Vier
W isst ihr, was wir heute vorhaben?«, fragte Annik am nächsten Morgen nach dem Frühstück.
»Was Spannendes?« Mara grinste. »Wir machen gleich zusammen den Abwasch?«
»Das sowieso«, sagte Annik.
»Spielverderber.«
Theo gluckste.
»Okay, ich verrate es euch. Heute Abend muss ich zu meiner neuen Arbeit. Aber bis dahin …«
Theo hüpfte unruhig neben ihr herum.
»Na? Weißt du es?«
Begeistertes Nicken.
»Ich will es auch wissen«, sagte Mara.
»Wir gehen zum Strand.«
Ohne Gepäck war es ein Leichtes, die paar Hundert Meter zu laufen. Wieso waren sie gestern noch nicht am Meer gewesen? Die Erkenntnis traf Annik unvorbereitet. Sie wohnten jetzt am Meer. Sie konnten jeden Tag an den Strand gehen.
Mara und Theo liefen Hand in Hand in der Mitte der schmalen Straße, denn Bürgersteige gab es nicht. Es gefiel Annik, dass sie nicht nötig waren.
Sie betrachtete die Umgebung. Ihr Häuschen gehörte zu den kleinsten. Die meisten Nachbarhäuser waren größer und strahlten eine freundliche, selbstverständliche Art maritimen Reichtums aus. Holzfassaden in allen erdenklichen Farben, Holzterrassen, als Dekoration dienten vielfach Anker, Schiffstaue oder Rettungsringe. Wie viele davon wohl Ferienhäuser für wohlhabende Städter aus Oslo oder Stavanger waren und wie viele dauerhaft bewohnt? Behaglich wirkten sie fast alle.
Schon wenige Minuten später waren sie an einer Bucht, in der es einen kleinen Strand gab. Bevor sie darüber nachdenken konnte, ob das Meer vielleicht zu kalt sein könnte, hatte Theo die Schuhe ausgezogen und rannte zum Wasser. Mara folgte ihm. Es war unmöglich, dieser Freude nicht zu folgen, obwohl es sich nicht um einen einladenden Mittelmeerstrand handelte. Anniks Schuhe flogen neben Theos und Maras in den Sand. Das Zopfgummi, das ihre Haare locker zusammengehalten hatte, löste sich. Sie steckte es in die Hosentasche und ließ zu, dass der Wind – man konnte beinahe schon Sturm sagen – ihr wohl die Großmutter aller Verfilzungen zaubern würde. Ihr Gesicht war jetzt schon feucht von Gischt und Nieselregen.
Das Wasser spritzte um ihre Füße, als sie sich zu dem ziellosen Fangenspiel gesellte, das Theo und Mara begonnen hatten. Theo wetzte auf sie zu und tippte sie an, und Mara rief an seiner Stelle: »Du bist!«
»Na warte!« Sie setzte hinter Theo her.
Sie rannten, bis sie alle drei vornübergebeugt dastanden und nach Atem rangen – sogar Theo. Annik war sich sicher, ihr Gesicht zeigte genau dasselbe fast schon idiotisch selige Grinsen, das sie auf dem ihrer Schwester sah.
»Weißt du, dass wir hier jetzt ganz oft herkommen können?«, fragte sie.
Bereits durch die Glastür, die den Vorraum von der eigentlichen Praxis trennte, sah Krister, dass Tilda hinter dem Rezeptionstresen saß und konzentriert auf den Monitor blickte.
»Was machst du denn hier? Es ist Sonntag«, sagte er, nachdem er die Tür geöffnet hatte.
Sie hob den Blick. »Krister!« Mit ihren vom Alter kurz gewordenen Bewegungen kam sie eilig hinter dem Rezeptionstresen hervor und schloss ihn in die Arme. Sie war bestimmt einen Kopf kleiner als er. »Ich kann euch doch nicht allein die neue Kollegin begrüßen lassen. Jemand muss Kaffee kochen.«
»Du meinst, das bekommen wir nicht ohne dich hin?«
Sie lächelte verschmitzt. »Es macht mir Spaß, Junge, das weißt du doch.«
»Du bist neugieriger als eine Katze.«
»Man muss auf dem Laufenden bleiben.«
Etwas in Krister wurde weich. Tilda hatte schon als Sprechstundenhilfe gearbeitet, als die Praxis noch seinem Vater gehört hatte. Nach dem Kindergarten hatte er neben ihr am Tresen gesessen und gemalt, und sie hatte mit ihm die Sprechübungen gemacht, die der Logopäde ihm aufgetragen hatte. Sie war immer da gewesen. Als sein Vater keine Zeit hatte, als seine Mutter starb, immer. »Du bist die Beste, Tilda.« Krister holte den von Tilda ausgedruckten Aktenstapel aus seinem Fach und lehnte sich damit gegen die Tischkante. Er hatte gerade den ersten Fall durchgeblättert, als Espen das Büro betrat.
»Hi, großer Bruder.«
»Hi.« Krister sah kurz auf, bevor er sich wieder seiner Arbeit zuwandte.
Doch Espen ging weder, noch betrat er das Büro. Stattdessen lungerte er im Türrahmen herum. »Und? Wie war der erste Abend zu Hause?« Seine Worte hatten einen fast lauernden Unterton.
»Gut.«
»Hast du irgendwas Besonderes getan?«
Krister klappte die Akte zu. Daher wehte der Wind. Tom hatte Hanne natürlich erzählt, dass sie gestern Abend Springen gewesen waren. Hanne hatte nichts Dringenderes zu tun gehabt, als sich bei Alva auszuheulen. Und jetzt spielte Espen sich als sein Babysitter auf. »Ja«, sagte er freundlich. »Ich war spontan noch in Stavanger, habe in einem Club ein paar Pillen eingeworfen und hatte wilden Sex mit fünf schwedischen Touristinnen.«
»Du solltest an deinem Humor arbeiten.« Es klang wie: Du solltest etwas gegen diesen kehligen Husten tun.
»Ich fand das ganz gelungen.«
»War es nicht.« Endlich zog Espen einen Mundwinkel leicht nach oben. »Tut mir leid, ich weiß, wie sehr diese Wahrheit dich treffen muss.«
»Eventuell kann ich es gerade so ertragen.« Krister wandte sich wieder den Papieren zu, doch Espen schien auf irgendetwas zu warten. »Ist noch was?«
»Nö.«
»Schön.«
»Ich dachte nur in meiner Naivität, du wolltest uns vielleicht vorwarnen, dass wir dich doch irgendwann von der Bergwand kratzen müssen, nachdem du vor Monaten schon aufhören wolltest.«
»Du wolltest das«, sagte Krister kühl. »Du wolltest, dass ich aufhören will.« Aber niemand, der einmal das Glück gekostet hatte, würde es ohne triftigen Grund aufgeben. Niemand. Apropos aufgeben … »Hanne ist übrigens schwanger.«
Espens verblüffter – und leicht entsetzter – Gesichtsausdruck verschaffte ihm eine grimmige Befriedigung. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Espen wieder sprach. »Sch… schön für die beiden.«
»Fand ich auch.«
»Dann wird es wohl Zeit, dass unsere drei Auszubildenden ein bisschen mehr Verantwortung übernehmen.«
Krister zog die Augenbrauen hoch. Das würde kaum reichen.
»Können wir gleich mit Alva bereden. Kommst du auch in den Besprechungsraum?«
Krister nahm die Akten mit. Im Besprechungsraum setzte er sich ans hintere Ende des Tisches, nahe beim Fenster, und Espen ließ sich neben ihn fallen. Tilda hatte es sich nicht nehmen lassen, Kekse, Obst, Wasser, Schorle und Kaffee auf den Tisch zu stellen wie für ein großes Meeting mit der ganzen Praxis. Espen zog die Keksschale zu sich, bevor er sein Smartphone herausholte, um E-Mails zu checken oder was auch immer er tat.
Sie hatten einen fantastischen Tag am Strand verbracht, hatten in der sündhaft teuren Eisdiele daneben Eis gegessen und waren durch Lillehamn geschlendert. Mit den farbigen Holzhäusern wirkte das Städtchen auf Annik wie die malerische Kulisse zu einem Skandinavienfilm. Nur besonders ausgehfreudig schienen die Lillehamner nicht zu sein. Außer der Eisdiele entdeckte sie lediglich eine Bar in einem deplatziert wirkenden Betonbau und eine Pizzeria. Allerdings war der Supermarkt wirklich gleich am Ende der Straße.
Zu Hause blieb Annik gerade noch genügend Zeit, sich dreiundzwanzigmal umzuziehen, bevor sie zum ersten Meeting ihres neuen Jobs fuhr. Vielleicht war es auch nur fünfmal, aber es genügte, um Mara, die im Schneidersitz auf Anniks Bett saß, in komischer Verzweiflung den Kopf schütteln zu lassen, während Annik ihre wenigen Kleidungsstücke nacheinander herausholte und kombinierte.
»Dein Vertrag ist aber bereits unterzeichnet, oder?«, fragte Mara. »Sie können dich nicht mehr wegen dieser merkwürdigen Blumen auf dem Oberteil entlassen?«
»Sag nichts gegen mein Oberteil.« Annnik verfluchte die Tatsache, dass ein großer Teil ihrer Sachen erst im Laufe der Woche per Spedition kommen würde. Letzten Endes entschied sie sich für eine taillierte weiße Bluse und die neueste Jeans, die sie besaß. Gepflegt, aber nicht overdressed; professionell, aber nicht steif. Dazu die halbhohen Sandalen, denn es war immer noch warm draußen. Der Nagellack an ihren Zehen war abgeblättert, aber inzwischen zeigte die Uhr zwanzig vor sechs, sie würde es nicht mehr schaffen, ihn zu erneuern.
Die Haare ließ sie heute offen, sie würde sie bei der Arbeit noch oft genug zum Zopf binden. Lippenstift, Wimperntusche – der Spiegel in der Innentür des Schranks zeigte ihr eine Frau mit zu großem Mund, die etwas nervös lächelte. Vielleicht sollte sie den Lippenstift doch nicht …?
»Du bist wunderschön so«, sagte Mara. »Los, hau ab. Theo und ich machen uns hier derweil einen netten Abend.«
Fünf Minuten später holte Annik eins der beiden Fahrräder aus dem Schuppen hinter dem Haus. Ihre Handflächen waren schwitzig. Was, wenn es mit dem Team doch nicht so passte, wie Alva annahm? Gott, so nervös war sie nicht mal gewesen, als sie die mündliche Prüfung bei Anatomie-Söker abgelegt hatte.
Vor dem Praxisgebäude stellte sie das Rad ab. Obwohl es noch beinahe genauso warm war wie am Tag, waren ihre Finger so klamm, dass sie den Fahrradschlüssel kaum ins Schloss bekam.
Nur ein Job. Und bei dem Treffen heute handelte es sich nicht um ein Bewerbungsgespräch.
Ein letztes Mal kämmte sie sich mit den Fingern durch die Haare. Sollte sie sie nicht vielleicht doch zum Zopf binden?
»Komm einfach so, wie du bist, es ist alles ganz familiär«, hatte Alva gesagt.
Die Tür war offen, und Annik trat mit klopfendem Herzen ein. Natürlich hatte sie Bilder von der Praxis im Internet gesehen, aber diese Räume hier übertrafen ihre Erwartungen. Licht durchflutete den großzügigen, mit hellem Parkett ausgelegten Empfangsbereich. Rechts von ihr befand sich ein Rezeptionstresen aus Stahl und hellblauem Milchglas, dahinter trennte eine in einer eleganten Kurve auslaufende, teils gläserne Wand einen Raum ab, der vermutlich das Büro darstellte. Daneben ging ein breiter Flur ab.
Geradeaus wiederholte sich diese Kurve noch einmal. Eine runde, ebenfalls durch Fenster unterbrochene Wand begrenzte das Wartezimmer. Annik nahm all das mit einem Blick in sich auf.
»Hei hei, du musst Annik sein. Willkommen im schönen Lillehamn.« Eine ältere Dame mit einem freundlichen, runden Gesicht begrüßte sie in stark akzentuiertem, überaus charmantem Deutsch.
»Takk«, stammelte Annik auf Norwegisch. Danke. Erst jetzt merkte sie, dass sie die Bündchen ihrer Sommerjacke geknetet hatte.
Die Frau reichte ihr die Hand. »Ich bin Tilda. Ich gehöre sozusagen zum Inventar.«
Annik hatte Tildas Bild auf der Website gesehen, und schon da hatte sie sympathisch gewirkt. Etwas so Warmherziges, Freundliches ging von ihr aus, dass Annik sich in ihrer Gegenwart gleich wohlfühlte.
»Tilda ist extra für dich heute hier.« Alva kam aus dem Flur und umarmte Annik. »Schön, dass du da bist.«
»Ihr habt alles, was ihr braucht?«, fragte Tilda. »Dann fahre ich nach Hause.«
»Ja, wir kommen klar, danke dir.« Als sie außerhalb von Tildas Hörweite waren, wisperte Alva: »Sie war bloß neugierig auf dich.«
»Ich mag sie.«
»Alles andere hätte mich enttäuscht. Tilda ist so etwas wie meine zweite Mutter.« Alva öffnete den Arm zur Seite. »Das Wartezimmer.« An Wartezimmern erkannte man den Geist einer Praxis. Mit der gepflegten Spielecke, den kaum zerlesenen Zeitschriften und den Gläsern beim Wasserspender gefiel dieses hier Annik ausgesprochen gut. Es hatte etwas beinahe Gemütliches, das durch die große Stehlampe mit dem Treibholzfuß noch unterstrichen wurde.
»Dort hinten sind die Behandlungsräume. Wir haben jeder unser eigenes Sprechzimmer – Krister den OP , du, Espen und ich ganz normale Sprechzimmer –, zusätzlich gibt es zwei Räume zum Ausweichen. Siehst du die kleinen Fächer neben den Türen?«
»Ja.«
»Da stecken Tilda und Märtha uns immer Zettel mit drei Stichworten zu dem jeweiligen Patienten hinein. Das erleichtert besonders bei akuten Fällen oder Leuten, von denen wir noch keine Akte im Computer haben, sehr die Arbeit.«
Als Nächstes führte Alva sie in einen Raum mit einem großen, ovalen Tisch, um den bestimmt zehn Stühle gruppiert waren. Zwei Männer saßen dort, von denen einer zum Fenster gewandt las, während der andere sein Smartphone zur Seite legte und sie strahlend anlächelte. »Der Besprechungsraum«, sagte Alva. »Immer hinein in die gute Stube.«
Annik trat ein, der Mann, der aufgesehen hatte, erhob sich und reichte ihr die Hand. »Ich bin Espen.« Auf der Stelle erschien Alvas Warnung, sie solle sich vor Espen in Acht nehmen, plausibel. Er verströmte Sex-Appeal aus jeder Pore. Auf der Website hatte er wesentlich braver gewirkt. Das eng anliegende Shirt ließ keinen Zweifel daran, dass er ziemlich gut trainiert war, und er hatte dieselben beeindruckend grünen Augen wie Alva, dazu dunkelbraune, leicht lockige Haare. Ihm war seine Wirkung bewusst, das merkte sie an dem selbstsicheren Lächeln, das er ihr schenkte. »Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Mich auch.« Definitiv würde sie Mara kein Sterbenswort von diesem Mann erzählen, sonst würde ihre kleine Schwester für den Rest ihres Aufenthalts alle Krankheiten von Asthma bis Zöliakie durchzelebrieren.
Während ihrer Begrüßung hatte sich der zweite Mann hinter Espen genähert. Espen trat zur Seite, und Anniks Herz machte einen Satz.
Der Typ vom Hafen.
Maras Sahneschnittchen war Alvas Bruder. Ihr Boss.
»Hi, ich –« Er hatte die Hand ausgestreckt, brach aber mitten im Satz ab, als er sie ebenfalls erkannte. Er schloss den Mund wieder, ein Mundwinkel hob sich einen halben Millimeter.
»Annik, das ist Krister. Krister – Annik«, sagte Alva.
Warum musste ausgerechnet dieser Typ ihr Boss sein? Annik merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie hatte den Vorfall am Hafen so schnell wie möglich vergessen und nicht jeden Tag wieder daran erinnert werden wollen. Deswegen also war er ihr auf der Fähre so bekannt vorgekommen! Allerdings hatte er auf der Fähre – und jetzt auch noch – sehr anders ausgesehen als auf der Website, wo er nicht nur glatt rasiert gewesen war, sondern eine dickrandige Brille getragen und die Haare viel kürzer und ordentlich gescheitelt hatte.
Ausgerechnet er hatte sie in ihrem dunkelsten Moment der letzten Wochen erlebt. So viel also zum positiven ersten Eindruck.
Ihr Gesicht wurde noch eine Spur heißer, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte. Wie lange schon? Ein unsicheres Lachen drückte sich durch ihre Kehle. »Äh … hi«, stammelte sie und nahm endlich seine Hand. Sie fühlte sich gut an, trocken und warm, und sein Händedruck war gerade richtig fest. »Freut mich, dich … also …« Die Worte versickerten in der Ratlosigkeit.
Krister nickte und ließ ihre Hand los.
»Kris freut sich auch, dich kennenzulernen.« Jovial klopfte Espen ihm auf die Schulter.
Mit einer unwilligen kleinen Bewegung schüttelte Krister ihn ab, nickte Annik noch einmal kurz zu und setzte sich wieder. Sein Lächeln wirkte gequält. Anscheinend war ihm am Hafen ebenso wenig klar gewesen wie ihr, mit wem er es zu tun hatte. Jetzt zu erkennen, dass er eine menschliche Niete eingestellt hatte, war bestimmt nicht die größte Freude für ihn.
»Schön, dann lasst uns anfangen.« Alvas Stimme klang in Kristers Ohren wie Hohn.
Diese Besprechung würde wohl oder übel stattfinden müssen, ohne dass er seine Meinung zu B---lutwerten oder L---ungengeräuschen kundtat. In dem Augenblick, in dem er auch nur versuchen würde, den Mund aufzumachen, würde in seinem Kopf das Chaos ausbrechen. Sein beschissenes Sprachzentrum hatte spontan beschlossen, jegliche Kooperation einzustellen, als er in der neuen Kollegin die Frau vom Hafen erkannte.
Nur … warum? Was hatte sie an sich, das das ausgelöst hatte, so schlimm wie seit Jahren nicht mehr?
Genau genommen war es das letzte Mal passiert, als … Fuck. Er sollte ein dringendes Wort mit seinem Unterbewusstsein reden. Diese Frau, die da so verunsichert saß, kaum einen Blick zu ihm wagte und mit den Fingern die Ecke ihres Notizblocks aufrollte, hatte rein gar nichts mit Tonia zu tun. Sie sah ihr nicht mal entfernt ähnlich. Wahrscheinlich benutzte sie dasselbe Parfum, und sein Unterbewusstes stürzte sich auf diese Erkenntnis und suhlte sich darin, bevor er das bewusst auch nur gemerkt hatte.
Aber warum war sie so nervös? Er konnte nur hoffen, dass sie keinen Fehler gemacht hatten, indem sie Annik blind eingestellt hatten, nur auf Alvas Urteil vertrauend. Als Ärztin würde sie Kompetenz ausstrahlen müssen. Dieses Verhuschte passte nicht zu dem Bild, das Alva von ihr gezeichnet hatte. Prüfend sah er sie an. Was hatte sie für ein Problem?
»… und die Praxis ist zwischen neun Uhr morgens und vier Uhr nachmittags geöffnet. Die Mittagspause machen wir umschichtig, sodass immer jemand da ist.« Nur am Rande bekam Krister mit, wie Alva Annik die Praxisabläufe erklärte, zwischendurch ergänzt von Espen, der natürlich zu Hochform auflief. Eine halbwegs attraktive Frau und Espen in einem Raum – das Ergebnis war vorhersehbar.
Unauffällig führte Krister ein paar der Entspannungsübungen durch, die er bei seiner dritten Logopädin gelernt hatte, einer Französin namens Madame Mercatier. Nur, um nicht ganz und gar hilflos zu sein, sollte er doch irgendwann etwas sagen müssen. Doch bisher wirkte es, als kämen die anderen drei ganz gut ohne ihn klar.
Anniks ausdrucksvolle, graue Augen waren auf Espen gerichtet, und Espen tat nach allen Regeln der Kunst, was er am besten konnte: Er wickelte sie ein. Vier Wochen, bis die beiden es miteinander trieben, Krister würde jede Wette darauf eingehen. Die Frau, die Doktor Espen Solberg widerstand, musste erst noch geboren werden.
Annik war nicht aufgetakelt, aber auf eine natürliche Art hübsch – und vermutlich sogar ziemlich sexy, wenn sie diese Unsicherheit ablegen würde. Die taillierte weiße Bluse mit dem großen Kragen und die engen Jeans brachten ihren Körper perfekt zur Geltung. Die blonden Haare hatte sie auf der Fähre zum Zopf getragen, jetzt fielen sie ihr seidig auf die Schultern. Sie entsprach haargenau Espens Beuteschema. Allerdings hatte sie das Kind. Kinder entstanden in der Regel nicht durch unbefleckte Empfängnis, und Espen ließ die Finger von vergebenen Frauen. Doch wo war der Vater zu dem Jungen?
»Kris, was denkst du?«
Der Teil seines Gehirns, der Alvas aktuellen Problemfall mitbekommen hatte, übernahm beinahe ohne sein Zutun. »Hast du einen D-rogentest gemacht?« Sehr gut. Fast flüssig.
Wieder dieser prüfende Blick, mit dem Alva ihn vorhin schon bedacht hatte, als sie die Vorstellung übernommen hatte. »Der Junge hat eine unerklärliche Anämie, kein Drogenproblem.«
Er konzentrierte sich auf Alva, atmete ein und ließ den Satz hinausfließen. »Teste ihn auf Reste von MDMA
»Er ist vierzehn.«
Krister sah sie nur an, und Alva seufzte. »Schön. Wenn du recht hast, geb ich dir einen aus.«
Er hoffte, dass sein Lächeln aussagte, was er dachte. In aller Regel hatte er recht.
»Gut, dann sind wir im Wesentlichen für heute durch, oder?«, fragte Alva. »Jungs, bis morgen. Wir sehen uns am Dienstag, Annik. Macht euch bis dahin eine schöne Zeit.«
Es war vorbei, er hatte diese elende Besprechung überstanden, ohne sich bis aufs Blut zu blamieren. Vielleicht hielt ihn Annik jetzt für ein wenig merkwürdig, aber damit konnte er leben. Besser merkwürdig als minderbemittelt.