E
in Verständnis für Wahrhaftigkeit ist unverzichtbar für Erfolg, und radikale Transparenz in Bezug auf alles, einschließlich Fehlern und Schwächen, hilft bei der Erlangung dieses Verständnisses, welches Verbesserungen ermöglicht. Das ist nicht nur eine Theorie. Bei Bridgewater haben wir dieses Konzept mehr als 40 Jahre lang in die Praxis umgesetzt, also wissen wir, wie es funktioniert. Doch wie die meisten Dinge im Leben haben auch radikale Wahrhaftigkeit und radikale Transparenz Vorteile ebenso wie Nachteile; beides möchte ich in diesem Kapitel so genau wie möglich beschreiben.
Radikal wahrhaftig und transparent gegenüber Ihren Kollegen zu sein und von diesen das Gleiche zu erwarten, sorgt dafür, dass wichtige Themen erkennbar statt verborgen sind. Außerdem setzen sich so gutes Verhalten und gutes Denken durch, denn wenn Sie sich selbst erklären müssen, kann jeder offen die Nachvollziehbarkeit Ihrer Logik einschätzen. Wenn Sie das Richtige tun, wird das durch radikale Transparenz klar, und wenn Sie weniger gut sind, wird radikale Transparenz auch das zeigen. Also unterstützt radikale Transparenz die Einhaltung hoher Standards.
Radikale Wahrhaftigkeit und radikale Transparenz sind grundlegend für eine echte Ideen-Meritokratie. Je mehr die Leute sehen können, was passiert – Gutes, Schlechtes und Hässliches –, desto effektiver werden sie darin, die richtigen Methoden für den Umgang damit zu bestimmen. Auch für Trainings und Schulungen ist dieser Ansatz von unschätzbarem Wert: Wenn jeder Gelegenheit hat, zu hören, was alle anderen denken, wird das Lernen beschleunigt und exponentiell vergrößert. Als Führungskraft ist Feedback entscheidend dafür, dass Sie lernen und die Regeln der Organisation zur Entscheidungsfindung kontinuierlich verbessern können. Und aus erster Hand zu sehen, was sich abspielt und warum, sorgt für Vertrauen und gibt den Menschen die Möglichkeit, unabhängige Einschätzungen der Fakten vorzunehmen, wie es bei einer funktionierenden Ideen-Meritokratie erforderlich ist.
ANPASSEN AN RADIKALE WAHRHAFTIGKEIT UND RADIKALE TRANSPARENZ
Man muss sich erst einmal daran gewöhnen. Fast jeder, der neu zu Bridgewater kommt, glaubt intellektuell, dass radikale Wahrhaftigkeit und radikale Transparenz genau das ist, was er will; immerhin hat er diesen Punkt nach sorgfältiger Überlegung in seinem Vertrag unterschrieben. Trotzdem tun sich die meisten mit der Anpassung daran schwer, weil sie mit ihren »zwei Ichs« zu kämpfen haben, die ich im Kapitel »Verstehen, dass Menschen unterschiedlich verschaltet sind« erklärt habe. Während das »Ich der höheren Ebene« die Vorteile erkennt, neigt das »Ich der niedrigeren Ebene« dazu, mit einer Kampf-oder-Flucht-Haltung zu reagieren. Die Anpassung dauert meistens ungefähr 18 Monate, wobei dies von Person zu Person unterschiedlich ist, und es gibt auch Menschen, die sich nie erfolgreich anpassen können.
Manchmal höre ich, so vorzugehen, passe nicht zur menschlichen Natur – Menschen müssten vor harten Wahrheiten geschützt werden, und ein solches System könne in der Praxis niemals funktionieren. Unsere Erfahrung – und unser Erfolg – hat das Gegenteil bewiesen. Zwar stimmt es, dass unsere Vorgehensweise nicht das ist, was die meisten Menschen gewohnt sind. Aber das macht sie nicht unnatürlich, jedenfalls nicht unnatürlicher als die anstrengenden Übungen, die Sportler und Soldaten absolvieren. Es ist ein Grundgesetz der Natur, dass man nur durch Anstrengung stärker wird. Unsere Ideen-Meritokratie ist zwar nicht für jeden geeignet, doch für diejenigen, die sich an sie anpassen, und das sind immerhin zwei Drittel von allen, die es versuchen, ist sie so befreiend und effektiv, dass sie sich kaum noch etwas anderes vorstellen können. Was den meisten Leuten am besten gefällt, ist das Wissen, dass es keine Verdrehungen gibt.
RADIKALE WAHRHAFTIGKEIT UND TRANSPARENZ IN DER PRAXIS
Um Ihnen eine Vorstellung von radikaler Wahrhaftigkeit und Transparenz geben, möchte ich Ihnen von einer schwierigen Situation berichten, in der wir uns vor einigen Jahren befanden; damals dachte unser Management Committee darüber nach, unser
Backoffice umzuorganisieren. Unser Backoffice ist für die Dienste zuständig, die wir als Unterstützung für unseren Handel an den Märkten benötigen, unter anderem Handelsbestätigungen, Abrechnungen, Dokumentation und Buchhaltung. Wir hatten das Team über viele Jahre aufgebaut, und es bestand aus hart arbeitenden, eng miteinander verbundenen Mitarbeitern, die Teil unserer erweiterten Familie waren. Doch zu dieser Zeit erkannten wir einen Bedarf an neuen Fähigkeiten, die über das hinausgingen, was wir intern leisten konnten. Also entwickelte unsere COO Eileen Murray eine innovative Strategie dafür, dieses Team auszulagern und in eine spezielle Gruppe innerhalb der Bank of New York/Mellon zu integrieren. Anfangs war das nur ein Erkundungsgespräch. Wir hatten keine Ahnung, ob wir das Konzept weiterverfolgen würden oder was es letztlich für die Mitglieder unseres Backoffice-Teams bedeuten würde.
Versetzen Sie sich in die Lage des Management Committee. Wann würden Sie dem Team im Backoffice mitteilen, dass Sie darüber nachdenken, es in ein anderes Unternehmen zu verlagern? Würden Sie warten, bis das Bild klarer ist? In den meisten Organisationen würden derartige strategische Entscheidungen geheim gehalten, bis sie final gefallen sind, weil die meisten Chefs glauben, dass es schlecht ist, Unsicherheit unter den Beschäftigten zu erzeugen. Wir sind vom Gegenteil überzeugt: dass der einzig vernünftige Weg darin liegt, ehrlich und transparent vorzugehen, damit die Leute wissen, was wirklich geschieht, und dabei helfen können, jegliche auftretenden Probleme zu lösen. In diesem Fall berief Eileen sofort eine Versammlung mit dem gesamten Backoffice-Team ein. Auf eine für Bridgewater-Führungskräfte typische Weise erklärte sie, dass es vieles gebe, was sie nicht wisse, und viele Fragen, die sie nicht beantworten könne. Dies war die harte Realität in diesem Moment. Sie führte zwar zu Unsicherheit, doch wenn Eileen nach dem traditionellen Ansatz weniger offen gewesen wäre, hätten die unvermeidlichen Gerüchte und Spekulationen alles viel schlimmer gemacht.
Zwar wurde das Team letztlich tatsächlich ausgelagert, doch wir unterhalten nach wie vor wundervolle Beziehungen zu seinen
Mitgliedern darin. Nicht nur haben sie in der Übergangsphase uneingeschränkt kooperiert, sie kommen auch immer noch zu unseren Partys, die wir zu Weihnachten und zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli veranstalten, und sie sind weiterhin Teil unserer erweiterten Familie. Heute haben wir ein ausgezeichnetes Backoffice, weil uns die Umstellung ein innovatives Vorgehen erlaubte. Und am wichtigsten: Weil wir schon offen mit dem Thema umgingen, als wir noch keine festen Pläne gefasst hatten, wurde das Vertrauen des Backoffice-Teams in unsere Ehrlichkeit und unseren Respekt ihm gegenüber gestärkt, was wir in gleicher Münze zurückgezahlt bekamen.
Menschen nicht mitzuteilen, was sich wirklich abspielt, um sie vor des Lebens Unbill zu schützen, ist für mich das Gleiche, wie die eigenen Kinder im Glauben an die Zahnfee oder den Weihnachtsmann erwachsen werden zu lassen. Die Wahrheit zu verbergen, kann Menschen kurzfristig vielleicht glücklicher machen, aber es wird nicht dazu führen, dass sie langfristig klüger sind oder mehr Vertrauen haben. Dass unsere Mitarbeiter wissen, dass sie auf unsere Aussagen bauen können, ist ein echter Pluspunkt. Aus diesem Grund glaube ich, dass es fast immer besser ist, direkt zu sein, selbst wenn man nicht alle Antworten hat oder wenn schlechte Nachrichten zu überbringen sind. Wie Winston Churchill sagte: »In der Führung gibt es keinen schlimmeren Fluch als falsche Hoffnungen, die bald weggefegt werden.« Menschen müssen sich den harten und unsicheren Realitäten stellen, wenn sie lernen sollen, wie sie damit umgehen können – und Sie werden viel über die Menschen in Ihrem Umfeld lernen, wenn Sie beobachten, wie sie sich dabei machen.
1.1
Erkennen, dass Sie von der Wahrheit nichts zu befürchten haben
Wenn Sie wie die meisten Menschen sind, ängstigt sie die Vorstellung, der ungeschminkten Wahrheit ins Auge zu blicken. Um das zu überwinden, müssen Sie intellektuell verstehen, warum
Unwahrheiten beängstigender sind als Wahrheiten, und sich dann durch Übung daran gewöhnen, mit ihnen zu leben.
Wenn Sie krank sind, ist es ganz natürlich, dass Sie Angst vor der Diagnose Ihres Arztes haben – was, wenn es Krebs oder eine andere tödliche Krankheit ist? Doch unabhängig davon, als wie erschreckend sich die Wahrheit herausstellt: Langfristig ist es für Sie besser, wenn Sie sie kennen, weil Sie dadurch die Chance haben, nach der angemessensten Behandlung zu suchen. Dasselbe gilt für das Lernen von schmerzhaften Wahrheiten über Ihre eigenen Stärken und Schwächen. Die Wahrheit zu kennen und auf ihrer Grundlage zu handeln, ist das, was wir bei Bridgewater als den »Big Deal« bezeichnen. Es ist wichtig, sich nicht von all den »kleinen Deals« voller Emotionen und Egos aufhalten zu lassen, die Sie von der Gesamtmission ablenken können.
1.2
Integrität haben und von anderen verlangen
Das Wort Integrität kommt von lateinisch integritas
, das »Vollständigkeit« oder »Unversehrtheit« bedeutet. Menschen, die äußerlich ganz anders als innerlich sind, mangelt es an Integrität; stattdessen zeichnen sie sich durch »Dualität« aus. Zwar kann es in einem bestimmten Moment einfacher sein (weil Sie einen Konflikt oder eine Peinlichkeit vermeiden oder ein anderes kurzfristiges Ziel erreichen können), die eigene Ansicht anders zu präsentieren, als sie wirklich ist. Doch die Auswirkungen zweiter und dritter Ordnung, wenn man Integrität besitzt und Dualität vermeidet, sind immens. Menschen, die äußerlich ganz anders als innerlich sind, geraten in Konflikte und verlieren oft den Bezug zu ihren eigenen Werten. Es ist schwierig für sie, glücklich zu sein, und fast unmöglich, so gut zu sein, wie sie könnten.
Wenn Sie in Übereinstimmung bringen, was Sie sagen und was Sie denken sowie was Sie denken und was Sie fühlen, werden Sie viel glücklicher und viel erfolgreicher sein. Nur darüber nachzudenken, was zutrifft, statt sich Gedanken darüber zu machen, wie es
wahrgenommen wird, sorgt dafür, dass Sie sich auf die wichtigsten Dinge konzentrieren. Es hilft Ihnen dabei, Menschen und Umfelder zu unterscheiden, denn Sie werden zu Menschen und Umfeldern tendieren, die offen und ehrlich sind. Außerdem ist es fairer gegenüber Ihrem Umfeld: Urteile über Menschen zu treffen und sie sozusagen im eigenen Kopf anzuklagen und gleich zu verurteilen, ohne sie nach ihrer Perspektive zu fragen, ist so unmoralisch wie unproduktiv. Wenn niemand etwas zu verbergen hat, führt das zu weniger Stress und lässt Vertrauen entstehen.
a.
Niemals etwas über jemanden sagen, das Sie ihm nicht direkt sagen würden, und Vorwürfe nur direkt gegenüber den Betroffenen machen.
Kritik ist bei Bridgewater willkommen und wird gefördert, aber es gibt nie einen guten Grund dafür, hinter dem Rücken schlecht über jemanden zu sprechen. Das ist kontraproduktiv und zeigt einen schweren Mangel an Integrität, es führt zu keinerlei vorteilhaften Veränderungen, und es untergräbt sowohl die Person, über die gesprochen wird, als auch das Umfeld als Ganzes. Neben Unehrlichkeit ist dies das Zweitschlimmste in unserer Gemeinschaft.
Manager sollten nicht über Menschen sprechen, die für sie arbeiten, wenn diese Menschen nicht im Raum sind. Wenn jemand bei einem Meeting nicht anwesend ist, bei dem etwas Relevantes, das ihn betrifft, besprochen wird, sorgen wir stets dafür, dass er ein Protokoll des Meetings und andere relevante Informationen erhält.
b.
Loyalität nicht der Wahrheit und dem Wohlergehen der Organisation im Weg stehen lassen.
In manchen Unternehmen vertuschen Beschäftigte die Fehler ihrer Arbeitgeber, und die Arbeitgeber tun im Gegenzug das Gleiche. Das ist ungesund und steht Verbesserungen im Weg. Denn es hält Menschen davon ab, ihre Fehler und Schwächen ans Tageslicht zu bringen, es fördert Täuschung, und es nimmt Untergebenen ihr Recht, zu widersprechen.
Dasselbe gilt für die Vorstellung von persönlicher Loyalität. Ich habe mehrmals gesehen, wie Leute aufgrund ihrer persönlichen Beziehung zu ihren Chefs Jobs behielten, die sie nicht verdient
hatten; dies führte dazu, dass skrupellose Manager mithilfe von persönlichen Loyalitäten eigene »Fürstentümer« aufbauten. Die eine Person nach einem anderen Satz von Regeln zu beurteilen als eine andere, ist eine hinterlistige Art der Korruption, die Meritokratie untergräbt.
Ich glaube an eine gesündere Form der Loyalität auf der Grundlage einer offenen Erkundung der Wahrheit. Explizites, prinzipiengeleitetes Denken und radikale Transparenz sind die besten Gegenmittel gegen eigennütziges Verhalten. Wenn für jeden dieselben Prinzipien gelten und die Entscheidungsfindung öffentlich erfolgt, wird es schwierig, eigene Interessen zu Ungunsten der Organisation zu verfolgen. In einem solchen Umfeld werden diejenigen am meisten bewundert, die sich ihren Herausforderungen stellen. Wenn Fehler und Schwächen versteckt werden, wird stattdessen ein ungesunder Charakter belohnt.
1.3
Ein Umfeld schaffen, in dem jeder das Recht hat, zu verstehen, was sinnvoll ist, und niemand das Recht, eine kritische Meinung zu haben, ohne sie zu äußern
Ob Menschen über genügend Unabhängigkeit und Persönlichkeit verfügen, um für die besten Antworten zu kämpfen, hängt von ihrer Natur ab. Aber Sie können sie ermutigen, indem Sie eine Atmosphäre schaffen, in der jedem als Erstes die Frage »Ist das wahr?« in den Sinn kommt.
a.
Darüber sprechen, Verantwortung übernehmen oder verschwinden.
In einer Ideen-Meritokratie ist Offenheit eine Pflicht. Man hat nicht nur das Privileg, sich zu äußern und für die eigene Ansicht zu kämpfen, sondern ist dazu verpflichtet. Dies gilt insbesondere für Prinzipien. So wie alles andere müssen auch sie infrage gestellt und diskutiert werden. Nicht zulässig aber ist es, sich im Privaten zu beschweren und zu kritisieren – ob gegenüber anderen oder im eigenen Kopf. Wenn Sie diese Verpflichtung nicht
erfüllen können, müssen Sie gehen.
Natürlich ist eine aufgeschlossene Beschäftigung mit der Frage, was wahr ist, nicht das Gleiche wie stures Beharren darauf, ganz allein recht zu haben, selbst nachdem die Maschine zur Entscheidungsfindung ein Thema geklärt und sich anderen Dingen zugewandt hat. Es wird unweigerlich Fälle geben, bei denen Sie einer Vorgabe oder Entscheidung folgen müssen, mit der Sie nicht einverstanden sind.
b.
Extrem offen sein.
Sprechen Sie über Ihre Themen, bis Sie mit Ihrem Gesprächspartner synchronisiert sind oder bis Sie die Positionen des jeweils anderen verstehen und beschließen können, was zu tun ist. Wie jemand, mit dem ich zusammengearbeitet habe, es einmal erklärt hat: »Es ist ganz einfach, man darf nur nicht filtern.«
c.
Nicht naiv in Bezug auf Unehrlichkeit sein.
Menschen lügen mehr, als die meisten glauben. Ich habe das gelernt, weil ich in der Position war, für jeden im Unternehmen verantwortlich zu sein. Zwar haben wir eine außergewöhnlich moralische Gruppe von Menschen, aber in jeder Organisation gibt es unehrliche Personen, mit denen in der Praxis umgegangen werden muss. Zum Beispiel sollte man den meisten Menschen nicht glauben, wenn sie bei einer Unehrlichkeit erwischt werden und versichern, sie hätten begriffen und würden so etwas nie wieder tun, denn wahrscheinlich werden sie es doch wieder tun. Unehrliche Menschen sind gefährlich, also ist es nicht ratsam, sie in seinem Umfeld zu behalten.
Gleichzeitig muss man pragmatisch sein. Wenn ich versuchen würde, meine Beziehungen auf Menschen zu begrenzen, die noch nie gelogen haben, hätte ich niemanden mehr, mit dem ich arbeiten könnte. Ich habe zwar in Bezug auf Integrität extrem hohe Standards, aber ich gehe dabei nicht nach dem Prinzip Schwarz-Weiß oder »Ein Fehler und du bist raus!« vor. Ich sehe mir den Schweregrad, die Umstände und die Muster an, um herauszufinden, ob ich es mit einer Person zu tun habe, die ein gewohnheitsmäßiger Lügner ist und mich erneut anlügen wird, oder mit einer Person, die fundamental ehrlich, aber nicht perfekt ist. Ich betrachte das
Ausmaß der Unehrlichkeit selbst (Hat die Person ein Stück Kuchen gemopst oder eine Straftat begangen?) ebenso wie den Charakter unserer bestehenden Beziehung (Wird mir eine Lüge von meiner Partnerin, einer flüchtigen Bekanntschaft oder einem Mitarbeiter aufgetischt?). Solche Fälle unterschiedlich zu behandeln, ist angemessen. Denn ein grundlegendes Gesetz der Gerechtigkeit lautet, dass sich die Bestrafung nach dem Verbrechen richten sollte.
1.4
Radikal transparent sein
Wenn Sie zustimmen, dass eine echte Ideen-Meritokratie eine extrem mächtige Sache ist, sollte es kein großer Sprung mehr für Sie sein, die Konsequenz daraus zu erkennen. Es ist besser, Menschen das Recht zu geben, sich die Dinge selbst anzusehen, als sie zu zwingen, sich auf Informationen zu verlassen, die von anderen für sie verarbeitet wurden. Radikale Transparenz bringt Themen an die Oberfläche; am wichtigsten (und wenigsten bequem) dabei sind die Probleme, mit denen Menschen zu tun haben, und wie sie damit umgehen. Und sie bietet der Organisation die Möglichkeit, von den Talenten und Erkenntnissen aller ihrer Mitglieder zu profitieren, um Probleme zu lösen. Letztlich ist das Leben in einer Kultur der radikalen Transparenz für Menschen, die sich daran gewöhnen können, bequemer als das Leben in einem Nebel des Nichtwissens darüber, was geschieht und was die anderen Leute wirklich denken. Und es ist unglaublich effektiv. Aber um es ganz deutlich zu machen: Wie die meisten tollen Sachen hat auch diese ihre Nachteile. Der größte liegt darin, dass es für die meisten Menschen anfangs sehr schwierig ist, mit unbequemen Wahrheiten umzugehen. Wenn man nichts dagegen tut, kann es passieren, dass Personen sich in mehr Themen involvieren lassen, als sie sollten, und dass Personen, die nicht in der Lage sind, alle Informationen abzuwägen, die falschen Schlussfolgerungen ziehen.
Wenn man zum Beispiel alle Probleme einer Organisation ans Tageslicht bringt und jedes davon als nicht akzeptabel betrachtet, könnten manche Leute zu dem falschen Schluss kommen, dass ihre Organisation mehr nicht akzeptable Probleme hat als eine andere
Organisation, in der die Probleme unter den Teppich gekehrt werden. Doch welche der Organisationen dürfte eher Erstklassigkeit erreichen? Diejenige, die ihre Probleme herausstellt und als nicht akzeptabel betrachtet, oder diejenige, die das nicht tut?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Radikale Transparenz ist nicht das Gleiche wie totale Transparenz. Sie bedeutet lediglich deutlich mehr Transparenz, als üblich ist. Auch wir halten manche Dinge vertraulich, beispielsweise private Gesundheitsangelegenheiten oder zutiefst persönliche Probleme, sensible Details über geistiges Eigentum oder Sicherheitsthemen, das Timing für bedeutende Transaktionen und zumindest vorübergehend Angelegenheiten, die mit hoher Wahrscheinlichkeit verzerrt, reißerisch dargestellt und auf schädliche Weise missverstanden werden, wenn sie an die Öffentlichkeit und die Presse geraten. Die folgenden Prinzipien werden Ihnen eine gute Erklärung dazu geben, wann und warum wir es für hilfreich hielten, transparent zu sein, und wann nicht.
Als ich damit begann, so radikal transparent zu sein, hatte ich offen gestanden keine Ahnung, wie das laufen würde. Ich wusste nur, dass radikale Transparenz unglaublich wichtig sein würde und dass ich heftig kämpfen und Möglichkeiten zu ihrer Realisierung finden musste. Ich trieb Grenzen weiter und war überrascht davon, wie gut das funktionierte. Als ich zum Beispiel anfing, alle unsere Meetings aufzuzeichnen, sagten unsere Rechtsanwälte, wir seien verrückt, weil wir so Beweise schaffen würden, die vor Gericht oder von Aufsichtsbehörden wie der US-Börsenaufsicht SEC gegen uns verwendet werden könnten. Meine Antwort darauf war die Theorie, dass radikale Transparenz das Risiko verringern würde, dass wir irgendetwas Falsches tun und nicht angemessen mit unseren Fehlern umgehen – dass die Aufzeichnungen uns also in Wirklichkeit schützen würden. Wenn wir richtig vorgingen, würde unsere Transparenz das klar erkennbar machen (natürlich vorausgesetzt, dass alle Parteien vernünftig sind, was man nicht immer voraussetzen kann), und wenn wir nicht richtig vorgingen, würde unsere Transparenz dafür sorgen, dass wir bekommen, was wir verdienen – was langfristig gesehen ebenfalls gut für uns wäre.
Ich wusste es damals nicht sicher, aber unsere Erfahrung hat
diese Theorie immer wieder als richtig bestätigt. Bridgewater hat ungewöhnlich wenige juristische oder regulatorische Auseinandersetzungen gehabt, hauptsächlich aufgrund unserer radikalen Transparenz. Der Grund dafür ist, dass radikale Transparenz schlechte Handlungen erschwert; gleichzeitig macht sie es einfacher, die Wahrheit herauszufinden und Behauptungen zu überprüfen. Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte gab es nicht eine einzige bedeutende gerichtliche oder regulatorische Entscheidung gegen uns.
Natürlich wächst die Aufmerksamkeit der Medien, wenn man größer und erfolgreicher wird, und Reporter wissen, dass schlüpfrige und kontroverse Geschichten mehr Publikum anlocken als ausgewogene. Bridgewater ist besonders anfällig für diese Art der Berichterstattung, weil wir anfällig für Informationslecks sind, wenn wir getreu unserer Kultur Probleme ans Tageslicht holen und sie transparent im ganzen Unternehmen teilen. Wäre es also besser, nicht transparent zu sein und damit solche Probleme zu vermeiden?
Ich habe gelernt, dass die Menschen, auf deren Meinung es am stärksten ankommt, diejenigen sind, die uns am besten kennen – das sind unsere Kunden und Mitarbeiter, und bei ihnen kommt uns unsere radikale Transparenz zugute. Nicht nur hat sie dazu geführt, dass wir bessere Ergebnisse produzieren, sie führt auch zu Vertrauen bei unseren Mitarbeitern und Kunden, sodass falsche Darstellungen in den Medien an ihnen abprallen. Wenn wir mit ihnen über derartige Situationen sprechen, sagen sie, dass es ihnen viel mehr Angst machen würde, wenn wir nicht transparent operieren würden.
So viel Verständnis und Unterstützung dafür zu haben, das Richtige zu tun, ist von unschätzbarem Wert gewesen. Aber wir hätten von diesen großen Belohnungen nie auch nur erfahren, wenn wir nicht so beharrlich die Grenzen dieser Wahrhaftigkeit und Transparenz vorangetrieben hätten.
a.
Mithilfe von Transparenz für mehr Gerechtigkeit sorgen.
Wenn jeder die Diskussion verfolgen kann, die einer Entscheidung vorangeht, entweder in Echtzeit persönlich oder über Aufzeichnungen und E-Mails, kann mehr Gerechtigkeit herrschen. Jeder ist für sein Denken und seine Ansichten verantwortlich, und
jeder kann sich dazu äußern, wer gemäß den gemeinsamen Prinzipien was tun sollte. Ohne einen solchen transparenten Prozess würden Entscheidungen hinter verschlossenen Türen fallen, durch Personen, die genügend Macht haben, um zu tun, was sie wollen. Mit Transparenz wird jeder an denselben hohen Standards gemessen.
b.
Das teilen, was am schwierigsten zu teilen ist.
Es kann verführerisch sein, Transparenz auf die Angelegenheiten zu beschränken, die Ihnen nicht wehtun können. Doch es ist besonders wichtig, das zu teilen, was am schwierigsten zu teilen ist, denn wenn Sie das nicht tun, verlieren Sie das Vertrauen und die Partnerschaft der Menschen, denen Sie die Informationen vorenthalten. Wenn Sie also vor der Entscheidung stehen, die schwierigsten Angelegenheiten zu teilen, sollte die Frage nicht lauten, ob Sie das tun, sondern wie. Die folgenden Prinzipien werden Ihnen dabei helfen, es richtig zu machen.
c.
Nur sehr selten Ausnahmen zu radikaler Transparenz zulassen.
Ich hätte zwar gern fast vollständige Transparenz und wünschte, jeder würde mit den Informationen, auf die er Zugriff hat, verantwortungsvoll umgehen und sie nutzen, um herauszuarbeiten, was wahr ist und was deswegen zu tun ist. Doch mir ist klar, dass dies ein Ideal ist, dem man sich annähern, aber das man nie erreichen kann. Es gibt Ausnahmen zu jeder Regel, und in sehr seltenen Fällen ist es besser, nicht radikal transparent zu sein. In diesen Fällen werden Sie einen Weg finden müssen, der die Kultur der radikalen Transparenz bewahrt, ohne dass Sie sich und die Menschen, die Ihnen am Herzen liegen, unnötigen Risiken aussetzen.
Wenn Sie über eine Ausnahme nachdenken, gehen Sie es an wie eine Berechnung des Erwartungswerts, bei der Sie auch Auswirkungen zweiter und dritter Ordnung berücksichtigen. Fragen Sie sich selbst, ob die Kosten, wenn Sie den Fall transparent machen und mit den Risiken dieser Transparenz umgehen müssen, die Vorteile überwiegen. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle wird das nicht so sein. Wie ich festgestellt habe, sind die häufigsten Gründe für eine Begrenzung der allgemeinen Transparenz die folgenden:
-
Wenn Informationen privater, persönlicher oder vertraulicher Natur sind und keine bedeutenden Auswirkungen auf die Gemeinschaft insgesamt haben.
-
Wenn das Teilen und Verwalten der Informationen die langfristigen Interessen der Bridgewater-Gemeinschaft, ihre Kunden und unsere Fähigkeit gefährdet, unsere Prinzipien aufrechtzuerhalten (beispielsweise bei unserer proprietären Anlagelogik oder einem Rechtsstreit).
-
Wenn der Wert des Teilens der Informationen mit der ganzen Gemeinschaft sehr gering und die Ablenkung, die es auslösen würde, erheblich ist (bei Vergütung zum Beispiel).
Was ich sagen möchte: Ich glaube daran, dass man die Grenzen der Transparenz vorantreiben, dabei aber besonnen bleiben sollte. Weil wir fast alles – auch unsere Fehler und Schwächen – für jeden aufzeichnen, sind wir voller Ziele für Medien, die von reißerisch dargestelltem oder kritischem Klatsch leben und Wege finden, an interne Informationen zu gelangen. Einmal standen wir vor dem Problem, dass Informationen an die Presse gelangt waren und dort mit Absicht verzerrt wurden, was unseren Rekrutierungsbemühungen schadete. Dadurch waren wir gezwungen, bestimmte Kontrollmaßnahmen bei hochsensiblen Informationen einzuführen, sodass nur eine begrenzte Zahl von extrem vertrauenswürdigen Personen sie in Echtzeit erhielt und der Rest erst verzögert. Diese Informationen waren von der Art, wie sie in normalen Unternehmen nur eine Handvoll Menschen zu sehen bekommen würden; bei Bridgewater aber wurden fast 100 vertrauenswürdige Personen eingeweiht. Mit anderen Worten: Unsere radikale Transparenz war in diesem Fall nicht total, aber ich habe die Grenzen auf eine praxisgerechte Weise weitergetrieben. Das hat uns gute Dienste geleistet. Denn die Personen, die am dringendsten die Transparenz brauchten, bekamen sie sofort, und fast alle anderen verstanden, dass unsere Festlegung auf Transparenz trotzdem weitestgehend intakt blieb, selbst unter schwierigen Umständen. Unsere Mitarbeiter wissen, dass es meine Absicht ist, stets die Grenzen des Strebens nach Transparenz zu erweitern, und dass mich nur eines davon abhalten kann, nämlich
die Interessen des Unternehmens; ebenso ist bekannt, dass ich deutlich sagen werde, wenn ich nicht transparent sein kann, und die Gründe dafür nenne. So zu sein, liegt in unserer Kultur, und das fördert Vertrauen, selbst wenn die Transparenz weniger ausgeprägt ist, als wir es uns wünschen würden.
d.
Sicherstellen, dass diejenigen, denen radikale Transparenz zuteilwird, ihre Verpflichtung anerkennen, gut damit umzugehen und intelligent abzuwägen.
Man darf Menschen nicht das Privileg der Teilhabe an Informationen gewähren, wenn sie diese Informationen dann zum Schaden des Unternehmens nutzen. Also muss es Regeln und Verfahren geben, die sicherstellen, dass das nicht passiert. Zum Beispiel bieten wir innerhalb von Bridgewater große Transparenz unter der Bedingung, dass Bridgewater-Angehörige sie nicht nach außen weitergeben; wenn doch, werden sie aus einem schwerwiegenden Grund entlassen (wegen unmoralischen Verhaltens). Außerdem müssen die Regeln dafür, wie Probleme erkundet und Entscheidungen gefällt werden, aufrechterhalten werden, und weil unterschiedliche Menschen unterschiedliche Standpunkte haben, ist es wichtig, dass die Methoden für die Beilegung solcher Fälle befolgt werden. Beispielsweise werden manche Menschen große Deals aus kleinen Deals machen, eigene falsche Theorien entwickeln oder Probleme haben, zu erkennen, wie Dinge sich weiterentwickeln. Erinnern Sie sie an die Risiken, die das Unternehmen mit dem Konzept der Transparenz auf sich nimmt und an ihre Verpflichtung, mit den Informationen verantwortungsvoll umzugehen. Ich habe festgestellt, dass Menschen diese Transparenz zu schätzen wissen. Und wenn ihnen klar ist, dass sie die Transparenz verlieren werden, wenn sie nicht gut damit umgehen, halten sie sich gegenseitig zu richtigem Verhalten an.
e.
Transparent gegenüber Menschen sein, die gut damit umgehen, und gegenüber Menschen, die nicht gut damit umgehen, entweder nicht transparent sein oder sie aus der Organisation entfernen.
Ausnahmen von der radikalen Transparenz festzulegen, ist das Recht und die Pflicht des
Managements, und nicht das Recht jedes einzelnen Beschäftigten. Das Management sollte die Transparenz aber nur selten und umsichtig einschränken, weil damit jedes Mal die Ideen-Meritokratie und das Vertrauen ihrer Mitglieder untergraben wird.
f.
Sensible Informationen nicht mit den Feinden der Organisation teilen.
Sowohl innerhalb als auch außerhalb der Organisation gibt es Menschen, die ihr absichtlich Schaden zufügen wollen. Feinde innerhalb Ihrer Organisation müssen Sie auffordern, ihren Konflikt über das System der Organisation für die Beilegung solcher Probleme zu lösen; denn wenn sie mit Feinden innerhalb Ihrer »erweiterten Familie« zusammenarbeiten, werden Sie sich selbst und die »Familie« untergraben. Wenn sich Ihre Feinde außerhalb der Organisation befinden und Informationen nutzen, um Ihnen zu schaden, sollten Sie sie natürlich nicht mit ihnen teilen.
1.5
Sinnerfüllte Beziehungen und sinnerfüllte Arbeit verstärken sich gegenseitig, vor allem wenn sie von radikaler Wahrhaftigkeit und radikaler Transparenz unterstützt werden
Die sinnerfülltesten Beziehungen entstehen, wenn Sie und andere miteinander offen über alles Wichtige sprechen, zusammen lernen und verstehen, dass Sie sich gegenseitig in die Pflicht nehmen müssen, so exzellent zu sein, wie Sie es können. Wenn Sie solche Beziehungen mit denjenigen haben, mit denen Sie arbeiten, helfen Sie sich gegenseitig durch schwierige Zeiten. Gleichzeitig bringt schwierige Arbeit Sie näher zusammen und stärkt Ihre Beziehungen. Dieser selbstverstärkende Zyklus lässt den Erfolg entstehen, der Sie in die Lage versetzt, immer wagemutigere Ziele zu verfolgen.