N ur selten lässt sich ein Disput so beilegen, dass beide beteiligte Parteien gleichermaßen zufrieden mit dem Ergebnis sind. Stellen Sie sich vor, Sie haben mit Ihrem Nachbarn einen Streit über einen Baum, der auf Ihr Grundstück gestürzt ist. Wer ist für die Entfernung verantwortlich? Wer bekommt das Feuerholz? Wer bezahlt den Schaden? Wenn Sie es nicht schaffen, das untereinander zu klären, hält das Rechtssystem Verfahren und Richtlinien bereit, mit denen sich feststellen lässt, was wahr und richtig ist und was deswegen zu tun ist; sobald das Urteil gesprochen ist, wurde die Angelegenheit geklärt, auch wenn Sie dabei nicht bekommen, was Sie wollten. So ist einfach das Leben.
Unsere Prinzipien und Richtlinien bei Bridgewater funktionieren im Grunde genauso und bieten einen Weg zur Klärung von Disputen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Gerichtsverhandlung hat (aber er ist weniger formell). Ein solches System zu haben, ist in einer Ideen-Meritokratie unverzichtbar, denn man kann die Leute nicht nur auffordern, unabhängig zu denken und für das zu kämpfen, was sie für richtig halten: Man muss ihnen auch eine Möglichkeit geben, ihre Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und weiterzumachen.
Das richtig zu steuern, ist bei Bridgewater besonders wichtig, weil es bei uns sehr viel mehr respektvolle Uneinigkeit gibt als anderswo. In den meisten Fällen gelingt es unseren Mitarbeitern zwar, sich untereinander zu verständigen, wenn sie verschiedener Meinung sind; trotzdem kommt es vor, dass sie sich nicht darüber einigen können, was die Wahrheit ist und was deswegen zu tun ist. In diesen Fällen nutzen wir unsere Verfahren für glaubwürdigkeitsgewichtete Abstimmungen und halten uns an das Ergebnis. Auch wenn stattdessen die verantwortliche Person auf ihre eigene Weise und gegen das Votum vorgehen will und dazu befugt ist, akzeptieren wir das und machen weiter.
Letztlich erklären Personen, die in unsere Ideen-Meritokratie eintreten, dass sie sich an unsere Richtlinien und Verfahren sowie die darauf beruhenden Entscheidungen halten werden – so als hätten sie einen Konflikt vor Gericht gebracht, dessen Verfahren und letztliches Urteil sie ebenfalls akzeptieren müssen. Dies erfordert, dass sie sich von ihrer eigenen Meinung lösen und nicht wütend werden, wenn eine Entscheidung nicht ihrer Überzeugung entspricht. Wer sich nicht an die vereinbarten Vorgehensweisen hält, hat kein Recht, sich zu beklagen – weder über die Personen, mit denen er uneinig ist, noch über die Ideen-Meritokratie an sich.
In den seltenen Fällen, in denen unsere Prinzipien, Richtlinien und Verfahren nicht deutlich erkennen lassen, wie sich eine Meinungsverschiedenheit beilegen lässt, liegt es in der Verantwortung von jedem Beteiligten, diese Tatsache anzusprechen, sodass der Prozess klarer gemacht und verbessert werden kann.
6.1 Nicht vergessen: Prinzipien dürfen auch dann nicht ignoriert werden, wenn Einigkeit darüber besteht
Prinzipien sind wie Gesetze – man darf sie nicht einfach brechen, nur weil Sie und jemand anderes das beschlossen haben. Denken Sie daran, dass jeder die Pflicht hat, sich zu äußern, mitzuziehen oder zu verschwinden. Wenn Sie nicht glauben, dass die Prinzipien den richtigen Weg zur Klärung eines Problems oder einer Meinungsverschiedenheit weisen, müssen Sie darum kämpfen, die Prinzipien zu verändern, und dürfen nicht einfach tun, was Sie wollen.
a. Für jeden gelten dieselben Verhaltensstandards. Bei jedem Konflikt müssen beide Parteien dasselbe Maß an Integrität aufweisen, aufgeschlossen und entschlossen sein und gleichermaßen besonnen. Die Richter müssen von allen Beteiligten dieselben Standards verlangen und ihnen Rückmeldungen geben, die sich an diesen Standards orientieren. Ich habe schon oft Fälle gesehen, in denen das Feedback aus unterschiedlichen Gründen nicht angemessen war (weil für den Leistungsfähigeren höhere Standards vorausgesetzt wurden oder die Schuld verteilt werden sollte). Das ist ein Fehler. Die Person, die falschliegt, muss die deutlichste Botschaft bekommen. Andernfalls könnte sie zu der Meinung gelangen, das Problem sei nicht durch sie verursacht worden oder von beiden Seiten gleichermaßen. Natürlich sollte die Botschaft nicht emotional, sondern ruhig und deutlich übermittelt werden, um ihre Wirksamkeit zu maximieren.
6.2 Sicherstellen, dass das Recht, sich zu beschweren, Empfehlungen zu geben und offen zu diskutieren, nicht mit dem Recht zum Entscheiden verwechselt wird
Nicht jeder ist jedem unterstellt. Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse werden einzelnen Personen gegeben; Grundlage dafür ist die Einschätzung ihrer Fähigkeit, richtig damit umzugehen. Manager erhalten die Autorität, die sie benötigen, um Ergebnisse zu erzielen, und werden aufgrund ihrer Fähigkeit in die Pflicht genommen, das auch zu schaffen.
Gleichzeitig stehen sie von beiden Seiten unter Druck: durch diejenigen, denen sie selbst unterstellt sind, und durch diejenigen, die ihnen unterstellt sind. Das Herausfordern und Nachbohren, das wir fördern, ist nicht dazu gedacht, jede ihrer Entscheidungen infrage zu stellen, sondern soll die Qualität ihrer Arbeit im Lauf der Zeit erhöhen. Das letztliche Ziel von unabhängigem Denken und offener Diskussion liegt darin, dem Entscheidungsträger andere Ansichten zur Verfügung zu stellen. Das bedeutet nicht, dass die Entscheidungsautorität auf die Personen übergeht, von denen die Nachfragen kommen.
a. Wenn eine Entscheidung oder ein Entscheidungsträger infrage gestellt wird, den größeren Kontext beachten. Es ist wichtig, einzelne Entscheidungen in einem möglichst breiten Kontext zu sehen. Wenn die infrage gestellte verantwortliche Person beispielsweise eine Vision hat und es bei der angezweifelten Entscheidung um ein kleines Detail dieser Gesamtvision geht, muss die Entscheidung im Kontext dieser größeren Vision diskutiert und bewertet werden.
6.3 Bedeutende Konflikte nicht ungeklärt lassen
Konfrontationen zu vermeiden ist kurzfristig zwar der einfachere Weg, doch die langfristigen Folgen können enorm zerstörerisch sein. Entscheidend ist, dass Konflikte wirklich geklärt werden – nicht durch oberflächliche Kompromisse, sondern durch die Suche nach den wichtigen, korrekten Schlussfolgerungen. In den meisten Fällen sollte dieser Prozess für relevante andere Personen transparent gemacht werden (und manchmal der gesamten Organisation). Dadurch lässt sich sowohl die Qualität der Entscheidungsfindung sicherstellen als auch die Kultur des offenen Abarbeitens von Disputen lebendig halten.
a. Sich nicht von Kleinigkeiten spalten lassen, wenn man durch Einigkeit bei Wichtigerem verbunden ist. Fast jede Gruppe, die sich über die großen Fragen einigt, streitet am Ende über weniger wichtige Fragen, und es kommt zu Feindseligkeit, obwohl man durch die Einigkeit bei den wichtigen Themen verbunden ist. Dieses Phänomen wird als der Narzissmus der kleinen Unterschiede bezeichnet. Nehmen wir Protestanten und Katholiken. Beide glauben an Jesus Christus, doch manche von ihnen kämpfen seit Hunderten von Jahren gegeneinander; dabei können viele nicht einmal genau sagen, worin genau die Unterschiede zwischen den beiden Glaubensauffassungen liegen, und wer es kann, weiß, dass sie im Vergleich zu den großen Fragen, die beide Seiten verbinden, relativ unbedeutend sind. Ich war einmal bei einer nahestehenden Familie zu Gast beim Thanksgiving-Dinner, als ein unversöhnlicher Streit darüber ausbrach, wer den Truthahn anschneiden durfte. Lassen Sie nicht zu, dass Sie dem Narzissmus der kleinen Unterschiede zum Opfer fallen! Erkennen Sie, dass nichts und niemand perfekt ist und dass Sie sich glücklich schätzen können, im Großen und Ganzen exzellente Beziehungen zu haben. Sehen Sie das große Bild.
b. Nicht in Uneinigkeit steckenbleiben – eine Stufe höher gehen oder abstimmen! Wenn Sie Entschlossenheit und Aufgeschlossenheit praktizieren, dürften Sie in der Lage sein, die meisten Meinungsverschiedenheiten zu klären. Wenn nicht, und wenn bei Ihrem Disput einer gegen den anderen steht, sollten Sie die Angelegenheit einem glaubwürdigen Dritten vortragen, auf den sie sich gemeinsam verständigt haben. Im Normalfall sollte das jemand sein, der in der Hierarchie höher steht, zum Beispiel Ihr Chef. Wenn eine Gruppe keine Einigung finden kann, sollte die für das Meeting verantwortliche Person eine glaubwürdigkeitsgewichtete Abstimmung vornehmen.
6.4 Wenn eine Entscheidung gefallen ist, sollte sie jeder unterstützen, auch wenn er anderer Meinung ist
Eine Gruppe muss scheitern, wenn diejenigen, die nicht bekommen, was sie wollten, anschließend weiter kämpfen, anstatt sich für das einzusetzen, was die Gruppe entschieden hat – man sieht das immer wieder in Unternehmen, Organisationen und selbst politischen Systemen und Nationen. Das heißt nicht, dass jeder so tun sollte, als würde ihm die Entscheidung gefallen oder als könnte man das fragliche Thema zu einem späteren Zeitpunkt nicht noch einmal ansprechen. Was ich sagen möchte: Um effektiv zu sein, müssen alle Gruppen, die zusammenarbeiten, Verfahren einhalten, die genügend Zeit dafür vorsehen, sich mit unterschiedlichen Meinungen zu beschäftigen; gleichzeitig müssen Minderheiten mit einer abweichenden Meinung anerkennen, dass der Zusammenhalt der Gruppe wichtiger ist als ihre individuellen Präferenzen, wenn sie überstimmt wurden.
Die Gruppe ist wichtiger als das Individuum. Verhalten Sie sich nicht so, dass sie die beschlossene Vorgehensweise untergraben.
a. Die Dinge von einer höheren Warte aus betrachten. Von Ihnen wird erwartet, dass Sie sich auf eine höhere Warte begeben und sich selbst und andere von dort aus als Teile eines Systems betrachten. Mit anderen Worten: Sie müssen aus Ihrem eigenen Kopf herauskommen, Ihre eigene Meinung als nur eine von vielen verstehen und die gesamte Palette an Standpunkten betrachten, um sie auf ideen-meritokratische Weise statt egozentrisch zu bewerten. Die Betrachtung von einer höheren Warte aus bedeutet nicht nur, die Standpunkte von anderen sehen zu können. Sie versetzt Sie auch in die Lage, jede Situation, sich selbst und andere in derselben Situation so zu sehen, als würden Sie als objektiver Beobachter von außen zuschauen. Wenn Sie das gut beherrschen, werden Sie die Situation als »noch so einen Fall« betrachten, sie durch die Augen von anderen sehen und gute kognitive Karten oder Prinzipien für die Entscheidung haben, wie damit umzugehen ist.
Fast jeder Mensch findet es anfangs schwierig, über den Blick nur durch seine eigenen Augen hinauszukommen. Also habe ich Richtlinien und Werkzeuge wie den Coach (der Situationen mit Prinzipien verbindet) entwickelt, die dabei helfen sollen. Mit etwas Übung können die meisten Menschen lernen, diese Perspektive einzunehmen, manchen jedoch gelingt es nie. Sie müssen wissen, zu welchem Typ Sie selbst und die Menschen um Sie herum gehören. Wenn Sie es selbst nicht gut können, lassen Sie sich von anderen dabei helfen. Akzeptieren Sie, dass viele Menschen die Dinge nicht von einer höheren Ebene aus betrachten können, und unterscheiden sie, wer es kann und wer nicht. Trennen Sie sich dann entweder von denjenigen, die es nicht können, oder sorgen Sie für gute Schutzgitter, um sich selbst und die Organisation gegen die Folgen dieser fehlenden Fähigkeit abzusichern.
Übrigens: Natürlich ist es in Ordnung, wenn Sie bei bestimmten Fragen Ihre abweichende Meinung behalten. Sie dürfen nur nicht weiter darüber streiten und so die Ideen-Meritokratie untergraben. Wenn Sie dauerhaft gegen die Ideen-Meritokratie kämpfen, müssen Sie gehen.
b. Niemals zulassen, dass die Ideen-Meritokratie in Anarchie abrutscht. In einer Ideen-Meritokratie wird es naturgemäß mehr Meinungsverschiedenheiten geben als in einer traditionellen Hierarchie. Doch wenn das Konzept ins Extrem getrieben wird, können Streitereien und Kleinlichkeiten die Ideen-Meritokratie schwächen. Bei Bridgewater bin ich Menschen begegnet, vor allem jüngeren, die der irrigen Ansicht sind, sie hätten das Recht, mit wem auch immer und über was auch immer ihnen einfällt zu streiten. Ich habe sogar erlebt, dass Personen sich zusammenschlossen, um die Ideen-Meritokratie zu gefährden, mit der Behauptung, ihr Recht dazu würde sich aus den Prinzipien ergeben. Diese Leute haben meine Prinzipien und die Grenzen innerhalb der Organisation falsch verstanden. Sie müssen sich an die Regeln des Systems halten, die Wege für die Klärung von Meinungsverschiedenheiten bereithalten, und sie dürfen das System nicht gefährden.
c. Keine Lynchmobs oder Selbstjustiz zulassen. Der Sinn eines nach der Glaubwürdigkeit gewichteten Systems liegt zum Teil darin, Emotionen aus der Entscheidungsfindung herauszunehmen. Menschengruppen werden gern emotional und versuchen, die Kontrolle zu übernehmen. Dass muss verhindert werden. Zwar hat jeder das Recht auf seine eigene Meinung, aber er hat nicht das Recht, Urteile zu verkünden.
6.5 Daran denken, dass die Ideen-Meritokratie unweigerlich leiden wird, wenn sie in Konflikt mit dem Wohlergehen der Organisation gerät
Das ist einfach eine Frage der Praktikabilität. Wie Sie wissen, glaube ich, dass das, was gut ist, gut funktionieren muss, und dass es von überragender Bedeutung ist, dafür zu sorgen, dass die Organisation gut funktioniert.
a. »Kriegsrecht« nur unter seltenen oder extremen Umständen verhängen, wenn die Prinzipien ausgesetzt werden müssen. Zwar sollen alle guten Prinzipien dem Wohlergehen der Gemeinschaft dienen, doch zu manchen Zeiten könnte ihr Befolgen dieses Wohlergehen gefährden. Zum Beispiel gab es bei uns eine Zeit, in der einige Informationen, die innerhalb von Bridgewater radikal transparent gemacht wurden, an die Medien gelangten. Die Leute bei Bridgewater wussten, dass unsere Transparenz in Hinsicht auf unsere Schwächen und Fehler missbraucht wurde, um ein verzerrtes und schädliches Bild von Bridgewater zu zeichnen; also mussten wir den Grad unserer Transparenz zurückfahren, bis dieses Problem gelöst war. Doch statt einfach weniger Transparenz zuzulassen, erklärte ich die Situation und verhängte das »Kriegsrecht«, was bedeutete, dass es um eine vorübergehende Aussetzung unserer radikalen Transparenz ging. Auf diese Weise wusste jeder, dass wir es mit einem außergewöhnlichen Fall zu tun hatten und uns in einer Phase befanden, in der unsere übliche Vorgehensweise unterbrochen werden musste.
b. Vorsicht bei Leuten, die »zum Wohl der Organisation« eine Aussetzung der Ideen-Meritokratie fordern. Wenn sich solche Argumente durchsetzen, wird die Ideen-Meritokratie geschwächt. Lassen Sie das nicht zu. Wenn jeder die Regeln der Ideen-Meritokratie respektiert, wird es keinen Konflikt geben. Das weiß ich aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung. Jedoch weiß ich auch, dass es immer Menschen gibt, die das, was sie selbst anstreben, über die Ideen-Meritokratie stellen und sie gefährden. Betrachten Sie solche Leute als Feinde des Systems und werden Sie sie los.
6.6 Anerkennen, dass man nicht prinzipiengeleitet vorgehen kann, wenn sich die Personen, bei denen die Macht liegt, nicht an Prinzipien halten wollen
Macht setzt sich am Ende immer durch. Das gilt für jedes System. Zum Beispiel wurde immer wieder gezeigt, dass Regierungssysteme nur dann funktioniert haben, wenn diejenigen, die an der Macht sind, die Systeme stärker wertschätzen als ihre persönlichen Ziele. Wenn Menschen genügend Macht haben, um ein System zu untergraben, und gleichzeitig ihr Wunsch, zu bekommen, was sie wollen, größer ist als ihr Wunsch, das System aufrechtzuerhalten, wird dieses System scheitern. Aus diesem Grund darf man die Macht zur Unterstützung der Prinzipien nur solchen Personen geben, die prinzipiengeleitetes Vorgehen höher schätzen als ihre individuellen Interessen (oder die Interessen ihrer Fraktion). Und man muss mit Menschen so vernünftig und besonnen umgehen, dass die überwältigende Mehrheit das prinzipienbasierte System will und bereit ist, für es zu kämpfen.