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D eclan Lynch war ein Lügner.

Und zwar schon sein Leben lang. Die Lügen gingen ihm leicht, flüssig, reflexartig über die Lippen. Was macht dein Vater beruflich? Im Sommer verkauft er Luxussportwagen und im Winter Lebensversicherungen. Er ist Anästhesist. Vermögensberater für Geschiedene. Er ist in der Werbebranche und zu seinen Kunden zählen hauptsächlich Unternehmen im angelsächsischen Sprachraum. Er ist beim FBI . Wo haben er und deine Mutter sich kennengelernt? Die beiden waren in der Highschool zusammen im Jahrbuchkomitee. Freunde haben sie verkuppelt. Sie hat auf dem Jahrmarkt ein Foto von ihm geschossen und erklärt, sie wollte nie wieder ohne sein Lächeln sein. Warum darf Ronan nie zu Übernachtungspartys? Ronan schlafwandelt. Einmal ist er bis auf die Straße gelaufen, und Dad musste einem Lkw-Fahrer, der gerade noch rechtzeitig bremsen konnte, beweisen, dass Ronan wirklich sein Sohn ist. Woran ist deine Mutter gestorben? Hirnblutung. Selten. Genetisch bedingt. Wird in der Regel von Mutter zu Tochter vererbt, also ist es wohl Glück im Unglück, dass sie nur Söhne hat. Wie geht es dir? Super. Großartig. Blendend.

Manchmal war die Wahrheit einfach die schlimmere Alternative. Die Wahrheit war wie eine Trauerfeier am geschlossenen Sarg im Kreise der entfremdeten Verwandtschaft. Lügen, Sicherheit, Geheimnisse.

Declan belog ausnahmslos jeden. Seine Partnerinnen, seine Freunde, seine Brüder.

Obwohl …

Seinen Brüdern sagte er meistens einfach nur nicht die Wahrheit.

»Hier ist’s immer so schön«, seufzte Matthew, als er aus dem Auto stieg. Der Kies knirschte unter seinen Sneakers.

Die drei Brüder hatten einen Ausflug nach Great Falls gemacht – ein Nationalpark nur wenige Meilen von Declans Haus in D.C. entfernt. In dem dichten Waldgebiet konnte man nicht nur lauschig am Ufer eines historischen Kanals entlangschlendern, sondern auch dem Potomac River dabei zusehen, wie er sich die Nase zuhielt und auf seinem Weg von West Virginia zum Atlantik eine Vierzehn-Meter-Arschbombe von einer Klippe hinlegte. Der graue Himmel voller tief hängender, zerzauster Wolken brachte die spätherbstlichen Farben umso mehr zum Leuchten und in der Luft lag der rauchig-vertraute Duft nach vertrocknetem Eichenlaub. Es war schön, besonders wenn man zum ersten Mal hier war.

Declan war schon viele, viele Male hier gewesen.

»Ja, ich komme auch immer gern her«, log er.

»Das haben sich die anderen hunderttausend Idioten, die hier rumrennen, wohl auch gedacht«, knurrte Ronan und knallte die Beifahrertür zu. Ronans inoffizielles Lebensmotto schien zu lauten: Mach nie eine Tür zu, die du auch zu knallen kannst. Das Harvard-Fiasko hatte ihn in eine tiefe Sinnkrise gestürzt. Manchmal war es schwer zu sagen, wie schlimm es wirklich um ihn stand, aber Declan hatte sich mit den Jahren zu einem Experten für Ronans Gemütslagen entwickelt. Türenknallen war ein Zeichen dafür, dass sein Herz noch schlug. Stille dagegen deutete darauf hin, dass sich etwas Unheilvolles in ihm zusammenbraute. Ein Ronan, der nach Cambridge ziehen würde, hatte Declan Angst gemacht. Jetzt empfand er dasselbe angesichts eines Ronans, der nicht nach Cambridge ziehen konnte .

Es gab, dachte Declan, verdammt noch mal so vieles, vor dem man Angst haben konnte.

»Mein Auto hat dir nichts getan«, merkte er kühl an und drückte seine eigene Tür behutsam zu. »Matthew, das Essen.«

Matthew schnappte sich die Tüte mit den Burritos. Er war bester Laune. Nicht, dass daran etwas Bemerkenswertes gewesen wäre – es war schlicht das, was Matthew ausmachte –, aber hier in Great Falls fiel es immer besonders auf. Am liebsten wäre Matthew jeden Tag hergekommen, eine Tatsache, die Declan erst in diesem Sommer klar geworden war. Declan nahm seine Rolle als Ersatzvater durchaus ernst. Er las Artikel über Erziehung, Motivation und elterliche Förderung. Er hatte Regeln aufgestellt, die er konsequent durchsetzte, und sah sich eher als Berater denn als Freund. Seit seiner Ernennung zum Vormund durfte er nicht mehr bloß ein Bruder sein. Er musste das Gesetz sein. Was auch der Grund für seine Strenge Ronan gegenüber war. Matthew dagegen – tja, Matthew war einfach von Natur aus so glücklich, dass Declan beschlossen hatte, alles zu tun, damit es so blieb. In diesem Sommer allerdings hatte Matthew täglich nach Great Falls gewollt, bis Declan ihm zum allerersten Mal einen Wunsch hatte abschlagen müssen.

Was ihm bis heute nachhing.

»Gib mal meinen Burrito«, forderte Ronan. »Ich hab so einen Hunger, dass ich vor lauter Durst schon ganz müde bin.«

Declan war klar, dass Ronan nicht im Geringsten zum Scherzen aufgelegt war, aber auch er würde nun mal alles tun, um Matthew glücklich zu machen.

Und es funktionierte. Matthew brach in sein gewohnt unbeschwertes, ansteckendes Lachen aus und setzte seine grottenhässliche Mütze auf. Matthews Modegeschmack war schon immer unterirdisch gewesen. Allein für den Jungen waren Schuluniformen erfunden worden.

»Das ist meine Wandermütze«, erklärte er, als könnte der makellos gepflegte, vollkommen ebene Pfad ihnen mehr als einen gemütlichen Spaziergang abverlangen.

Sie gingen los. Sie aßen – oder na ja, zumindest Ronan und Matthew. Ronan inhalierte seinen Burrito mit riesigen gierigen Bissen, Matthew mampfte seinen mit dem unverhohlenen Entzücken eines Kleinkinds am Weihnachtsmorgen. Declan rührte seinen nicht an, weil er seine Tabletten gegen Sodbrennen dabeihatte und sein Magen mal wieder rebellierte. Außer ihren Schritten und dem gleichmäßigen Rauschen der Wasserfälle war nichts zu hören. Hier und da segelte ein nasses gelbes Blatt von den Bäumen. Pfützen auf dem Pfad erzitterten, als wäre ein Tropfen darin gelandet, obwohl es gar nicht regnete. Alles wirkte wild. Fernab von allem.

Vorsichtig kam Declan zum Thema. »Deine Lehrer meinten, du hättest in letzter Zeit oft auf dem Dach gesessen.«

»Jepp«, erwiderte Matthew unbekümmert.

»Ronan, meine Güte, wie wär’s, wenn du erst mal kaust, bevor du schluckst?« An Matthew gewandt fuhr Declan dann fort: »Sie meinten, du hättest auf den Fluss gestarrt.«

»Jepp«, sagte Matthew.

Jetzt schaltete sich Ronan ein. »Man kann den Fluss von der Schule aus gar nicht sehen, Matthew.«

Matthew lachte, als hätte Ronan den Witz des Jahrhunderts gerissen. »Nee.«

Declan wusste, dass er sich nicht zu penetrant nach der seltsamen Anziehungskraft erkundigen durfte, die der Fluss auf Matthew ausübte, ohne ihn auf die Tatsache zu stoßen, dass er erträumt war. Nun könnte man sich fragen, warum Declan ihm dieses Detail überhaupt vorenthielt. Die Antwort war: Weil Niall und Aurora Matthew wie ein ganz normales Kind aufgezogen hatten und es einfach grausam schien, ihm diese Illusion jetzt zu nehmen. Weil ein Bruder, der in der Krise steckte, mehr als genug war. Weil Declan es gewohnt war, einfach alles wie ein Geheimnis zu behandeln, solange niemand es lüftete oder ihm bewies, dass es keins war.

»Sie haben gesagt, du würdest ständig aus dem Unterricht verschwinden«, redete Declan weiter. »Ohne Erklärung.«

Matthews Lehrer hatten noch weitaus mehr gesagt. Sie hatten beteuert, dass sie Matthew von Herzen gernhatten (überflüssigerweise, denn wer tat das nicht?), sich jedoch Sorgen machten, er könne vom rechten Weg abkommen. Er gab seine Hausaufgaben zu spät ab, brachte seine Kunstprojekte nicht zu Ende. Er vergaß mitten im Unterrichtsgespräch, worum es ging. Er entschuldigte sich auf die Toilette und kam nicht zurück. Anschließend fand man ihn im Treppenhaus, in einem leeren Klassenzimmer oder auf dem Dach.

Auf dem Dach?, hatte Declan geechot und bittere Galle geschmeckt. Mit einem Mal war es, als hätte er tausend Jahre auf dieser Welt verbracht und jedes einzelne wäre die Hölle gewesen.

Ja, aber keine Sorge, hatten die Lehrer hastig eingelenkt. Er hat einfach so dagesessen und in die Ferne geschaut. Zum Fluss, meinte er.

»Tja, was will man machen?«, sagte Matthew mit einem liebenswerten Schulterzucken, als wäre sein Verhalten selbst ihm ein Rätsel. Und vielleicht war es das sogar. Was nicht etwa daran lag, dass Matthew dumm gewesen wäre. Ihm fehlte eher ein gesundes Maß an intellektueller Skepsis. War das eine Nebenwirkung der Tatsache, dass er ein Traum war? Oder war ihm diese Eigenheit bewusst angeträumt worden?

Declan hasste es, dass er einen Menschen liebte, der nicht real war.

Aber am allermeisten hasste er Niall. Wenn der sich mal bequemt hätte, Ronan auch nur die grundlegendsten Dinge über das Träumen beizubringen, würde ihr Leben heute völlig anders aussehen.

Zumindest schien zu Matthew durchzudringen, dass seine Brüder ernsthaft besorgt waren, denn er fügte hinzu: »Und was soll ich jetzt machen?«

Declan wechselte hinter Matthews Rücken einen Blick mit Ronan. Ronans Blick besagte: Was hab ich damit zu tun?, und Declans Blick antwortete: Das hier ist ja wohl dein Zuständigkeitsbereich.

»Mom hätte sich gewünscht, dass du dir in der Schule mehr Mühe gibst«, sagte Ronan.

Ein winziger Schatten huschte über Matthews Gesicht. Ronan hatte Aurora genauso sehr geliebt wie er selbst, darum besaß er jedes Recht, sie ins Feld zu führen. Declan, dessen Liebe von Pessimismus geprägt war, nicht.

»Ich geb mir ja nicht keine Mühe«, verteidigte er sich.

Ronans Handy vibrierte. Er ging dran, was nur eins bedeuten konnte: Der Anrufer war Adam Parrish. Ein paar Minuten lang lauschte er konzentriert, bevor er sehr leise, sehr kleinlaut, sehr unronanhaft sagte: »Alter idem«, und auflegte.

Declan fand das Ganze äußerst beunruhigend, Matthew dagegen erkundigte sich so sorglos und neugierig wie immer: »Warum sagst du nicht einfach ›Ich liebe dich‹?«

»Warum hast du dir deinen Burrito auf die Klamotten geschmiert, anstatt ihn zu essen?«, konterte Ronan.

Matthew schnippte sich ein paar Salatfetzen von der Jacke, ohne sich an Ronans Ton zu stören.

Declans Einstellung zu Adam Parrish war zwiespältig. Declan würde niemals jemand so Austauschbarem wie einer Freundin die Wahrheit über seine Familie anvertrauen; das wäre nur leichtsinnig. Adam dagegen wusste alles, zum einen, weil er vieles persönlich miterlebt hatte, und zum anderen, weil Ronan ihm nichts vorenthielt. Aus Declans Sicht machte das die Beziehung der beiden zu einem Risiko.

Andererseits war Adam Parrish besonnen, vorausschauend, fokussiert und beständig, wodurch er einen sehr positiven Einfluss auf Ronan ausübte. Man brauchte keine Minute mit den beiden zu verbringen, um zu erkennen, dass Adam die Sache absolut ernst war. Aus Declans Sicht war Adam daher gleichzeitig ein Zugewinn in Sachen Sicherheit.

Solange er sich nicht von Ronan trennte.

Declan konnte schlecht einschätzen, wie kompliziert zu kompliziert für Adam Parrish war.

Allerdings war Adam selbst nicht gerade der unkomplizierteste Mensch auf Erden, auch wenn er sich derzeit gern so gab.

Die Lynch-Brüder hatten unterdessen Matthews Lieblingsaussichtspunkt erreicht, Overlook 1 , eine stabile Holzplattform, die sich an ein paar übermannshohe Felsen schmiegte und ein Stück über den Fluss ragte. Wer nicht ganz trittsicher war, konnte dort den Ausblick von der Brüstung aus genießen. Allen anderen stand es frei, auf einen der Felsen zu klettern, um das Spektakel von weiter oben auf sich wirken zu lassen. Matthew entschied sich stets für die Kletterpartie.

So auch heute. Matthew drückte Declan sein Burritopapier in die Hand und machte sich an den Aufstieg. Dabei rutschte ihm seine hässliche Mütze vom Kopf, doch er merkte es nicht. Immer höher, immer näher ran.

Als stünde er unter einem Bann.

Der Potomac River war an dieser Stelle ungebändigt, breit und reißend; mit ausgefahrenen Krallen bahnte er sich seinen Weg über die Felsen. Matthew schloss die Augen und schöpfte ein paarmal tief Atem, als hätte er kurz vor dem Ersticken gestanden. Eine bis dahin unbemerkte Anspannung wich von seiner Stirn. Seine Engelslocken hoben sich in der vom Fluss heraufwehenden Brise und gaben den Blick auf das Profil eines jungen Mannes frei, nicht auf das eines Kindes.

»Matthew …«, begann Declan und hielt wieder inne. Matthew hatte ihn nicht gehört. Er war voll und ganz in die Wasserfälle versunken.

Nach einer Weile ließ Ronan einfach nur ein geflüstertes »Fuck« vernehmen.

Es hatte tatsächlich etwas Verstörendes, wenn ihr normalerweise so vor Lebensfreude übersprudelnder Bruder zu diesem verwunschenen Prinzen versteinerte. Matthew war alles andere als eine Grüblernatur, daher war es seltsam mit anzusehen, wie er nun mit geschlossenen Augen dasaß und seinen Gedanken nachhing. Und es wurde mit jeder Minute schlimmer. Fünf, zehn, fünfzehn – eine lange Zeit, wenn man bloß danebenstehen und warten konnte, aber noch nicht direkt besorgniserregend. Eine Stunde, zwei, drei – das war etwas anderes. Da stellten sich einem die Nackenhaare auf. Es wurde, dachte Declan, von Tag zu Tag offensichtlicher, was Matthew wirklich war, wie sehr seine Existenz von Ronan abhing und vielleicht auch noch von etwas anderem. Was trieb Ronan an? Was hatte Niall angetrieben? Was immer es war, es schien auf irgendeine Weise mit diesem rauschenden Wasser in Verbindung zu stehen.

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Matthew von selbst dahinterkam.

Ronan sog einen Mundvoll Luft ein und stieß sie langsam durch die Nase wieder aus, was so typisch für ihn war, dass Declan ihn allein anhand des Geräuschs hätte identifizieren können. Dann fragte Ronan: »Was ist der Feenmarkt?«

Declans Magen registrierte die Frage noch vor seinem Gehirn und krampfte sich in einem heißen Anfall von Panik zusammen.

Verdammt.

Seine Gedanken arbeiteten sich hastig durch sein gewohntes Ablaufschema aus Geheimnissen und Lügen. Wie hatte Ronan vom Feenmarkt erfahren? Hatte er etwas von Niall in den Schobern gefunden? Hatte jemand ihn darauf angesprochen? War ihre Sicherheit bedroht? Was hatte Declan losgetreten, indem er diesen Anruf getätigt, den Hausschlüssel geholt und sich damit auf den Weg nach Boston gemacht hatte, während Ronan sich mit Adam traf …?

»Der was?«, stellte Declan sich dumm.

»Lüg mich nicht an«, erwiderte Ronan. »Ich bin zu sauer für so ’nen Scheiß.«

Declan musterte seinen Bruder. Den realeren der beiden, wenn auch nur um Haaresbreite. Je älter Ronan wurde, desto deutlicher trat seine Ähnlichkeit mit ihrem Vater zutage. Zwar hatte er nicht Nialls lange Locken und seinen sprühenden Charme geerbt, aber seine Nase, sein Mund, seine Augenbrauen, seine Körperhaltung, die brodelnde Rastlosigkeit in seinem Blick – das alles schrie so sehr Niall, als wäre Aurora überhaupt nicht an seiner Entstehung beteiligt gewesen. Ronan war kein Junge mehr, kein Teenager. Er war dabei, sich in einen Mann zu verwandeln, oder zumindest in eine reifere Version dessen, was er nun mal war. Ein Träumer.

Hör auf, ihn ständig beschützen zu wollen, wies Declan sich im Stillen zurecht. Sag ihm die Wahrheit.

Er sehnte sich nach einer Lüge.

Er wusste, dass Ronan nicht ewig allein in den Schobern würde leben können. Die Farm, sosehr er sie auch liebte, war einfach nicht genug für ihn. Seine Brüder waren nicht genug für ihn. Und auch Adam war eigentlich nicht genug für ihn, aber zu dieser Erkenntnis war Ronan selbst noch nicht gelangt, das wusste Declan. Tief im Inneren seines Bruders lauerte etwas Fremdartiges, Gieriges, und Declan wusste auch, dass dieses Wesen gefüttert werden musste. So oder so bestand die Gefahr, dass Ronans Existenz ein unschönes Ende fand und damit auch Matthews. Declans gesamte Familie.

Declan biss die Zähne zusammen und starrte auf den Fluss, der sich todesmutig über die Klippe stürzte. »Du kannst mitkommen, wenn du willst.«