13

 

M anchmal stellte Hennessy sich vor, wie sie vom Dach sprang.

Wie sie durch den Schwung zunächst ein Stück an Höhe gewann, bevor der Sog der Schwerkraft überhandnahm. Erst dann begann der offizielle Sturz. Neun Komma acht eins Meter pro Sekunde zum Quadrat, das war die Rate, mit der ihre Reise Richtung Erde sich beschleunigen würde, wenn man alle anderen Parameter außer Acht ließ: Luftwiderstand, Gewicht, Windgeschwindigkeit, die sechs anderen Mädchen, die sich über die Dachkante lehnten und »Hennessy, komm zurück!« schrien.

Die Franzosen hatten einen Namen dafür. L’appel du vide, der Ruf der Leere. Für diesen Drang zu springen, den selbst nicht suizidgefährdete Menschen an hoch gelegenen Orten verspürten. Fünfzig Prozent aller Menschen dachten in solchen Momenten darüber nach, in den Tod zu springen, zu ihrem eigenen Entsetzen. Jeder zweite. Also war Hennessy nicht allein mit ihrer Vorstellung, ungebremst auf die Wacholdersträucher drei Stockwerke tiefer zuzurasen.

Sie stand ganz am Rand der Dachterrasse der Villa in McLean, sodass ihre Fußspitzen über den Sims ragten, und starrte runter in den Hof. Dort plätscherte Musik vor sich hin, irgendein murmelnder, sinnlich-rastloser Song in einer Sprache, die sie nicht verstand. Eins der Mädchen – es musste Jordan oder June sein – sang mit. Geplauder schwoll an und wieder ab. Gläser und Flaschen klirrten. Irgendwo fiel ein Schuss, dann ein zweiter, ein dritter, ein Geräusch wie das Klacken von Kugeln auf einem fernen Billardtisch. Es war eine Trashparty. Eine Geheimparty. Eine Party für Leute, die selbst so viel schmutzige Wäsche rumliegen hatten, dass man ihnen getrost die eigene anvertrauen konnte.

»You scream, I scream, we all scream for ice cream«, sang eine Stimme neben ihr.

Es war Hennessys Stimme, aber aus einem anderen Körper. Nein, keinem anderen Körper. Einem separaten. Hennessy musste hingucken, um zu erkennen, welches der Mädchen es war, und war sich dennoch nicht ganz sicher. Vielleicht Trinity. Oder Madox. Die Neueren waren immer schwer einzuordnen. Es war, als würde man in einen Spiegel blicken.

Das Mädchen, das Hennessys Körpersprache richtig zu deuten schien, fuhr fort: »You jump, I jump, we all jump.«

Sämtliche Gäste auf dieser Party dachten, Hennessys größtes Geheimnis bestünde darin, dass sie eine der erfolgreichsten Kunstfälscherinnen der Ostküste war. Das eigentliche Geheimnis aber lautete: Hennessy, Jordan, June, Brooklyn, Madox, Trinity. Sechs Mädchen mit ein und demselben Gesicht.

Hennessy hatte sie alle geträumt.

Nur zwei Mädchen durften sich gleichzeitig sehen lassen. Zwillinge waren realistisch. Drillinge schon ungewöhnlicher. Vierlinge, Fünflinge – alles über drei erregte zu viel Aufmerksamkeit.

Hennessys verdammtes Leben war auch so schon kompliziert genug. Da konnte sie nicht noch jemanden gebrauchen, der die Wahrheit über sie kannte und sie womöglich damit erpresste.

»Das da unten ist der feuchte Traum eines betrunkenen italienischen Tim-Burton-Fanboys«, sagte Hennessy mit einem Blick auf die überladene Gestaltung des Gartens. Das Ganze war nicht sonderlich gepflegt, aber die geometrische Anordnung der Elemente war noch nicht vollends dem ungezähmten Wachstum zum Opfer gefallen. Manisch verschnörkelte Pflanzkübel, Buchsbaumlabyrinthe und wucherndes Moos zwischen filigranen Pflastersteinen. »Was willst du, Bitch?«, fragte sie, um die Tatsache zu überspielen, dass sie noch immer keine Ahnung hatte, welches der Mädchen neben ihr stand.

»Madox, du Arschkuh«, entgegnete Madox, die Hennessys Trick sofort durchschaute, weil sie nun mal Hennessy war . »Den Wodka. Wo ist der?«

»Nicht im Porsche?«

Madox schüttelte den Kopf.

»Na so was, sind dem etwa Beine gewachsen?«, erwiderte Hennessy unbeschwert. »Na schön, gib du dich weiter diesen irdischen Vergnügungen für mich hin, dann mach ich mich auf die Suche. Welche Zimmer quellen denn schon über von mir?«

»Nur die Küche«, antwortete Madox. »Ich glaube, da sind June und Trinity.«

Hennessy sprang vom Sims und mischte sich wieder unter ihre Partygäste. Leute, für die sie Kunst gefälscht hatte, Leute, von denen sie Geld bekommen hatte, Leute, mit denen sie Leichen hatte verschwinden lassen, und Leute, mit denen sie geschlafen hatte, nickten ihr zu oder legten ihr die Hand auf den Arm oder küssten sie auf den Mund. Sie suchte nicht nach dem Wodka. Der Wodka war Madox in Wirklichkeit doch egal. Wahrscheinlich lag er sogar immer noch im Porsche. Madox war bloß aufs Dach gekommen – beziehungsweise wohl eher geschickt worden –, um sie von der Kante wegzulocken.

Hennessy stahl sich in einen verlassenen Seitenflur, wich ein paar Glasscherben und Blutspritzern aus – Rückstände von Brecks Einbruchsversuch – und ging in das Zimmer, in dem Jordan die meisten ihrer Werke anfertigte. Wie Hennessy arbeitete auch Jordan am liebsten nachts und brauchte daher keine Fenster. Was sie brauchte, waren jede Menge Steckdosen, damit sie all ihre Strahler, hell wie Bühnenscheinwerfer, um sich und die Leinwand arrangieren konnte. Später überprüfte sie das Ergebnis immer noch einmal bei Tageslicht. Hennessy konnte nicht genau sagen, warum sie beide lieber bei Dunkelheit arbeiteten; gerade als Kunstfälscherinnen war das vermutlich eine schlechte Angewohnheit. Aber für die Sonne hatten sie nun mal noch nie viel übriggehabt.

»Ich hätt’s nicht gemacht«, beteuerte Hennessy, als sie das fensterlose Atelier betrat.

Wie erwartet fand sie Jordan dort vor, inmitten von riesigen, düsteren Leinwänden, Terpentinkanistern, Lappen und Pinseln, die sie mit den Borsten nach oben abstellte, sodass dicke, leuchtende Farbtropfen die Stiele hinunterrannen. Sie arbeitete an ihrer Einladung zum Feenmarkt. Unter dem Mikroskop auf dem Schreibtisch lag Brecks Original, ein zartes, geheimnisvoll wirkendes Stück Leinen, das an ein uraltes Taschentuch erinnerte. Ringsum lagen mehrere verworfene Skizzen. Jordan hielt einen sehr feinen COPIC -Marker in der Hand und bearbeitete damit ein weiteres Stoffquadrat.

»Keine Ahnung, wovon du redest«, erwiderte Jordan, ohne hochzugucken.

Hennessy stieg auf einen Stuhl, um von oben einen Blick auf den Schreibtisch zu werfen. »Na, wenn das nicht komplett beschissen aussieht.«

Jordan benutzte ein Handmikroskop, um den leichten Schmiereffekt der Tintenlinie zu kontrollieren, die sie als Letztes gesetzt hatte. »Ich hab’s bald.«

Jordan war die erste Kopie gewesen, die Jordan Hennessy vor vielen Jahren geträumt hatte. Hennessy hatte sie für sich behalten, Jordan der Neuen überlassen. Und da Jordan die Erste war, die Älteste von allen, war sie auch die Komplexeste. Zwar hatte Hennessy den anderen Mädchen ein ähnliches Maß an Vielschichtigkeit verpasst, aber Jordan hatte mittlerweile immerhin ein ganzes Jahrzehnt lang Zeit gehabt, um eigene Erinnerungen und Erfahrungen zu sammeln.

Manchmal vergaß Hennessy, dass Jordan in Wirklichkeit sie selbst war.

Und manchmal, so erschien es ihr zumindest, vergaß Jordan es auch.

»Deinen unerschütterlichen Optimismus müsste man in Bronze gießen«, sagte Hennessy, »und im Museum ausstellen, damit kleine Schulkinder ihn bestaunen können. Man sollte ihn in Stücke zerteilen und an einem sonnigen Ort in nährstoffreichen Boden pflanzen, damit aus jedem Fitzelchen neuer Optimismus erwachsen kann, den man dann nur noch zu ernten braucht und …«

Jordan wandte sich wieder ihrem Leinenstoff zu und machte sich mit einem anderen Marker an die nächste Linie. »Was meinst du, wie viel Zeit wir noch haben?«

Zu Beginn hatte Hennessy sich gefragt, ob sie ihr Gesicht – ihr Leben – eines Tages mit zwei Dutzend Mädchen teilen würde. Mit fünfzig. Hundert. Tausend. Heute wusste sie, dass es dazu nicht kommen würde. Denn jedes Mal, wenn Hennessy eine Kopie von sich träumte, zahlte ihr Körper den Preis dafür, und dieser Preis stieg stetig.

Aufhören konnte sie trotzdem nicht. Weder mit dem Träumen an sich noch damit, sich selbst zu träumen.

Jede Nacht war in Zwanzig-Minuten-Segmente unterteilt; ihr Wecker riss sie aus dem Schlaf, bevor sie auch nur anfangen konnte zu träumen. Jeden Tag wartete sie auf das schwarze Blut, das ihr immer wieder aufs Neue vor Augen führte, dass sie das Träumen nicht ewig unterdrücken konnte.

Und bald würde es sie umbringen.

Es sei denn, Jordans Feenmarktplan ging auf.

Anstatt Jordans Frage zu beantworten, schlug Hennessy vor: »Du könntest den Stoff straff ziehen.«

Wenn man lange genug auf ein Rätsel starrte, fiel einem manchmal die Lösung ein, obwohl man gar nicht darüber nachgedacht hatte. Hennessys Blick war die ganze Zeit zwischen der Feenmarkteinladung und Jordans Arbeit hin und her gewandert und hatte unbewusst nach dem Unterschied gesucht. Stoff straff ziehen, Tinte auftragen, wieder loslassen und schon wäre der Schmiereffekt derselbe wie auf Brecks Vorlage.

»Natürlich«, stöhnte Jordan. Sie schüttelte den Kopf über sich selbst, schon halb im Aufstehen, um sich das nötige Material zu besorgen. »Und genau das ist der Grund, warum du hier sitzen solltest, nicht ich.«

Was selbstverständlich Blödsinn war. Jordan musste diese Fälschung erstellen, weil ihr die Sache nicht scheißegal war. So lautete die Regel: Diejenige, der ein Auftrag nicht scheißegal war, hängte sich rein mit allem, was sie hatte. Natürlich war es auch Hennessy nicht scheißegal, ob sie überlebte, aber unterm Strich war sie wohl einfach nicht so ganz überzeugt davon, dass der Plan mit dem Feenmarkt funktionieren würde.

Jordan schien ihre Gedanken gelesen zu haben – keine große Kunst, wenn man sich derart ähnlich war –, denn sie fügte hinzu: »Es wird schon klappen, Hennessy.« Und letztendlich war wohl das der entscheidende Unterschied zwischen ihnen beiden. Während Hennessy darüber nachdachte, vom nächsten Dach zu springen, dachte Jordan darüber nach, vom nächsten Dach zu springen und davonzufliegen.