Sieben
S
o leise wie möglich kroch Annik neben Theo ins Bett. Er tastete mit geschlossenen Augen nach ihr, seufzte zufrieden und schlief weiter.
»Und, heute wieder Halleluja?
«, fragte sie Flos Bild.
Nein, heute haben wir
Gloria in excelsis deo einstudiert. Man muss flexibel bleiben. Ich habe mich an der Posaune versucht.
Sie kicherte. »Lief das besser?«
Ging so. Und bei dir, Prinzessin?
»Ich hab Bier getrunken. Und Moltebeerenschnaps. Und geflirtet, glaub ich.« Sanft strich sie über sein Gesicht, das ewig jung bleiben würde in seinem Glasrahmen.
Ich dachte, du wolltest nie wieder küssen?
»Das will ich auch nicht. Ich habe ja nicht vom Küssen und schon gar nicht von einer Beziehung gesprochen, sondern nur vom Flirten.« Wie sehr wünschte sie sich jetzt Flos weiche Lippen auf ihren. Und nicht nur dort.
Wortklauberei.
Er hörte sich entfernt an, vielleicht, weil sie betrunken war. Vielleicht auch, weil die Erinnerung daran, wie sie sich liebten, sie mit solcher Kraft überrollte, dass sie nach Luft schnappte. Wie sollte sie leben können, noch jahrelang, ohne diese Seligkeit wieder zu spüren?
Es war seltsam, wie entschieden sich ihre Erinnerungen auf die schönen Zeiten konzentrierten.
»Nimm doch nicht alles so bitterernst, Kris.«
»V-verdammt, Espen!« Krister kickte einen unsichtbaren Kiesel weg, der auf der nächtlich leeren Straße am Hafen lag, die sie gemeinsam entlangliefen. »Ich bin mir der Verantwortung für die Praxis bewusst.
W--- was für ein Bullshit! Wenn du dich betrinkst und irgendeine Tussi abschleppst, ist es das Eine, aber es hat nichts mit V--- V---« Fuck. Was war in letzter Zeit los mit ihm?
Espen hatte die Hände in die Hosentaschen gebohrt und schwieg.
»… Verantwortung zu tun, die neue Kollegin anzugraben. D--- Das ist unprofessionell.« Vor allem, damit exakt an der Stelle weiterzumachen, wo er vor ihrem Gespräch aufgehört hatte. Krister trat ein weiteres Steinchen zur Seite. Mit einem leisen Platschen schlug es auf dem Wasser auf.
Doch Espen blieb stehen. »Sorry.«
»Bisschen spät.«
»Kris, jetzt warte doch mal. Es tut mir wirklich leid. Ich war vielleicht ein bisschen aufgekratzt und hatte ein Bier zu viel. Oder zwei. Ich wusste, dass es dich ärgern würde, aber …«
Krister tat Espen nicht den Gefallen, stehen zu bleiben.
Espen schloss eilig zu ihm auf.
»Aber?« Jetzt schaute er Espen doch an, diese perfekte, unbeschädigte Version seiner selbst, der sogar im fahlen Licht der Straßenlaternen noch so aussah, dass jederzeit fünf Fotografen eines Modemagazins ihre Kameras auf ihn richten könnten. »Erklär es mir, Espen«, sagte er leiser. »W--- wenn wir uns mit der V--- Verantwortung für die Praxis einig sind, warum musst d--- d---« Er gab auf. Vielleicht wollte er es gar nicht so genau wissen.
Doch zu seiner Überraschung nickte sein Bruder nur langsam. »Warum muss ich mit Annik flirten, obwohl dich das sichtlich ärgert?« Espen wirkte verlegen. »Genau deswegen, glaube ich. Weil es dich ärgert, und weil dich das endlich mal hinter deiner beherrschten Fassade hervorholt.«
Der Schlag saß. »Was Fassaden angeht, nehmen wir uns beide nicht viel, oder?«, fragte Krister schließlich.
Espen seufzte. »Du weißt, dass ich dich wirklich liebe, Kris«, sagte er zögernd. »Aber schon in der einen kurzen Woche, als du bei Oma warst, habe ich gemerkt, wie es mich entspannt, mal niemanden vor der Nase zu haben, der alle Entscheidungen treffen will, der in allem besser ist, der jede meiner Beziehungen –«
Krister schnaubte. »Du hast keine Beziehungen. Du hast Sex.«
»Jede meiner Beziehungen mit einem milden Lächeln quittiert, der mit seinem eiskalten Verstand immer die passendere Diagnose rauszaubert, der … immer ein bisschen perfekter, schlauer, besser ist. Und der zu allem Überfluss auch noch arrogant genug ist, sein Leben einfach …« Er brach ab, als hätte er sich dabei ertappt, ein verbotenes Geheimnis auszuplaudern. »Ja, ich gebe zu, ich habe das genossen.«
Während Espen sprach, war Krister langsamer geworden. Er war sich sicher, dass sein Gesicht in diesem Augenblick weder besonders schlau noch besonders verantwortungsvoll wirkte. Vermutlich eher fassungslos. Er verstand, was seinen Bruder beschäftigte, aber trotzdem … Espen, dem alles zufiel, der klug, witzig und charmant war, Espen fühlte sich ihm
unterlegen? Ihm, dem ewigen Verlierer? Dann riss er sich zusammen und versuchte ein Grinsen. »Du hattest immer noch Alva, die in allem besser ist.«
»Du Arsch.« Espen lächelte schief. »Ich meinte das ernst. Es hat sich gut angefühlt, mal nicht der Kleine zu sein, der immer in der zweiten Reihe steht.«
»Soll ich dir w-was v--- v--- verraten?«
»Immer frei raus mit der Sprache.«
»Wer ist jetzt der Arsch?« Krister schubste Espen ein Stück in Richtung Hafenbecken.
Schnell sprang Espen aus seiner Reichweite. »Du wolltest mir was v-v-v-verraten.«
»Arsch, ich sag’s ja. Aber was ich meinte: Ich bin verblüfft darüber, wie du mich siehst.«
»Warum?«
»Weil es bei mir genau andersherum ist. Ich denke sehr oft, dass unsere Eltern bei mir erst geübt haben und ziemlich enttäuscht von dem mickrigen Ergebnis waren, bevor ihnen dann mit dir eine bessere Version von männlichem Nachwuchs gelang. Eine unbeschädigte.«
Espen lachte freudlos auf.
»Zumindest eine, die richtig sprechen kann, die offen und zugänglich ist und die andere Leute nicht ständig aus Versehen vor den Kopf stößt. Ich habe dich mein Leben lang darum beneidet.«
Espen sah schweigend aufs Wasser hinaus. Dann drehte er sich um. »Wow.«
»So sieht es aus.« Krister zuckte entschuldigend die Schultern.
»Das wusste ich nicht. Ich dachte immer, für dich bin ich der Kleine, den man nicht ganz ernst nehmen kann. Weil du in allem, was dir wichtig ist, so … na ja, so überdurchschnittlich bist.«
»Espen, ich bin der, den man als Kind für geistig behindert hielt, weil er keine drei zusammenhängenden Worte sagen konnte, geschweige denn den eigenen Namen, schon vergessen? Ich habe keine andere Wahl, als gut in dem zu sein, was ich mache, damit mich überhaupt jemand ernst nimmt. Du weißt nicht, wie anstrengend das war. Ist.«
»Ich hab dich immer ernst genommen.«
»Klar. Weil ich sonst deine Playstation geschrottet hätte.«
»Blödmann.«
Es war nicht nötig, darauf zu antworten.
Schweigend gingen sie nebeneinanderher bis zur Kongchristiansgate. Zu Fuß dauerte der Weg, für den Annik vorher mit dem Rad wohl kaum zwei Minuten gebraucht hatte, beinahe eine Viertelstunde. Als Krister mit seinen Gedanken so weit war, fiel ihm ein, dass zu ihrem Haus zwar zwei Erwachsenenfahrräder gehörten, aber bisher kein Kinderrad.
»Ab wann kann man eigentlich so ungefähr Fahrrad fahren?«
Aus seinen Gedanken gerissen, sah Espen ihn nur verständnislos an.
»Vergiss es, war nicht wichtig.«
Espen fragte nicht weiter nach, dachte aber ganz offensichtlich auch daran, wer in dem Häuschen wohnte, an dem sie soeben vorbeiliefen. Im Wohnzimmer brannte noch Licht. »Du meinst also, ich sollte nicht mit ihr …«
Krister lachte bemüht. »Verantwortung für die Praxis und so. Aber tu, was du nicht lassen kannst.«
»Schauen wir mal.« Herausfordernd grinste Espen ihn an.
Krister war immer noch geplättet von Espens Eröffnung zuvor. »Vergiss es, kleiner Bruder. Ich lasse mich heute nicht mehr provozieren. Diszipliniert, du weißt schon.« Inzwischen waren sie vor seinem Haus angekommen, das nur fünfzig Meter von Anniks entfernt lag. Hier trennten sich ihre Wege. Espen wohnte in einer ausgebauten Scheune einen Kilometer weiter oben auf dem Hügel. Der Gedanke, seinen nervigen Bruder allein weitergehen zu lassen, die leere, dunkle Wohnung aufzuschließen und sich mit irgendeiner Fachzeitschrift auf sein Designersofa zu legen, bis endlich der hoffentlich traumlose Schlaf kam, war nicht besonders attraktiv.
Er schielte zu Espen hinüber. »Willst du heute mein Gästebett haben?«
Die Robbenstation war ein unspektakulärer Flachbau, den Annik ohne das mannshohe Schild, das den Eingang markierte, vielleicht für eine Turnhalle gehalten hätte. Eine lächelnde Comicrobbe war darauf zu sehen, und darüber stand der Schriftzug: Marinestasjonen.
Im Inneren war das Gebäude beeindruckender als von außen. Eine riesige Fotomontage verschiedener Robben- und Seehundarten zierte den Raum. An der Seite fand Annik einen kleinen Kassentresen. Sie bezahlte für Theo, Mara und sich selbst und erhielt einen englischsprachigen Faltprospekt. »Velkommen«, sagte das Mädchen hinter dem Tresen. »Viel Spaß!«
Hinter der Kasse führte ein glatter Betongang steil nach unten. Zu sehen war nichts außer einem indirekten, blauen Leuchten. Theos kleine Hand umklammerte ihre, doch er grinste aufgeregt.
»Spannend, oder?«, fragte sie.
Mara war schon vorgelaufen und um eine Ecke gebogen. Ihre Stimme hallte, als sie rief: »Wow, kommt mal schnell her!«
Theo ließ Anniks Hand los und lief Maras Rufen nach. Annik folgte langsamer.
Der Gang öffnete sich in einer beeindruckenden, künstlichen Grotte, deren eine Seite ganz aus Glas bestand. Dahinter war türkisfarbenes Wasser – und eine große Robbe, die mit dem Rücken nach unten an der Glaswand vorbeizischte, keinen Meter vor Theos staunenden Augen.
Gleich darauf erschien ein zweites Tier, das gemächlicher seine Bahnen zog und sichtlich neugierig auf den kleinen Besucher zuschwamm. Die Robben waren interessant, aber das wirklich Schöne für Annik war, Theos fasziniertes Gesicht zu sehen. Sofort beschloss sie, eine Dauerkarte für die Robbenstation zu kaufen.
»Hier steckt ihr! Mir war doch so, als hätte ich euch beim Reinkommen gesehen!« Alva tauchte neben Annik auf. »Ach, da kommt Smule.« Die zweite Robbe erschien erneut vor ihnen. »Er ist mein Liebling«, erklärte Alva Theo. »Vielleicht kannst du ihn irgendwann mal mit mir füttern.«
»Wie alt ist das Kind denn?«
Ratlos ließ Krister den Blick über die Reihe der Kinderfahrräder vor ihm gleiten. Gestern Abend war es ihm noch wie eine brillante Idee vorgekommen, in die Stadt zu fahren und ein kleines Rad für das AirBnB zu kaufen. Es steigerte den Wert des Hauses, wenn er es wieder an Feriengäste vermietete. Jetzt fand er den Einfall im Wesentlichen idiotisch. Das Häuschen hatte sich bisher auch ohne Kinderfahrrad vermieten lassen. Er versuchte, sich an die Szene auf dem Deck zu erinnern. Wie groß war der Junge im Vergleich zur Reling gewesen? Und wie hoch die Reling? Er zeigte die ungefähre Größe mit der Hand. »So groß. Plus/minus ein bisschen.«
Der misstrauische Blick der Verkäuferin entging ihm nicht. Zugegeben, es war schräg, wenn man in einen Laden kam, um ein Fahrrad für ein Kind zu kaufen, dessen Alter man nicht einmal kannte. Vor dem geistigen Auge der Verkäuferin liefen garantiert gerade diverse Filme ab, von denen kein einziger der banalen Wahrheit auch nur nahe kam. »Ich brauche es für die Sommergäste in meiner Ferienwohnung«, sagte er.
Ihr Gesicht hellte sich merklich auf. »Dann soll es eher etwas Einfaches sein?«
»Es sollte fahren.«
Sie lachte höflich. »Da sind Sie hier genau an der richtigen Stelle.«
»Ich sehe mich einfach um, wenn das in Ordnung ist.«
Eine Familie mit einem Mädchen, das etwa so groß war wie Anniks Sohn, hatte den Laden betreten. Zielsicher steuerte das Kind auf das Ende der Fahrradreihe zu. »Das hier mag ich.«
Unauffällig näherte Krister sich. Es war eine knallblaue 18-Zoll-Rennmaschine, die das Kind ins Auge gefasst hatte. Dasselbe Modell stand noch in dunkelblau und grün daneben. Während die Verkäuferin dem Mädchen den Sattel auf die richtige Höhe für eine Probefahrt durch den Laden einstellte, erläuterte sie die Vorteile des Rads. Sobald das Kind losgefahren war und die Eltern sich berieten, wandte Krister sich an die Verkäuferin. »Ich nehme das grüne.«
Es war eigenartig, mit dem Rad im Auto durch die Gegend zu fahren, beinahe, als wäre der kleine Junge selbst mit im Wagen. Krister versuchte, sich vorzustellen, was der Kleine zu dem Fahrrad sagen würde. Was, wenn er es blöd fand? Nicht Rad fahren konnte? Schon ein Fahrrad hatte? Je näher die Kongchristiansgate kam, desto hirnrissiger erschien Krister seine Idee.
Aber selbst wenn. Es war sein Haus. Er konnte es ausstatten, wie er wollte, zum Henker. Er hatte als Teenager seine sterbende Mutter gepflegt, er hatte Verletzte zusammengeflickt und Beine amputiert. Er hatte dem Tod tausendmal ein Schnippchen geschlagen, indem er den Fallschirm zog. Er würde es wohl hinbekommen, bei seiner Mieterin, die zufällig auch seine Angestellte war, zu klingeln und dieses Fahrrad abzugeben. Er konnte es, und er würde es tun. Vielleicht gleich morgen, wenn er vom Kjerag zurückkam.
Sander hatte versprochen, ein zweites Boot zu organisieren, und Krister würde quer über den Fjord fliegen und auf der anderen Seite landen. Erst einer hatte das vor ihm gewagt. Die Landung würde nicht ganz einfach werden, die horizontale Fläche am anderen Ufer war klein. Aber wenn man es richtig anstellte, war es zu schaffen. Leon hatte es auch geschafft. Und es kam Krister wesentlich einfacher vor, als bei Annik zu klingeln.
Am Montagmorgen hatte Annik dank des Abends im Frontstage
nicht mehr das Gefühl, »die Neue« zu sein, sondern freute sich auf die Kollegen. Auf fast alle.
Allerdings bekam ihr Hochgefühl bei Tildas Nachricht, Lotta Eriksson, die Katzen-Lady sei wieder da, einen kleinen Dämpfer. Annik war davon ausgegangen, dass es ihr gut ging, weil sie sich nicht gemeldet hatte. Doch als sie nun den laienhaften Verband sah und die schwelende Entzündung darunter freilegte, musste sie sehr tief durchatmen. Einen Tag länger, und … »Warum sind Sie denn nicht früher gekommen?«
»Meine Babys brauchen mich doch.«
Annik lag auf der Zunge zu sagen, dass die Katzen sich bald ein neues Zuhause würden suchen müssen, wenn die alte Dame weiterhin so mit ihrer Gesundheit umging. Doch sie tätschelte nur Lottas gesunde Hand.
»Ist es sehr schlimm?«
»Wir bekommen das hin«, sagte sie ruhig, während sie die Wunde erneut reinigte. »Es ist sehr gut, dass Sie heute gekommen sind, es war höchste Zeit.« Diese Worte musste Hanne nicht übersetzen, dafür reichte ihr Norwegisch. Bei ihren nächsten Sätzen jedoch wollte sie sicher sein, dass Lotta sie wirklich verstand, also nickte sie Hanne zu, die vom Computer zu ihr kam. »Ich werde Ihnen einige Antibiotika geben müssen, die Sie bitte genau nach Anleitung nehmen. Hanne erklärt Ihnen das.«
Die alte Dame nickte eifrig. Gut, wenigstens schien sie nun begriffen zu haben, wie wichtig ihre Kooperation war.
»Außerdem sollte unser Chirurg sich den Entzündungsherd ansehen.« Annik legte einen lockeren Schutzverband an. »Ich schicke Sie jetzt zurück ins Wartezimmer, wo Sie warten, bis wir Sie wieder aufrufen. Morgen muss ich die Wunde kontrollieren.«
Annik würde Tilda bitten, Lotta Eriksson am nächsten Morgen anzurufen, falls sie nicht spätestens um neun auf der Matte stand. Notfalls würden sie den Rettungswagen bei ihr vorbeischicken.
Frau Eriksson nun an Krister zu übergeben, bereitete ihr Unbehagen. Falls er sie tatsächlich loswerden wollte, hatte sie ihm mit dieser vermeidbaren Entzündung einen praktischen Grund geliefert. Oder bildete sie sich seinen Widerwillen ihr gegenüber nur ein?
Grübeln konnte sie später, ihre nächsten Patienten warteten. Übers Wochenende schlimmer gewordener Husten, Krämpfe, Bauchschmerzen. Sie kam kaum zum Essen, geschweige denn dazu, darüber nachzudenken, wie sie die Montage bewältigen sollte, wenn Mara nicht mehr da war. Vor dem Team-Meeting am Abend aß sie schnell ihr mitgebrachtes Brot, dann eilte sie zum Besprechungsraum – und hörte, noch bevor sie ihn betrat, ihren Namen und gleich darauf das Wort ›Katze‹.
»… nicht vorkommen.« Das war Krister.
Ein Stein senkte sich in ihren Magen. Auf einmal erschöpft, lehnte sie sich neben der Tür an die Wand, während Espen antwortete. »Blödsinn. Das hätte jedem von uns passieren können.«
»Es darf aber nicht passieren. Lotta hätte eine Sepsis entwickeln können, und wir hätten einen Gerichtsprozess an der Hacke.« Kristers Stimme war kühl und beherrscht wie meistens. Hatte sie am Freitagabend allen Ernstes seine Augen bewundert? Und dieses Kribbeln im Körper gehabt, als er sie angesehen hatte? Sie musste irre gewesen sein. Total irre.
Ihr Herz klopfte jetzt aus ganz anderen Gründen, und ihre Hände waren feucht. Es war genau so gekommen, wie sie befürchtet hatte: Der Katzenbiss gab Krister einen Vorwand, sie zu feuern, noch bevor sie die Chance gehabt hatte, sich wirklich zu beweisen.
»Es ist aber keine Sepsis geworden«, sagte Alva ruhig.
Eben. Und selbst wenn es eine geworden wäre, wäre das nicht ihr, Anniks, Fehler gewesen. Sie würde nicht zulassen, dass ihr schwacher Moment mit Theo, der nicht einmal etwas mit der Arbeit zu tun gehabt hatte, ihre Chancen hier zerstörte.
Alva sprach weiter. »Außerdem sollten wir das fairerweise zu viert mit Annik besprechen.«
»Wo ist sie überhaupt?« Das war Espen.
Es war drei Minuten nach sechs. Entweder, sie brachte das jetzt hinter sich, oder sie lief heulend aus der Praxis ohne Aussicht, jemals zurückzukehren. Das zweite kam nicht infrage. Sie ließ die Luft entweichen und drückte den Brustkorb nach vorn. Ruhig. Kompetent. Gelassen.
Klinke runter. Jetzt.
»Hi. Störe ich?« Sie konnte nicht anders, als Krister dabei direkt anzusehen.
Seine Miene war erneut unlesbar.
Alva lächelte Annik immerhin ermutigend zu, und Espen wies auf den Platz neben sich. »Komm rein, nimm dir was zu trinken. Wie viel von unserer freundlichen kleinen Diskussion hast du mitbekommen?«
Sie klemmte sich auf den Stuhl neben Espen, so weit wie möglich von Krister entfernt, und nahm dankbar das Wasserglas an, das Alva ihr reichte. »Ich glaube, das Wesentliche habe ich gehört.« Leider war ihre Stimme ein wenig höher, als sie sich das wünschte. Sie räusperte sich. »Dazu kann ich nur sagen, dass ich für ein Breitbandantibiotikum zunächst keine Indikation gesehen habe und meine Anweisungen an Lotta Eriksson mehr als klar waren, Hanne wird das bezeugen können. Aber wenn Lotta sich entschließt, sie zu missachten, liegt das nicht in meiner Hand.«
Um Alvas Seufzer zu hören, brauchte sie nicht aufzublicken. »Kris? Möchtest du direkt darauf antworten?«
Krister hatte die Arme verschränkt und sich in seinem Stuhl zurückgelehnt. Wie konnte dieser hübsche Mann, der Theos Ball gerettet hatte, jetzt derart abweisend aussehen? Auf Alvas Frage hin zog er einen Mundwinkel zu der herablassenden Karikatur eines Lächelns hoch, als wäre er fassungslos über ihre abwegige Idee. Schweigend schüttelte er den Kopf, den Blick auf seine Schwester gerichtet.
Seine Reaktion kränkte Annik. Natürlich hatte sie am Freitag im Frontstage
kein Wort mit Krister gewechselt, aber nachdem er sie so angesehen hatte … Irgendwie hatte sie angenommen, sie wären auf einem ganz guten Weg.
Sie legte alle Entschlossenheit, die sie aufbringen konnte, in ihre Stimme. »Es ist okay, wirklich. Ich weiß, dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen. Niemand muss seinen Unmut erklären.«
Espen bedachte seinen Bruder mit einem genervten Seitenblick, doch Alva wirkte auf einmal milder. »Nach allem, was ich gehört habe, geht es Lotta ja jetzt besser. Was gab es sonst bei euch in dieser Woche?«
Krister fixierte seine Schwester. »Wie geht es dem Jungen mit der Anämie?«
»Du bekommst ein Eis von mir.«
»Wusste ich.«
Selbstgefälliges Arschloch. Schade, die Sache hätte eigentlich ganz witzig sein können.
Espen berichtete von einigen seiner Patienten und fragte nach ihrer Meinung, was die chronischen Bauchschmerzen eines jungen Mannes betraf. In der Runde überlegten sie nach möglichen Tests, die man noch durchführen könnte, schlugen potenzielle Diagnosen vor und verwarfen sie wieder. Beinahe vergaß Annik den unschönen Anfang der Besprechung. Gemeinsam nachzudenken, Lösungen zu finden, Gedankenpingpong zu spielen – das war etwas, das ihr wirklich lag. Und wenn sie lange genug nachdachten, würden sie etwas finden, das dem Patienten half. Allerdings gingen ihnen allmählich die Ideen aus. Kein Krankheitsbild schien wirklich zu stimmen. »So langsam weiß ich nichts mehr«, seufzte Espen schließlich.
»Bauchfellentzündung?«, fragte Krister.
»Dazu passen die Leukozytenwerte nicht«, sagte Annik, bevor sie merkte, wem sie gerade geantwortet hatte.
Kristers Blick traf ihren, zu Anniks Überraschung nicht unfreundlich. Er lächelte in sich hinein wie über einen Witz, den nur er verstand, schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf seinen Bruder, der Anniks Argument aufnahm. »Dafür geht es ihm auch zu gut.«
Letztlich machten sie eine Liste weiterer möglicher Tests, die Espen dem jungen Mann vorschlagen würde.
Annik hatte nicht viel zu berichten. Außer dem Katzenbissfall, den alle zur Genüge kannten, hatte sich nichts Spektakuläres ereignet. »Die Zusammenarbeit mit Hanne läuft jedenfalls sehr gut«, schloss sie ihren kurzen Vortrag.
»Apropos.« Espen sah vielsagend in die Runde. »Wir müssen schon wieder eine Stellenanzeige schreiben. Hanne ist schwanger.«