Elf
V
om Bootsanleger ging kein einfacher Weg zum Ferienhaus, sondern sie mussten mit ihrem Gepäck über in Jahrtausenden rund gewaschene Steinriesen klettern, an sonnenwarmen Felsvorsprüngen vorbei und an morastigen, kleinen Tümpeln, über denen Libellen tanzten. Wie riesig war dieses Grundstück bitte? Gerade als Annik fragen wollte, kam die »Hütte« in Sicht, ockergelb mit weißen Fensterrahmen. Sie stellte sich als schlichtes, aber voll ausgestattetes Ferienhaus mit vier Zimmern und einem großzügigen, offenen Wohnbereich samt Kamin heraus. Sogar ein Klavier stand in einer Ecke. Es roch nach Holz, Kiefernduft und Salzwasser. Annik konnte sich lebhaft vorstellen, wie Alva und ihre Brüder als Kinder hier ihre freien Tage verbracht hatten.
»Ist das schön!« Annik stellte ihre Tasche auf den blau-weißen Flickenteppich in dem Zimmer, das Theo und ihr zugedacht war, und drehte sich zu Alva um.
»Freut mich, dass es dir gefällt. Ich hab doch gesagt, wir haben genug Platz.«
Im Wohnbereich sprang Theo auf einem der breiten Sofas herum. Unsicher sah Annik Alva an. »Er ist manchmal ein bisschen wild. Falls er etwas tut, was er nicht soll …«
»Wände anmalen wäre blöd«, sagte Alva gelassen. »Und ich mag die alte, getöpferte Kaffeekanne, also wäre es gut, wenn die heil bliebe. Aber diese Sofas haben definitiv schon andere Dinge überstanden als kleine Bären, die auf ihnen herumspringen.«
Espen trat aus dem Zimmer neben ihrem. »Wollen wir gleich das Feuer fürs Picknick anzünden? Hanne und Tom sind sicherlich auch bald hier.«
Anniks Magen knurrte vernehmlich.
Espen lachte. »Ich schätze, das war die Antwort.«
Klappernd legte Alva Teller und Besteck in einen Korb. »Nimm Badesachen mit.«
Beladen mit einer Decke, Picknickkorb, Badesachen und allerhand Essen verließen sie schließlich das Haus. Verstohlen sah Annik sich nach Krister um. Kam er nicht mit? Doch statt danach zu fragen, erkundigte sie sich: »Müssen wir wieder ganz zum Steg runter?«
»Keine Sorge. Die Badebucht ist näher.«
Die Badebucht stellte sich als eine glatt gewaschene, sonnenbeschienene Senke in den Felsen heraus. Links und rechts davon erhoben sich die Granitbuckel wie uralte Elefanten. In der Mitte der Senke war Krister bereits dabei, Feuerholz aufeinanderzuschichten. Während Annik noch nach dem besten Weg hinunter suchte, sprang Theo hinter Alva und Espen her, für die es offensichtlich kein bisschen schwierig war, auf dieser schrägen Felsoberfläche sicheren Halt zu finden.
Espen drehte sich zu ihr um. »Dort geht es am einfachsten, da ist der Stein ein bisschen rauer.« Als sie fast bei ihm war, reichte er ihr die Hand, und sie sprang das letzte Stück hinunter.
Hatte sie es sich eingebildet, oder hatte Krister eben blitzschnell weggesehen?
Es spielte keine Rolle. Hier war es wunderschön, Theo war glücklich, und sie war es auch.
»Wer kommt mit ins Wasser?«, fragte Alva, noch bevor Annik sie erreicht hatte.
Theo hopste hoch und runter.
»Kannst du schwimmen?«
Er nickte, und Annik präzisierte: »Er hat das Seepferdchen. Was bedeutet, er kann sich eine Weile über Wasser halten. Im Schwimmbad.« Nicht im Meer. Nicht da, wo es allem Anschein nach gleich viele Meter in die Tiefe ging. Ihre gute Laune bekam einen empfindlichen Dämpfer. Warum hatte sie nicht an den Schwimmgürtel gedacht? Wenn Theo baden wollte, würde sie auch baden müssen. Allein ging ihr Kind hier nicht ins Wasser.
Vorsichtig trat sie an den Rand des Felsens. Das Wasser sah sehr, sehr einladend aus, klar und azurblau. Und man konnte einfach hineinspringen, sie stand gerade mal einen halben Meter über der Wasseroberfläche. Aber wie kam man wieder heraus? Wie sollte ein kleines Kind wie Theo das tun? Und was, wenn er auf irgendeinen Unterwasserstein sprang? Dies hier war das Meer, nicht das Nichtschwimmerbecken. Ihre Gedanken fingen an, sich unkontrolliert zu drehen. Mara nannte das ihren Helikoptermodus. Tja, dann helikopterte sie eben. Sie würde immer auf Theo aufpassen und ihn beschützen. Das war schließlich ihr Job als Mutter.
»Alles in Ordnung?«
Annik fuhr herum. Sie hatte Krister nicht näher kommen hören, der jetzt in knielangen Badeshorts und einem blauen, langärmligen UV
-Schutz-Shirt neben ihr stand. Sie fühlte ihre Ohren heiß werden, als sie sich bei einem Hauch des Bedauerns darüber ertappte, dass er so angezogen war. Doch gleich darauf wurde ihre Aufmerksamkeit wieder von Theo abgelenkt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er auf der Suche nach seinem Neopren-Shorty ihre Tasche ausräumte. »Warte noch, Theo!«, rief sie, bevor sie endlich Krister antwortete. »So gut kann Theo auch nicht schwimmen. Außerdem: Wie soll er überhaupt über diese Kante wieder rauskommen?«
»Wir sind vier Erwachsene, die auf ihn aufpassen können.«
»Trotzdem. Er ist so klein, und –«
Weiter kam sie nicht, denn Krister drehte sich so um, dass er mit dem Rücken zum Wasser stand, und ließ sich ohne ein weiteres Wort nach hinten kippen. Wasser spritzte hoch. Gleich darauf platschte es noch einmal. Espen war von einem der hohen Felsen gesprungen, und Alva lief an Annik vorbei und setzte mit einem eleganten Kopfsprung hinter ihren Brüdern her.
Durch das klare Wasser sah Annik, wie Krister sich unter der Oberfläche drehte und zurück zum Ufer geschwommen kam. Einen Meter neben ihr tauchte er an der Wasserkante auf, hielt sich an einer Spalte im Fels fest, trat offensichtlich auf eine Art Stufe und stieg aus dem Wasser wie auf einer Leiter. Gut, das beantwortete ihre Frage.
Theo zerrte an ihrem Ärmel, und Annik gab sich einen Ruck.
Wenige Minuten später stand sie, sich im Bikini unangenehm jeder Delle und jedes Dehnungsstreifens bewusst, wieder am Wasser. Sie musste vor Theo springen, damit sie ihn gegebenenfalls herausfischen konnte. Zwar glaubte sie Krister seine beruhigenden Worte tatsächlich, aber von den vier Erwachsenen war sie immer noch diejenige, die für Theo verantwortlich war. Leider wirkte das Fjordwasser unter ihr sehr viel bedrohlicher als Schwimmbadwasser bei einem Sprung vom Startklotz. Los jetzt, stell dich nicht an.
Annik ging ein paar Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang.
Es war wirklich ganz einfach, wieder auf den Felsen zu steigen, und nachdem Theo mehrmals ins Wasser gehüpft und danach wie selbstverständlich zum Ausstieg geschwommen war, entspannte sie sich. Espen kraulte vor der Insel hin und her, und Krister und Alva waren zum höchsten Punkt des Felsens gestiegen, der etwa fünf oder sechs Meter über der Wasseroberfläche lag. Aus ihrer Perspektive konnte Annik nicht sehen, wie die beiden anliefen, aber als sie synchron einen Salto schlugen und kopfüber eintauchten, wünschte sie sich, jemand hätte diese Schönheit fotografiert. Und sie wünschte sich zum zweiten Mal, Krister würde nicht dieses Oberteil tragen. Und es war vollkommener Blödsinn, das zu denken.
Es plätscherte neben ihr, Krister tauchte auf. »K---ommst du mit, runterspringen?« Die Sonne ließ die Tropfen in seinen Wimpern glitzern.
Sie konnte nicht von diesem Felsen springen. Sie würde sich blamieren. Hoffnungslos. Weil sie da oben stehen und versteinern würde. »Ich springe nicht mal vom Fünfmeterbrett«, gestand sie.
»Schade.« Damit schien die Sache für ihn erledigt, und er schwamm wieder auf den Ausstieg zu, während sie zähneklappernd im Wasser wartete, dass Theo ihr entgegengeflogen kam. Doch er kam nicht, sondern lief hinter Krister her.
»Theo!«
Statt ihr zu antworten, zupfte er an Kristers Shirt, deutete auf sich und dann auf den Felsen.
Oh, nein, mein Kleiner. Keine Chance. »Vergiss es, Theo!«, rief sie, kraulte, so schnell sie konnte, zur Ausstiegsstelle und stützte sich auf den Felsen.
Krister war vor Theo in die Hocke gegangen und sprach leise mit ihm; Theo stemmte die Arme in die Seiten und schüttelte den Kopf. Krister sagte noch etwas, dann klopfte er Theo kurz auf die Schulter, bevor er sich umsah – vermutlich nach ihr.
»Ich sagte, vergiss es. Du springst da nicht runter!« Sie stieß sich das Knie an, als sie aus dem Wasser krabbelte.
Krister richtete sich auf, während sie mit ein paar schnellen Schritten hinüberlief. Das nasse UV
-Shirt lag eng um seinen Körper und ließ jede Kontur klar erkennen. Was irgendwie sehr … beunruhigend war. Außerdem spiegelte die Farbe des Shirts das Blau in seinen Augen. Die Erkenntnis, dass sie offensichtlich gerade dabei war, sich ausgerechnet in Krister Solberg zu vergucken, ließ sie für einen Augenblick vergessen, warum sie so Hals über Kopf aus dem Wasser gekommen war. Für unendliche Sekunden stand sie einfach nur da und sah ihn an, diese unglaublichen Augen mit den dunklen Wimpern, und spürte dem nach, was zwischen ihnen passierte, während er ihren Blick erwiderte.
Es war … albern.
Oder?
Bis vor sehr kurzer Zeit hatte sie geglaubt, er wolle sie so schnell wie möglich zum Donnerdrummel schicken, und jetzt stand sie hier und starrte ihn an, als sei sie fünfzehn und er der hübsche Junge aus der Oberstufe? Dass sich jetzt wieder dieses beinahe scheue Lächeln auf sein Gesicht stahl, machte es nicht leichter, wegzusehen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Das Wesentliche hopste neben ihr auf und ab und knuffte sie gegen den Oberschenkel, als sie nicht reagierte. »Das tut mir weh, Theo«, sagte sie automatisch.
Er hörte auf zu boxen und hüpfte dafür zwischen Krister und sie. Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass er nicht so vieles körperlich ausdrücken müsste, wenn er nur reden würde. Gerade ging ihr das Gezappel auf die Nerven. Sie hob die Hand. »Pause, Theo. Warte einfach kurz.«
Maulig verzog er das Gesicht, gab sie aber frei und trollte sich.
»Puh.« Es rutschte ihr heraus, ohne dass sie darüber nachgedacht hätte. »Sorry.«
Krister öffnete den Mund, wie um etwas zu antworten, stieß ein kleines, komisch-verzweifeltes Lachen aus und schüttelte den Kopf.
»Hakt wieder?«
Er nickte, und aus irgendeinem Grund musste sie auf seine Lippen starren. Sie waren geschwungen und hoben sich klar vom Rest seines Gesichts ab.
»Kein Problem«, plapperte sie. »Ich hab Übung im Umgang mit Leuten, die nicht so viele Worte machen.«
Krister holte Luft. »D-du machst es ihm leicht.«
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber es war ganz bestimmt keine Einschätzung ihrer mütterlichen Fähigkeiten gewesen. »Was meinst du?«
»Sorry, es g-geht mich nichts an.«
»Stimmt. Aber ich will es dennoch hören.« Und dabei auf diese Lippen starren. Nimm dich zusammen, Frau Lerch!
Krister sammelte sichtlich seine Konzentration, dann sprach er, sehr bewusst. »Theo erinnert mich in vielem an mich, als ich klein war. Und auch meine Mutter hat mich ohne Worte verstanden. Aber dadurch musste ich eben auch nicht –«
»Mama!«
Am Rande ihres Blickfelds, ziemlich weit oben, bewegte sich etwas sehr schnell, ein Juchzen erklang, und dann sprang Theo in einem großen Bogen von dem Felsen. Beinahe im selben Augenblick, in dem er mit einer hohen Fontäne ins Wasser tauchte, platschte es ein zweites Mal, als Krister mit einem Kopfsprung ebenfalls ins Meer hechtete.
Scheiße, verfluchte! Während sie das noch dachte, rannten ihre Beine auch schon. Wie konnte sie hier kuhäugig herumstehen und nicht mitbekommen, was Theo tat?
Sie setzte zum Sprung an – und bremste sich im letzten Moment. Theo tauchte auf und schnappte nach Luft, ein seliges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Krister hielt sich wassertretend neben ihm, während Theo zur Ausstiegsstelle paddelte.
Auf einmal wurden Anniks Knie weich. Er hatte wieder »Mama« gesagt. Erst jetzt begriff sie, was sie gehört hatte, bevor Theo gesprungen war. Von dem Felsen, von dem sie ihm explizit verboten hatte zu springen, weil … weil … weil der Gedanke ihr verfluchte Angst machte, ihn auch noch zu verlieren. Doch er kletterte fröhlich aus dem Wasser, und sie zog ihn an sich, während sie sich hinsetzte. Erstaunlicherweise ließ er es geschehen, legte sogar die Arme um ihren Hals. Sie drückte seinen kleinen, nassen Körper an sich. »Mach das nicht noch mal, okay?«, flüsterte sie. »Du hast mich so erschreckt. Mach das bloß nicht noch mal.«
Hinter ihnen erklangen Johlen und Rufen.
Theo löste sich von ihr, um zu sehen, was los war.
»Warum nicht?«
»Was?« Annik zuckte zusammen. Krister war ebenfalls aus dem Wasser gekommen. Sie sollte ihn anschreien dafür, Theo diesen blöden Floh überhaupt erst ins Ohr gesetzt zu haben, aber so gut kannten sie sich noch nicht, und außerdem irritierte sie dieses … dieses Neue zwischen ihnen. Und seine Frage gleich noch dazu.
»Warum soll Theo nicht noch einmal springen?«
»Weil …« War das nicht offensichtlich?
»Hei hei!« Hanne und ihr Mann Tom kamen über den Felshügel, ihre Tochter Ella sprang ihnen voran und lief auf Theo zu, sobald sie ihn entdeckte. Es freute Annik zu sehen, dass Hanne sich offensichtlich mit ihrem Mann versöhnt hatte, die beiden hielten sich jedenfalls an den Händen, wie Flo und sie das zu Anfang ihrer Beziehung auch ab und zu getan hatten.
Doch Hanne ließ Tom gleich darauf los, um Annik zu umarmen. »Alva hat gesagt, dass ihr auch kommt. Das freut mich. Ella hat sich so auf Theo gefreut. Sie mag ihn am liebsten aus dem ganzen Kindergarten, sagt sie.«
Ella plauderte derweil munter norwegisch auf Theo ein.
Während Tom Annik die Hand schüttelte, warf Hanne Krister einen Luftkuss zu. »Sexy Shirt. Hast du Angst vor den paar Sonnenstrahlen?« Ihr so uncharakteristisch spitzer Tonfall erinnerte Annik an die kurze Missstimmung zwischen den beiden im Frontstage.
»Lass gut sein«, murmelte Tom.
Krister umfasste seinen Unterarm und klopfte ihm auf die Schulter, und Annik fragte sich unwillkürlich, wie lange die beiden sich schon kannten. Von Hanne wusste sie, dass sie bereits mit Alva die Grundschule besucht hatte. Ein kühler Windstoß fegte über den Fjord hinweg und ließ Annik frösteln. »Gut, dass ihr schon baden wart«, sagte Hanne. »Ella darf heute nicht ins Wasser, sie war gerade erkältet.«
Die Unterbrechung hatte Annik Zeit gegeben, sich zu sortieren. Theo hatte durch seinen Kamikazesprung keinen Schaden genommen, und genau genommen war Krister auch nicht schuld daran, sondern sie war es, die hätte aufpassen müssen. Krister war derjenige, der vernünftig reagiert und Theo abgesichert hatte.
Sie versorgte Theo mit einem Handtuch zum Abtrocknen und dachte daran, dass er wieder gesprochen hatte.
Sie grub seinen Bärenoverall unter den anderen Kleidern hervor und dachte daran, dass er wieder gesprochen hatte.
Sie zog sich um und dachte daran, dass er wieder gesprochen hatte. Sommerkleid, Cardigan. Die Badesachen breitete sie auf den Felsen zum Trocknen aus.
Für einen norwegischen Sommerabend war es erstaunlich warm. Alva und Espen hatten zusätzliche Decken und Kissen, Bier und Saft aus dem Haus geholt. Nun saßen und lagen sie alle um ein kleines, knisterndes Feuer, obwohl der Himmel noch hell war.
»Wir brauchen Stöcke«, erklärte Hanne und holte eine Schale mit Stockbrotteig aus ihrem Korb.
Nach allem, was Annik hier gesehen hatte, dürfte das mit den Stöcken nicht ganz einfach werden, aber Espen stand dennoch auf. »Wer kommt mit, Stöcke suchen?«
Kurz darauf machte er sich mit Theo und Ella auf den Weg.
Es dauerte einen Moment, bis Annik das Gefühl benennen konnte, das sich in ihr ausbreitete, während die drei gut gelaunt die Gegend absuchten: Entspannung. Obwohl Mara nicht dabei war, gab es hier andere Erwachsene, die ihr für ein paar wunderbare Minuten Theo abnahmen und es gern taten. Konnte es sein, dass sie in diesem fremden Land tatsächlich »ihre Leute« fand? Ihren Stamm, ihren Clan, wie immer man es nennen wollte?
Auch Tom lief davon und holte zu Anniks Verblüffung eine Gitarre. Kurz darauf kehrten die Stocksucher mit einige krummen, krüppeligen Exemplaren zurück. Angespitzt taugten diese dennoch, um damit Essen ans Feuer zu halten: Stockbrot, Marshmallows und von Tom selbst geangelten Seelachs.
Alva, die neben Annik saß, reichte ihr ein Bier. Krister prostete ihr von der anderen Seite des Feuers aus mit seinem Wasserglas zu. Tom improvisierte leichte, melancholische Melodien, und während Annik zusah, wie Theo und Ella mit verschmierten Fingern Brotteig um ihre Stöcke wickelten, dachte sie, dass dies vermutlich der beste Tag war, den sie seit Langem erlebt hatte. Trotz des Schrecks, als Theo gesprungen war.
Theo hatte wieder gesprochen.
Und Krister … Krister hatte unglaublich schöne Augen.
Sie legte sich zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. Rauch und Fünkchen stiegen in den Abendhimmel empor, wo sie sich auflösten und verglühten. Ella plapperte, Tom und Alva sangen im Duett norwegische Lieder, zu denen Espen ab und zu mitbrummte, der Fjord schwappte gegen den Felsen, am pastellblauen Himmel wagten sich die ersten Sterne hervor, und Annik spürte dem aufgeregten Glücksflattern in ihrem Inneren nach.
Unwillkürlich drehte sie den Kopf und schielte zu Krister hinüber. Er hockte auf der anderen Seite des Feuers, ein Knie angezogen, in Jeans und weißem Kapuzen-Longsleeve. Die tief über den Bergen am Horizont hängende Sonne verschärfte die Konturen seines Gesichts. Mit einem Stock stocherte er in den Flammen herum und schien mit den Gedanken sehr weit weg zu sein. War dieser Abend für ihn auch so besonders? Spürte er, dass zwischen ihnen etwas anders war als vorher, oder bildete sie sich das nur ein?
Was er auch dachte – als er ihren Blick bemerkte, sah er auf und lächelte.
Sie war so schön, mit ihren wind- und wassergezausten Haaren und diesem Leuchten in den Augen. Und so erstaunlich es war, sie schien sich tatsächlich nicht für Espen zu interessieren. Gut, dass er kein Geld darauf gewettet hatte.
Irgendwann hörten die anderen auf zu singen, nur Tom klimperte noch auf der Gitarre herum. Wie eine sanfte Decke lag die Musik über dem Abend. Annik hatte sich wieder aufgesetzt und sprach leise mit Alva. Hanne schwieg. Wie er betrachtete sie die Flammen. Einmal begegneten sich ihre Blicke, und Hanne schaltete so schnell ein Lächeln an, es war beinahe unheimlich. Er sollte ihr bei Gelegenheit sagen, dass er Toms Entscheidung in Ordnung fand, nicht mehr zu springen, dass er sie irgendwie sogar verstehen konnte, jetzt gerade an diesem Abend, an dem sich das Leben so unglaublich friedlich zeigte mit dem Plätschern des Fjords und den leiser werdenden Gesprächen am Feuer. Aber Hanne saß nicht neben ihm, und er würde das ganz bestimmt nicht an Espen und den beiden Kindern vorbeirufen, die zwischen ihnen saßen. Die Friedenspfeife mit Hanne musste warten.
Alva gähnte ausgiebig. »Ich werde hier gerade von Mücken aufgefressen, ihr auch? Und ich bin allmählich wirklich müde.«
»Ich auch.«
Als sei Hannes Zustimmung ein allgemeines Aufbruchssignal, rappelte Espen sich hoch und sammelte Kissen und Decken ein, Alva suchte Geschirr und Besteck zusammen. Tom spielte Yesterday
zu Ende, dann packte er die Gitarre ein und hob Ella auf seine Schultern. Hanne nahm ihren Korb und ihre Decke. Krister sah ihnen nach, als sie nebeneinander vor dem nachtblauen Himmel über die Felsen davongingen. Er teilte Toms Meinung nicht, aber ja, er verstand sie.
Das Feuer würde in der Felssenke einfach vor sich hinflackern, bis es irgendwann nur noch glomm und dann erlosch. Annik hatte sich hingehockt wie an der Marina, und dieses Mal sprang der Kleine auf ihren Rücken. Sie waren ein eingespieltes Team, die beiden. Aber inzwischen war die Sonne untergegangen, es war fast dunkel, und Annik kannte den Weg nicht.
Alva und Espen waren leichtfüßig vorangegangen, aber Annik bewegte sich sehr vorsichtig. Doch selbst in dem Tempo war nicht sicher, dass sie nicht umknickte oder abrutschte. War es aufdringlich, wenn er ihr anbot, Theo an ihrer Stelle zu tragen? »Wenn du Theo selbst laufen lässt, hast du die Hände frei, um dir Licht zu machen.« Genau, Solberg! Sag ihr am besten gleich, wie sie ihr Kind zu erziehen hat, Klugscheißer. Konnte nicht ein einziges Mal irgendetwas so herauskommen, wie er es sagen wollte?
Aber Annik antwortete nur: »Theo ist müde«, während sie behutsam mit dem Fuß auf dem unebenen Stein nach Halt tastete.
Das Problem war: So kam sie erstens nie an, und zweitens würde sie sich und dem Kind sämtliche Knochen brechen. Warum hatte er nicht daran gedacht, eine Taschenlampe einzustecken oder wenigstens sein Smartphone? »Hast du dein Telefon dabei?«
Sie hatte festen Tritt gefunden, die nächsten Meter waren einigermaßen eben. »Der Akku ist alle.«
Auch ohne Licht würden sie das hier hinbekommen, irgendwie. Er musste einfach nur nahe genug bei ihr bleiben, um sie rechtzeitig warnen – oder auffangen – zu können.
»Du brauchst dich nicht für mich verantwortlich zu fühlen.«
Wieso las sie seine Gedanken? »T---« Tu ich aber. Mit ein paar schnellen Sprüngen hatte er sie überholt. »Geh einfach hinter mir her.«
»Hab ich gerade gesagt, du brauchst dich nicht verantwortlich zu fühlen?« Das Lächeln in ihrer Stimme war unüberhörbar.
Er grinste. »V-vermieter-Service.«
»Dann kann ich wohl nicht ablehnen.«
An ihrem Atem hinter ihm erkannte er, dass es keine Kleinigkeit war, einen übermüdeten Fünfjährigen im Dunkeln über unbekanntes Terrain zu tragen. Mehrmals musste er ihr zeigen, wo sie hintreten konnte, und einmal, als der Weg über einen großen, kniehohen Felsblock führte, hinter dem man seitlich über die Schräge laufen musste, um nicht im Matsch zu landen, reichte er ihr seine Hand. Sie nahm sie ohne Verlegenheit, ohne zu zögern, und ließ sie wieder los, nachdem sie die schwierige Stelle bewältigt hatte. Wahrscheinlich hatte er sich geirrt, als er in ihren kleinen betrunkenen Kuss gestern Abend mehr hineininterpretiert hatte.
Im Ferienhaus trug sie Theo sofort in ihr Zimmer. Kommst du noch mal wieder?
schubste in seinem Kopf Lohnt es sich, hier zu warten?
beiseite, rumpelte gegen Wir könnten uns noch ein bisschen unterhalten
und wurde hysterisch kichernd übertönt von Unterhalten? Das sagt der Richtige.
Als er glaubte, endlich etwas Sinnvolles von sich geben zu können, hatte sie die Zimmertür schon geschlossen.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er wie bestellt und nicht abgeholt hinter Annik herblickte, während Alva, ein Geschirrtuch in der Hand, neben dem Spülbecken stand und ihn ansah. Ihr Lächeln hatte etwas von einer Katze, der noch ein halber Flügel zwischen den Eckzähnen hervorragte.
Er zog die Augenbrauen hoch. »Was?«
»Nichts, nichts.«
In der Kiste neben der Spüle fand er ein weiteres sauberes Geschirrtuch. Alva schwieg, während sie gemeinsam das Picknickgeschirr abtrockneten, aber ab und zu erwischte er sie dabei, wie sie vor sich hin grinste.
Sollte sie denken, was sie wollte. Ja, er mochte Annik. Ziemlich. Aber er hatte keine Ahnung, ob sie dasselbe empfand. Am Feuer und auch eben noch, während sie draußen den Weg ertasteten, hatte er darüber nachgedacht, ob sie ihn mögen könnte, aber hier im Lampenlicht wurden seine Sinne wieder klar. Nur weil er es tatsächlich geschafft hatte, ein paar nichtssagende Sätze mit ihr zu wechseln, bedeutete das nicht, dass zwischen ihnen irgendetwas grundlegend anders war als vorher. Dr. Frost war der Letzte, für den sich eine warmherzige Frau wie Annik interessieren würde. Er hängte das Geschirrtuch zum Trocknen über die Stange am Herd, um in sein Zimmer zu gehen und seine Schlafsachen zu holen.
»Jungs, das war ein sehr schöner Abend mit euch.« Alva streckte sie wohlig. »Wir sollten das öfter tun.«
»Finde ich auch«, ließ sich Espens Stimme hinter der Sofalehne vernehmen. Bis eben hatte Krister nicht einmal gemerkt, dass er dort lag und las. »Und es war auch eine schöne Idee, Annik einzuladen. Sie ist nett, und der Kleine ist lustig.«
Krister sagte nichts.
»Auch dass Hanne mit Anhang noch gekommen ist, war schön.«
»Finde ich auch.« Alva sank auf das zweite Sofa und zog die Füße unter sich. »Was ist denn das eigentlich mit Hanne und dir im Moment, Kris?«
Er sollte nicht schon wieder wie Falschgeld hier rumstehen, sondern einfach gehen. »Nichts.«
Von Espen war ein kleines Schnauben zu hören, und Krister fing einen tadelnden Blick auf, den Alva Espen zuwarf. Sie waren also mal wieder an ihrem üblichen Diskussionspunkt angelangt. Kein Tag ohne. Klar, sie konnten sich denken, dass er das Shirt nicht ohne Grund anbehalten hatte.
»Ich hole meine Sachen. Ich schlafe draußen.« Wo er die Glutreste betrachten und dem Wasser zuhören konnte. Und wo ein paar Momente lang alles in Ordnung gewesen war, als Annik und er sich angesehen hatten.
»Hanne scheint irgendwie ziemlich sauer auf dich zu sein«, bohrte Alva weiter.
»Bis eben war der Abend sehr schön.«
Sie hob den Kopf. »Entschuldige, Kris, ich weiß, dass du das nicht gern hörst, aber wir machen uns doch nur Gedanken.«
Manchmal dachte er, dass Alva sich einfach extrem gern anderer Leute Kopf zerbrach. Vielleicht brauchte sie noch ein paar Robbenbabys mehr. Oder endlich mal wieder einen Freund. Sie übersah gern, dass er erwachsen und durchaus in der Lage war, auf sich selbst aufzupassen.
Espens Hände erschienen auf der Sofalehne und gleich darauf auch die obere Hälfte seines Gesichts. »Was mich angeht, ich mache mir keine Sorgen, nur dass du es weißt. Ich bin bloß zu faul, über die Gästeliste bei deiner Beerdigung nachzudenken. Es wäre also nett, wenn du diese Dinge rechtzeitig regelst.«
»Stell ich dir beizeiten zusammen.«
Schon beim Zähneputzen war Theo im Halbschlaf gewesen, und als sie seinen schlafenden kleinen Körper aus dem Bärenoverall zog, zuckte er nicht mal mit den Augen. Sie deckte ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die weiche, nach Lagerfeuer und Marshmallows riechende Wange.
Kristers Worte fielen ihr ein. Normalerweise ärgerte sie sich, wenn ihr irgendjemand meinte erklären zu müssen, wie sie mit ihrem Sohn umzugehen hatte. Vor allem die grenzenlose Erfahrung von Kinderlosen fand sie immer ganz besonders »hilfreich«. Aber Krister und Theo … Wenn es in ihrem Umfeld jemanden gab, der sie auf Ideen bringen konnte, die sie wegen Theos Sprache noch nicht ausprobiert hatte, war es dann nicht Krister?
Sie war zu aufgekratzt, um sich ebenfalls schlafen zu legen. Aus dem Haus hörte sie leise Stimmen, Schritte, Geschirrklappern. Behutsam, um Theo nicht doch noch zu wecken, öffnete sie die Zimmertür und schlich hinaus.
Es waren nur Alva und Espen, die noch im Wohnzimmer unter den Lichtkegeln zweier Stehlampen lasen. Unschlüssig blieb Annik stehen.
»Setz dich gern noch zu uns«, sagte Alva, ohne aufzusehen.
»Nein, ich …« Die Idee war nicht unattraktiv, das Buch, das sie seit Wochen in Fünfminutenabschnitten zwischen Arbeit, Abwasch und Theo las, zu holen und sich damit in den freien Sessel zu kuscheln. Aber noch attraktiver war etwas anderes. »Ich wollte Krister was wegen Theo fragen.«
»Er ist zum Lagerfeuerplatz zurückgegangen.« Alva lächelte. »Auf der Anrichte steht eine Taschenlampe, falls du auch noch ein bisschen am Feuer sitzen möchtest. Wir sind hier, wenn dein Kleiner etwas braucht.«
Beim dritten Mal war der unebene Pfad zum Wasser schon beinahe vertraut. Hier war die Stelle, wo sie um ein Haar ausgerutscht wäre, über diesen Felsblock war Theo am Nachmittag geklettert, die raue Oberfläche dort bot sicheren Halt für ihre Füße. Ob Krister es aufdringlich finden würde, wenn sie ihn jetzt störte? Vielleicht hätte sie doch lieber bis zum nächsten Tag warten sollen … Doch für diese Überlegungen war es zu spät, denn hinter der nächsten Erhebung lag schon die Senke mit der Feuerstelle, und garantiert hatte er ihren Taschenlampenkegel, der unruhig durch die dämmrige Nacht wanderte, längst entdeckt.
Neben dem noch schwach vor sich hin glimmenden Feuer lag eine ausgerollte Isomatte mit einem Schlafsack, doch Krister saß, die Arme um die angezogenen Beine gelegt, ganz vorn an der Kante zum Wasser. Annik knipste die Taschenlampe aus.
»Danke.«
»Sorry, ich …« Still setzte sie sich neben ihn. Die Taschenlampe war nicht nötig. Als ihre Augen sich an das magere Licht gewöhnt hatten, stellte sie fest, dass es tatsächlich immer noch nicht ganz dunkel war. Auf jeden Fall hell genug, um zu sehen, dass Krister den Griff um seine Knie löste und einen Arm so aufstützte, dass er sich ihr zuwandte.
Was hatte sie ihn noch gleich fragen wollen? Warum war sie hier heruntergekommen?
Es war schwierig, sich daran zu erinnern, wenn er sie so ansah, so … so … Ihr Herz schlug lauter als das Wasserplätschern, lauter als die einsame Nachtigall, lauter als die Grillen. Er musste das hören. Er war so nah bei ihr. »Ich wollte nur –« Federleicht legte er ihr eine Hand auf den bloßen Unterarm. Es war kaum eine richtige Berührung, und doch stand ihre Haut unter Strom, wo seine Fingerspitzen lagen, und wurde kalt, als er sie wegnahm.
Immer noch konnte sie sich nicht von ihm abwenden, sondern musste ihn ansehen, die gerade, schmale Nase, die markanten Wangenknochen, die Lippen – Himmel, diese Lippen – und die Augen, deren Blick auf ihr ruhte. Langsam, beinahe ohne ihre bewusste Entscheidung, hob sie die Hand und legte ihm die Handfläche gegen die unrasierte Wange. Es kratzte an ihrem Ballen, als seine Wange gegen ihre Hand drückte, weil er lächelte, und dieses Kratzen sandte kleine elektrische Funken durch ihren ganzen Körper. Es war nicht einfach, trotz der Funken weiterzuatmen.
Er drehte den Kopf, ganz behutsam, und küsste ihre Handinnenfläche, sodass es fast nur aus Versehen gespitzte Lippen sein konnten. Fast.
Wie konnten zarte Berührungen an der Hand einen solchen Wirbelsturm in ihrem Inneren auslösen?
Seine Küsse wanderten über ihre Finger, hin zu ihren Fingerspitzen, wobei seine Unterlippe weich wurde, sodass sein Mund bei dem letzten Kuss beinahe die Kuppe ihres Mittelfingers umschloss, bevor sie die Hand sinken ließ, um sich zu ihm zu beugen. War es Verwunderung, was sie in seinen Augen las? Sie brachte ihre Lippen sehr nah an seine und flüsterte: »Weißt du, was jetzt schön wäre?«
Seine Antwort war nur ein Hauch, der ihre Oberlippe streifte und dazu führte, dass ihr Atem zittrig wurde. Krister roch nach Fjord, Salz, Sommer und … Verlangen. Sie kam nicht dazu, ihm zu sagen, dass es schön wäre, wenn er sie küssen würde, denn er umfasste ihren Nacken und zog sie zu sich.
Weich waren seine Lippen auf ihren. Weich und fest und fordernd und fragend und so unglaublich köstlich, dass sie die Augen schließen musste, um alles genau spüren zu können. Wie seine Zungenspitze zart über ihre Unterlippe glitt, wie sich ihre Lippen Millimeter voneinander lösten, um sich gleich darauf wiederzufinden. Wie muskulös und glatt sich die Haut hinter seiner Oberlippe anfühlte, als sie mit der Zunge daran entlangfuhr. Die einzigen Geräusche hier waren das stetige Schwappen des Fjords an den Stein und ihre Lippen, die sich trafen, wieder und wieder und wieder.
Seine Hand stützte ihren Kopf, als sie nach hinten auf den glatten, noch warmen Stein sank. Sie legte die Handfläche auf seinen Brustkorb und spürte durch das dünne Kapuzenshirt hindurch seine festen Brustmuskeln, seine Wärme, seinen Herzschlag. Dann beugte er sich über sie, um sie erneut zu küssen.
Annik verlor jedes Zeitgefühl. Sie wusste nur, dass Krister irgendwann seine Isomatte holte, dass sie darauf umzogen, dass es kühl und fast ganz dunkel wurde und er den Schlafsack über ihnen ausbreitete. Und dass sie berauscht war von diesem verwirrenden Glück, das in ihr aufbrandete, als sie Kristers Lippen wieder auf ihren spürte.