der Sache beimaß (und auf wessen Seite man stand), war es zum Lachen oder zum Heulen. Vielleicht wäre es gut, dachte er, wenn er sich in den nächsten Tagen einmal mit Ivy Köhler unter vier Augen aussprechen würde.
Der Kellner brachte das Essen, und für einen Moment herrschte unter dem großen Sonnenschirm einvernehmliches Schweigen. Hie und da trug ein Luftzug den süßlich-modrigen Duft der Limmat an den Tisch, und am Ende übernahm Christian in einem Anfall von Großzügigkeit die Rechnung, wobei er sich die Bemerkung erlaubte, dass er unter den Anwesenden noch der einzige Verbleibende der ehemals geknechteten Arbeiterklasse sei.
Gregor applaudierte, und Eschenbach hob den Daumen.
Gemeinsam spazierten sie danach zum Central. Eschenbach fiel auf, wie kurzatmig Christian geworden war. Der Anwalt hatte einige Kilos zugelegt und bewegte sich wie ein Walross, das unter der Klimaerwärmung litt. »Macht’s gut, Freunde«, meinte der Kommissar zum Abschied. Weil aber Gregor plötzlich in den Sinn kam, dass sie noch keinen Termin für einen Jass-Abend vereinbart hatten, blieben sie noch kurz unter der brütend heißen Sonne stehen, hielten sich die Handys vors Gesicht und tippten blinzelnd auf ihren Displays herum.
Der gemeinsame Lunch hatte Eschenbach gutgetan. Von Leichtigkeit getragen und mit wippendem Schritt steuerte er auf die Station des Polybähnlis zu, löste ein Ticket und stieg in die knallrote Standseilbahn, die, weil sie vom Central zu den Universitätsgebäuden führte, auch »Studenten-Express« genannt wurde. Ruckelnd, wie es sich für ein Relikt aus dem vorletzten Jahrhundert gehörte, ging es den Berg hinauf.
Noch am Vormittag hatte er sich bei Frau Gabriele Gabathuler vom Stab Ressourcen an der ETH einen Termin geben lassen, betreffend der Personalie Walter Habicht, wie er der Dame mitgeteilt hatte. Und ja, er würde selbst vorbeikommen, das hatte er ebenfalls angekündigt. In Gedanken bereitete er sich auf das Gespräch vor.
Das Polytechnikum – oder offiziell die Eidgenössische Technische Hochschule – hatte sich seit seiner Gründung im Jahr 1855 weltweit Ruhm erworben. Es rangierte regelmäßig unter den Top Ten der Universitäten. Persönlichkeiten wie Wilhelm Conrad Röntgen, Albert Einstein oder Wolfgang Pauli hatten hier gelernt oder gelehrt; knapp zwei Dutzend Nobelpreisträger hatte die ETH bisher hervorgebracht.
Doch es waren nicht nur die inneren Werte, die den Wissens-tempel zu etwas Besonderem machten. Kein Geringerer als Gottfried Semper hatte die Hochschule auf dem Zürichberg gebaut und mit einer imposanten Kuppel versehen. Erhaben schwebte sie über der Stadt; von hier blickten Professoren und Studenten auf sie hinunter, mit der gewissen Prise Arroganz derer, die alles ein bisschen besser wissen. Und wenn nicht besser, dann zumindest genauer. Denn Messen, Zählen und Wägen waren seit jeher die Grundkompetenzen, die hinter dickem Gemäuer gepflegt und gehegt wurden. Eschenbach kam der Fall in den Sinn, der ihn vor Jahren genau an diesen Ort gebracht hatte. Seltsame Substanzen, die in der Depressionsforschung eingesetzt wurden, darum ging es damals. Ein Gedanke an die junge Frau, mit der er ein kurzes Verhältnis angefangen hatte, streifte ihn.
Erfrischend kühl war es unter der hohen Decke der Eingangshalle. Obwohl während der Ferienzeit kaum Betrieb herrschte, hatte Eschenbach das Gefühl, die Konzentration von Intelligenz förmlich riechen zu können. Eine Weile verging, bis er den Weg ins Sekretariat der Hochschulleitung gefunden hatte.
»Und Sie sind?« Die ältere Frau hinter dem Computer sah nur flüchtig auf, als Eschenbach nach mehrmaligem Klopfen das Zimmer betrat.
»Ein ewiger Student.«
»Ach was.« Der Kopf der Frau hob sich. Helle, wache Augen musterten den Kommissar. »Das gibt’s schon lange nicht mehr, das können Sie mir glauben. Schon gar nicht hier bei uns. Die jungen Leute von heute wollen die Welt erobern, und das am liebsten über Nacht.«
»Frau Gabathuler?«
Sie nickte.
»Eschenbach, Kantonspolizei Zürich«, sagte der Kommissar. »Wir haben miteinander telefoniert.«
»Ich weiß.« Langsam erhob sich die Frau und gab Eschenbach die Hand. »Vielleicht ist es am besten, wir setzen uns.«
»Gerne.«
An einem runden Besprechungstisch mit drei Stühlen, der schräg hinter dem Schreibtisch von Frau Gabathuler unter einem Fenster stand, nahmen sie Platz.
»Walter Habicht also«, begann sie.
Eschenbach, dem ihr zögerliches Verhalten sofort aufgefallen war, legte beide Hände auf den Tisch und wartete. Es kam oft vor, dass Leute in Anwesenheit der Polizei plötzlich unsicher wurden oder auf diese oder jene Art merkwürdig reagierten.
»Am Telefon hatten Sie mir gesagt, dass er hier bei uns studiert haben soll?« Die Frau sah ihn fragend an.
»Studiert?« Erstaunt hob der Kommissar die Augenbrauen, fügte dann aber lächelnd hinzu: »Das weiß ich gar nicht, möglich wäre es natürlich. Walter Habicht hatte an der ETH eine Assistenzprofessur inne. Aber warten Sie …« Eschenbach griff in die Innentasche seines Leinenjacketts, zog seine beiden zusammengefalteten DIN‑A4-Seiten hervor und legte sie auf den Tisch. »Er hat verschiedene Doktorandenseminare gehalten und einen Vorlesungszyklus mit dem Titel …« Eschenbach strich mit der Hand über die Blätter und las: »Einführung in die Soziobiologie. Das steht jedenfalls in meinen Unterlagen.«
»In Ihren Unterlagen.« Langsam wiederholte Frau Gabathuler den Satz, auf eine seltsame Weise mechanisch, als hätte sie den Inhalt nicht richtig verstanden. Danach saß sie wie vom Donner gerührt da.
Eschenbach zuckte mit den Schultern. »Was ist daran so ungewöhnlich?«, fragte er.
»Nichts«, sagte sie leise.
Eine lange Pause entstand.
»Wissen Sie …«, sagte Frau Gabathuler, ohne Eschenbach anzusehen und ohne den Satz weiterzuführen. Kein einziges Wort mehr brachte sie hervor.
Die merkwürdige Ahnung, die Eschenbach gleich zu Beginn des Gesprächs gehabt hatte, wurde stärker. »Frau Gabathuler«, sagte er und sah seinem Gegenüber in die Augen. »Als wir heute Morgen miteinander telefoniert haben, schien das alles überhaupt kein Problem zu sein. Sie könnten die Personalie Habicht nachschlagen, haben Sie gesagt, in Ihrem System, alles sei dokumentiert, und nun …« Eschenbach breitete die Arme aus. »Jetzt habe ich plötzlich das Gefühl, ich entlocke Ihnen Staatsgeheimnisse.«
»Sie haben recht, Herr Kommissar: eine Staatsaffäre.« Frau Gabathuler nickte, zögerte einen Moment, als trage sie einen inneren Konflikt aus, dann stand sie auf. »Warten Sie bitte, ich bin gleich wieder zurück.«
Eschenbach sah ihr überrascht nach. Minuten vergingen. Langsam erhob er sich, ging ein paar Schritte in dem Zimmer und blickte zum Fenster hinaus. Wie konnte aus einer ein-fachen Personenrecherche eine Staatsaffäre werden? Staats-affäre – genau dieses Wort hatte Frau Gabathuler gebraucht. Der Kommissar nahm sein Handy und wählte Jagmettis Nummer. Sein Blick schweifte über die Häuser bis hinunter zum See. Einem fetten blauen Saphir gleich zog sich das Wasser in Richtung Alpen.
»Hallo, bist du’s?«, meldete sich Jagmetti, leicht außer Atem.
Eschenbach verkniff sich einen Kommentar zu Claudios Frage und kam gleich zur Sache. »Ich bin an der ETH wegen der Personalie Habicht. Diese Unterlagen, die du mir gegeben hast … die sind doch von hier, oder?«
»Ja, logisch.«
»Weißt du noch, wer die geschickt hat?«
»Sekretariat irgendwas …«, sagte der Bündner. »Ich müsste in meinen E-Mails nachsehen. Ist es dringend?«
»Schau’s einfach nach, wenn du im Büro bist. Und dann besorg bitte ein komplettes Personaldossier von Habicht bei der Einwohnerkontrolle, einen Auszug aus dem Strafregister, Nachweise von Betreibungen – einfach alles, was du finden kannst. Du weißt schon. Möglichst komplett, wenn’s geht.«
»Verstanden.«
Die Tür ging.
»Ich muss«, sagte Eschenbach. »Wir hören uns später, okay?«
»Okay.«
Frau Gabathuler war zurück, in ihrem Schlepptau ein großer, hagerer Mann mit Hornbrille und dichtem grauen Haar, das ihm wie ein Vogelnest auf dem Kopf saß. »Das ist Herr Witzemann, er leitet den Stab Ressourcen.«
Die beiden Männer begrüßten sich mit Handschlag.
»Setzen wir uns«, sagte Witzemann. Seine Stimme klang gequält, sodass Eschenbach, hätte er die Ergebnisse einer Prüfung erwartet, schon jetzt gewusst hätte, dass er durchgefallen war.
»Eine Staatsaffäre also«, meinte der Kommissar, der ohne weiteres Geplänkel gleich auf den Punkt kommen wollte.
»Sie sagen es, in der Tat.« Der Stabschef tauschte einen Blick mit Frau Gabathuler aus. »Und um ganz ehrlich zu sein, wir sind in einer erheblichen Zwickmühle.«
»Ganz ehrlich ist immer gut«, meinte Eschenbach.
»Nun ja …« Abermals wanderte Witzemanns Blick zu Gabathuler, die ihrerseits Eschenbach ansah. Es war wie beim Schwarzpeter-Spiel. »Was Herrn Walter Habicht betrifft …«, meinte der Stabschef und faltete die Hände vor der Brust. »Also, da gibt es eine offizielle Version und die besagt, dass wir keinerlei Informationen herausgeben.«
»Also haben Sie welche?« Eschenbach runzelte die Stirn.
»Herr Habicht ist …«, begann Witzemann aufs Neue, »beziehungsweise war, er ist ja offensichtlich jetzt tot, nie Teil des Lehrkörpers der ETH.«
»Und hat auch nie hier studiert«, ergänzte Gabathuler.
»Natürlich«, sagte Eschenbach. Offenbar war sogar beides der Fall gewesen. Vermutlich hätte das Schauspielhaus, das ein paar Hundert Meter weiter vorne an der Straße lag, das Schmierentheater um Habichts Nicht-Existenz glaubhafter inszeniert. Die ETH verfügte nicht über dieses Talent. Zum Glück nicht. Zu verliebt war man in Fakten und Prozesse, als dass man mit ihnen hätte hinter dem Berg halten können. »Die offizielle Version also«, sagte der Kommissar.
Eschenbachs Gegenüber nickten.
»Und wer hat die Anweisung zu dieser offiziellen Version gegeben?«
»Der ETH-Rat«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Witzemann. »In Form eines Zirkularbeschlusses, der gerade eben erst heute Morgen bei mir eingegangen ist.«
»Und was hat den Rat dazu bewogen, diesen Beschluss zu fassen?«, wollte Eschenbach wissen.
»Ein dringliches Gesuch der Bundesanwaltschaft«, erwiderte Witzemann. Der Stabschef der Ressourcen machte ein tief besorgtes Gesicht. »Wir werden angehalten, sämtliche Informationen Walter Habicht betreffend per sofort unter Verschluss zu halten. Keine Weitergabe an Dritte, auch nicht an die kantonalen Polizeibehörden.«
Erstaunt sah Eschenbach zu Frau Gabathuler, die ihrerseits nickte und meinte: »Vermutlich dachte der ETH-Rat, es wäre das Einfachste zu sagen, Habicht hätte es nie gegeben. Jedenfalls nicht bei uns. Menschen in Aufsichtsgremien denken so.«
Ganz falsch lag die Frau nicht, fand der Kommissar und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Und dennoch war er überrascht. Was hatte die Bundesanwaltschaft zu diesem Schritt bewogen? Zudem war es außergewöhnlich, gerade in einem Fall von übergeordnetem Staatsinteresse nicht zusammenzuarbeiten.
»Es tut mir sehr leid, dass wir Ihnen nicht weiterhelfen können.« Gabathuler zuckte mit den Schultern. Ein hilfloses Lächeln folgte.
»Schon gut.« Eschenbach winkte ab. Er musste dringend mit Saager sprechen. Der Fall Habicht hatte nun an Brisanz gewonnen, was ganz in seinem Sinne war. Und was Frau Gabathuler betraf, konnte er davon ausgehen, dass sie die Anweisungen erst bekommen hatte, nachdem sie beide am Morgen miteinander telefoniert hatten. Das würde ihren plötzlichen Sinneswandel erklären. Wahrscheinlich war sie es auch gewesen, die die Unterlagen an Jagmetti weitergegeben hatte. »Machen Sie sich kein Gewissen«, meinte Eschenbach und sah die Frau an. »Staatsanwaltschaft hin oder her: So ganz hinter dem Mond sind wir ja auch nicht. Die nötigen Informationen werden wir uns anderweitig beschaffen.« Er nahm die Papiere vom Tisch auf, faltete sie und steckte sie zurück in sein Jackett. »Sie können davon ausgehen, dass wir von Ihnen nichts bekommen haben.«
»Wenn das möglich wäre«, sagte Witzemann. »Weil wir sind über neuntausend Angestellte. Bis ein solches Dekret jeden erreicht. Sie wissen schon.«
»Genau«, sagte Frau Gabathuler und nickte dem Kommissar geradezu dankbar für sein Verständnis zu.
Sie standen auf. Auf dem Weg zur Tür blieb Eschenbach unvermittelt stehen. »Eine letzte Frage noch«, sagte er. »Kannte eigentlich jemand von Ihnen Herrn Habicht persönlich?«
Die beiden sahen sich an. Schließlich rang sich Witzemann zu einer Antwort durch. »Professor Habicht hat auf dem Gebiet der Soziobiologie einige wichtige Arbeiten veröffentlicht, darunter auch seine Habilitation. Er gilt mit anderen Autoren zusammen als Begründer dieser Fachrichtung.«
»Aber persönlich, meine ich«, hakte Eschenbach nach. »Kannten Sie ihn?«
Nach anfänglichem Schweigen nickte Witzemann. »Ich war Student in seinen Vorlesungen. Er war ein brillanter Kopf. Das Fachgebiet war damals, Mitte der Siebzigerjahre, noch ganz neu, im Aufbau gewissermaßen, auch sehr umstritten, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Ich bin Jurist«, sagte Eschenbach. »Von Biologie habe ich ungefähr so viel Ahnung wie eine Schildkröte vom Eiffelturm.«
»Nun ja.« Witzemann lachte. »Es ist ein wenig zu kompliziert, um es in ein paar Sätzen zu erklären. Aber Herr Habicht hatte sich damals für eine Professur beworben, die er dann leider nicht bekommen hat. Sehr bedauerlich. Soviel ich weiß, ist er danach in die Staaten gegangen.«
»Ach so«, sagte Eschenbach. »Kennen Sie die Gründe, weshalb es mit der Professur nicht geklappt hat?«
Witzemann wiegte den Kopf. »Nicht wirklich. Forschung und Lehre sind immer auch ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Alle gegen alle, ein großer Teich voll mit Egos. Ich vermute, es lag an seinem Forschungsgebiet. Er war einfach der Zeit voraus. Wie gesagt, die Soziobiologie steckte damals noch in den Kinderschuhen.«
»Alles klar«, sagte Eschenbach. Warum sollte es an der ETH anders zugehen als bei der Polizei, in der Kirche oder beim Zirkus? »Natürlich ist das eine blöde Frage«, meinte er. »Aber denken Sie, es hat bei dieser Professorenwahl eine Rolle gespielt, dass Herr Habicht kleinwüchsig war?«
Witzemann lachte.
»Es war nur so ein Gedanke«, meinte der Kommissar.
»Aber nein.« Witzemann rückte seine Brille zurecht und sah Eschenbach an. »Sind Sie sicher, dass wir von ein und derselben Person sprechen?«
»Walter Habicht.« Der Kommissar hielt inne, dann wurde er plötzlich hellhörig. »Sie meinen, er war gar nicht …«
»Kleinwüchsig?« Frau Gabathuler sah fragend zu ihrem Chef, der seinerseits den Kopf schüttelte.
»Da muss jetzt doch ein erheblicher Irrtum vorliegen, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.« Etwas verwirrt rieb sich Witzemann mit dem Handrücken über die Stirn. »Habicht war natürlich kein Riese.« Er musterte Eschenbach, danach Gabathuler, und weil keiner der beiden als Referenz zu taugen schien, meinte er schließlich: »Mittlere Größe, würde ich sagen, also normal. Auf jeden Fall nicht so groß wie Sie.«
»Sie haben nicht zufällig ein Foto von ihm?«, fragte Eschenbach.
»Keine Ahnung«, sagte Witzemann.
Gabathuler schüttelte den Kopf.
»Haarfarbe, Gesichtsform, dick oder dünn?« Eschenbach sagte, was ihm gerade in den Sinn kam. Er wollte die Unter-haltung auf keinen Fall abreißen lassen. »Sie waren Student bei ihm«, fuhr er fort. »Wie hat er ausgesehen?«
»Wie schon gesagt, er war mittelgroß, schlank …«
»Haarfarbe?«
»Dunkel … Braun vielleicht.«
»Trug er eine Brille?«
Kopfschütteln.
»Hautfarbe?«
»Weiß.«
»War er Schweizer?«
»Ja … also, ich denke schon.« Witzemann dachte nach. »Es ist schwierig, sich nach so langer Zeit daran zu erinnern. Immerhin ist das über vierzig Jahre her.«
»Ich weiß«, sagte Eschenbach. »Am Ende sind es oft nur ein paar wenige Anhaltspunkte, die einem bleiben.«
Witzemann hielt inne und nickte. »Genau, Sie sagen es. Nun fällt es mir wieder ein. Es war seine Stimme. Habicht hat oft sehr leise gesprochen, manchmal fast geflüstert. Und doch hat man im Hörsaal jedes Wort verstanden. Glasklar und deutlich. Das ist schon sehr eigenartig gewesen. Und ja …« Er zögerte einen Moment. »Ich glaube, da war was mit seinen Beinen. Er hinkte. Oft hatte er einen Stock bei sich.«
»Sehen Sie«, sagte Eschenbach. Er war froh um diese Angaben und bedankte sich. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, stieg er nachdenklich die Treppe hinunter, die ins Erd-geschoss führte, und setzte sich eine Weile auf die Poly-terrasse.
Der Mittag hatte den tiefblauen Himmel mit ein paar Dunstschleiern versehen, es war merklich schwüler geworden. Eschenbach trocknete sich die schweißnasse Stirn mit einem Taschentuch. Nach dem zweiten Espresso, den er sich in der Mensa hatte geben lassen, rief er das Büro von Saager an. Seine Chefin hatte ihm einiges zu erklären, fand er. Wenn sich die Bundesbehörde in einen Fall einmischte, geschah dies nicht ohne Absprache auf oberster Ebene.
Natürlich schwang in Eschenbachs Gedanken auch ein kleiner Triumph mit. Der Fall Habicht, den die eifrige Ivy Köhler nur allzu gern ohne sein Dazwischenfunken abgeschlossen hätte, war über Nacht zu einer Staatsaffäre geworden. Übergroß, wie ein rosa Elefant, den man nicht mehr wegzaubern konnte, stand er da.
»Die Chefin ist gerade in einem Meeting«, meinte Saagers Assistentin. »Sie wird Sie umgehend zurückrufen.«
»Gerne«, sagte Eschenbach und legte auf. Das Bild des rosa Elefanten gefiel ihm. Er sah das Tier vor sich, wie es ein paar Kilometer weiter unten durch das Seebecken watete und mit turmhohen Wasserfontänen den Bürkliplatz überflutete. Wann hatte es das schon einmal gegeben?
Es musste an diesem imaginären Spektakel gelegen haben, dass Eschenbach die Rauchsäule überhaupt nicht bemerkte, die im Osten der Stadt aufstieg und sich wie eine Windhose hoch in den Himmel wand.
»Himmel noch mal, und du hast wirklich nichts gesehen?«, fragte Jagmetti eine halbe Stunde später am Telefon. »Von da oben hast du den perfekten Ausblick.«
»Egal«, brummte Eschenbach, der wieder unten beim Central war. Er hatte bei Coop rasch fürs Abendessen eingekauft und stand mit einer gefüllten Papiertüte auf der Bahnhofbrücke. »Ich seh’s dafür jetzt, Claudio. Du kannst dich wieder beruhigen.«
»Beruhigen? Die ganze Hütte steht in Flammen, und ich soll mich beruhigen?«
»Verdammte Scheiße«, murmelte Eschenbach mit einem Blick auf die Rauchsäule. Langsam dämmerte ihm, was los war. »Das kommt vom Kreuzplatz!«
»Was dachtest du denn?« Jagmetti fluchte wie ein Henkersknecht. »Schutz und Rettung sind bereits dort … und die Spurensicherung natürlich auch. Eigentlich hatten wir uns die Wohnung von Habicht für morgen früh vorgenommen, aber jetzt fackelt die Hütte ab. Alles brennt.«
»Ich komme«, sagte Eschenbach.
»Und dreimal darfst du raten, wem das Haus gehört. Das hab ich nämlich auch noch herausgefunden heute.«
»Keine Ahnung.«
»Lenz.«
»Wem?« Eschenbach stellte die Tüte mit den Lebensmitteln auf den Boden. »Kannst du das bitte noch mal wiederholen?«
»Das Mehrfamilienhaus am Kreuzplatz … hörst du mich?«
»Ja«, rief Eschenbach. Er rief, weil die Leitung ziemlich schlecht war und weil er nicht glauben konnte, was Jagmetti ihm soeben gesagt hatte.
»Es gehört Lenz, Ewald Lenz.«
»Bist du sicher?«
»Ja, bin ich.« Jagmettis Stimme war klar und deutlich zu vernehmen. »Ich war deshalb eigens auf dem Grundbuchamt. Es ist seine Unterschrift. Ewald hat das Haus vor über zehn Jahren gekauft.«
Wenn in Zürich ein Großbrand ausbrach, galten andere Gesetze, das wusste Eschenbach.
Die Elemente Feuer, Wasser, Wind und Erde – sofern sie verrücktspielten – fanden ihr Gegenüber in den mutigen Teams von Schutz & Rettung. Die Dienstabteilung, die direkt dem Sicherheitsdepartement des Kantons unterstellt war, vereinte die mutigsten Schutzengel der Stadt, bestehend aus Berufs- und Milizfeuerwehr, Zivilschutz, Rettungsdienst sowie den Einsatzleitzentralen der Notrufnummern 114 und 118. An der Limmat war man stolz, über die größte zivile Rettungsorganisation der Schweiz zu verfügen. An die 40 000 Einsätze wurden jährlich im Land geleistet.
Die Lösch- und Rettungsaktion war in vollem Gange, als Eschenbach am Kreuzplatz eintraf. Mehr als ein halbes Dutzend Mal hatte er inzwischen versucht, Ewald Lenz zu erreichen. Ohne Erfolg. Es war zum Verzweifeln. Aus sicherer Entfernung beobachtete der Kommissar das Geschehen. Beißender Rauch lag in der Luft. Wie stumme Krähen flogen Rußfetzen umher. Kommandos wurden gebrüllt. Hie und da drang der Schrei eines Menschen durch dumpfen Lärm.
Hoffentlich gab es keine Verletzten oder Tote, dachte der Kommissar. Er sah die Krankenwagen, die bereitstanden. Der Junge im ersten Stock, mit dem er am Tag zuvor gesprochen hatte, kam ihm in den Sinn. Auch im Parterre wohnten Leute. Da die Wohnungen ebenerdig waren, bestand wenigstens die Chance, dass die Leute dort rechtzeitig ins Freie gelangt waren.
Wie dunkle Wolken, die der Wind herangetragen und wieder aufgelöst hatte, schossen Eschenbach die Gedanken durch den Kopf. Als er im Pulk der Einsatzkräfte Jagmetti erblickte, hob er den Arm und rief ihn zu sich. Aber der Bündner reagierte nicht. Zu laut war das Getöse der Wasserwerfer. Claudio trug einen Schutzhelm der Feuerwehr und redete auf Anja Pepic ein, die gerade eingetroffen war. Wenigstens das, dachte der Kommissar. Die beiden sprachen wieder miteinander.
Nach einer Weile erfasste Eschenbach eine dumpfe Müdigkeit. Der Jetlag. Es hatte keinen Sinn, hier länger herumzustehen, fand er. Schließlich waren die besten Leute im Einsatz. Was man tun konnte, wurde getan. Schutz und Rettung war nicht nur ein Name, es war Programm. Und doch war es bereits zu diesem Zeitpunkt eine Tatsache, dass von dem Haus, das offenbar Lenz gehörte – und in dessen oberstem Stock der Tote Walter Habicht gefunden worden war –, nicht mehr als die Grundmauern übrig bleiben würden.
Auf halbem Weg Richtung Stadelhofen fand Eschenbach ein Taxi. Er stieg ein. Im Büro versuchte er noch ein paarmal, Lenz zu erreichen. Es hatte keinen Zweck. Der Alte ging nicht ans Telefon. Besorgt darüber entschied Eschenbach, seinem Freund einen Besuch abzustatten.