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S chon nach dem ersten Tag war Farooq-Lane aufgegangen, dass Nikolenko in Bezug auf Parsifal Bauer komplett danebengelegen hatte. Der Junge war kein bisschen pflegeleicht, sondern lediglich passiv, und das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Er machte nichts, was er nicht ausdrücklich wollte, und oft fiel es einem erst zu spät auf, wenn er sich wieder mal vor irgendwas drückte oder einen manipulierte. Als Farooq-Lane ein Kind gewesen war, hatte ihre Familie eine Hündin gehabt, die ein ganz ähnliches Verhalten an den Tag gelegt hatte. Muna, ein schwarzer Hirtenhundmix mit fluffigem Fellkragen wie ein Fuchs. Sie war absolut folgsam, es sei denn, man verlangte etwas von ihr, wozu sie keine Lust hatte – Gassi gehen im Regen oder den Besuch im Wohnzimmer begrüßen. Dann plumpste sie wie ein lebloses Stofftier zu Boden und man musste sie hinter sich herschleifen, was die Mühe nie wert war.

So war Parsifal Bauer.

Zunächst einmal war er unerträglich wählerisch beim Essen. Farooq-Lane war eine exzellente Köchin (schließlich lag auch der Kochkunst ein klares und überaus köstliches System zugrunde) und der Meinung, dass gute Lebensmittel eine gute Zubereitung verdienten. Parsifal Bauer jedoch ließ sie dastehen wie eine Barbarin. Offenbar verhungerte er lieber, als eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, die nicht seinen persönlichen Qualitätskriterien entsprach, welche das im Einzelnen auch sein mochten. Suppen und Soßen wurden misstrauisch beäugt, Fleisch durfte keinesfalls rosa in der Mitte sein, Krusten an Backwaren jedweder Art waren eine Zumutung, kohlensäurehaltige Getränke ein Skandal. Einzig eine spezielle Art von Biskuitkuchen schien akzeptabel, jedoch nur ohne Glasur. Erdbeermarmelade, aber keine Erdbeeren. Gleich der erste Abend in Washington, D.C., war das reinste Desaster gewesen. Es war schon so spät, dass kaum mehr ein Laden offen war, und Farooq-Lane präsentierte Parsifal voller Stolz ein paar Sandwiches, die sie mühsam aufgetrieben hatte. Er beschwerte sich mit keinem Wort, rührte das Essen jedoch nicht an und starrte bis Mitternacht auf seinen Teller. Schließlich gab Farooq-Lane die Hoffnung auf.

Auch in anderen Lebensbereichen folgte er strengen Regeln. Er musste immer am Fenster sitzen. Ging niemals als Erster durch eine Tür. Wollte nicht ohne Schuhe gesehen werden. Gestattete niemandem, sein Gepäck zu tragen. Ging nie ohne Füller aus dem Haus. Wollte entweder von Opernmusik oder Stille umgeben sein. Musste sich dreimal täglich die Zähne putzen. Zog es vor, nicht in einem Doppelbett zu schlafen. Und schon gar nicht bei geschlossenem Fenster. Er weigerte sich, Leitungswasser zu trinken. Die Türen von Toilettenkabinen mussten von der Decke bis zum Boden reichen, ansonsten sah er sich außerstande, dort drinnen irgendetwas von Belang zu erledigen. Und niemals verließ er das Haus, ohne vorher zu duschen.

Morgens war er ja noch leidlich flexibel, aber im Laufe des Tages ging es mit ihm bergab, je müder er wurde. Abends war er ein einziges verkrampftes Bündel aus Zwängen und unterdrückten Bedürfnissen, schwermütig und verschlossen. Seine Stimmungsschwankungen waren so unvorhersehbar und radikal, dass Farooq-Lane sich nicht lange mit Mitleid aufhielt, sondern direkt zu Genervtheit überging.

Ihren ersten Streit hatten sie, als Parsifal herausfand, dass sie sich, auf Geheiß der Regulatoren, ein Hotelzimmer teilen mussten. Dabei handelte es sich schon um eine Suite, in deren Wohnbereich Parsifal auf dem Ausziehsofa nächtigen sollte, während Farooq-Lane den angrenzenden Raum für sich hatte. Allerdings war das Bad nur durch Farooq-Lanes Schlafzimmer zu erreichen – nicht auszudenken! – und natürlich bestand Parsifal darauf, die ganze Nacht das Fenster offen zu lassen. Draußen war es eiskalt, und Farooq-Lane wies ihn darauf hin, dass keinem von ihnen mit einer Lungenentzündung gedient wäre. Parsifal, der gerade dabei war, seine Liegefläche mit einem Haufen Sofakissen zu verkleinern, argumentierte, Farooq-Lane könne ja die Zwischentür zumachen. Farooq-Lane hielt dagegen, dass der Thermostat trotzdem reagieren und die Temperatur in der Suite in astronomische Höhen treiben würde. Damit war die Diskussion für sie beendet. Fertig. Sie gingen ins Bett.

Kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, öffnete Parsifal das Fenster.

Farooq-Lane verbrachte eine tropenheiße Nacht. Als sie am nächsten Morgen aufstand, war das Fenster zu, aber sie wusste genau, dass Parsifal es erst, unmittelbar bevor sie aus ihrem Zimmer gekommen war, geschlossen hatte. Sie stellte ihn zur Rede. Er gab sich uneinsichtig, stur. Das Fenster sei doch schließlich jetzt zu, also was wollte sie eigentlich?

So war Parsifal Bauer.

»Ich komm nicht mit«, eröffnete er ihr nun, während er mit krummem Rücken neben seiner Kissenfestung auf der Sofakante hockte.

Es war der Abend von Tag vier – nein, fünf, korrigierte Farooq-Lane sich. Oder sechs? Wenn man auf Reisen war, verlor man leicht den Überblick. Die Zeit dehnte sich aus oder knautschte sich zusammen, bis sie kaum mehr wiederzuerkennen war. Jedenfalls hatten Farooq-Lane und Parsifal inzwischen mehrere schweißtreibende Nächte in der Suite und unzählige Streits über heimlich geöffnete Fenster und Imbissessen vor einer Kulisse aus nichtssagender Hotelauslegeware und gewichtigen deutschen Opernklängen hinter sich. Bislang hatte Parsifal keine weitere Vision gehabt, also musste Farooq-Lane sich mit den Informationen aus seiner letzten begnügen. Sie und die anderen hatten Tage gebraucht, um zu eruieren, dass er den sogenannten Feenmarkt gesehen hatte – einen internationalen Schwarzmarkt, der erst nach Einbruch der Dunkelheit öffnete. Es war schwer zu sagen, was sie dort erwartete, aber da der Markt in Parsifals Vision erschienen war, musste dabei entweder ein Zed oder ein Visionär eine Rolle spielen.

Lock hatte ihr per Kurier eine Einladung zukommen lassen. Außer ihr waren keine weiteren Regulatoren in der Stadt, aber Farooq-Lane hatte eine Telefonnummer, unter der sie eine lokale Einsatztruppe als Verstärkung anfordern konnte, falls die Notwendigkeit bestand. Klartext: falls jemand getötet werden musste. Etwas getötet werden musste. Ein Zed.

»Du kannst aber nicht hierbleiben«, entgegnete Farooq-Lane. »Und der Befehl kommt nicht von mir. Sondern von denen da oben.«

Parsifal antwortete nicht, sondern begann schweigend, seine Wäsche zusammenzulegen, die Farooq-Lane in die Hotelwäscherei gegeben hatte.

»Ich werde Stunden weg sein«, erklärte sie. Sie hätte schon längst weg sein müssen . Der Himmel hinter den hässlich grauen Hotelvorhängen war bereits pechschwarz. »So lange kann ich dich nicht allein lassen. Was ist, wenn du eine Vision hast?«

Parsifal stülpte zwei sehr lange schwarze Socken ineinander und zupfte betont sorgfältig einen Fussel aus der Wolle, bevor er das Paar platt auf den Haufen fertig gefalteter Wäsche drückte. Er machte sich nicht mal die Mühe, ihr zu widersprechen; er blieb einfach sitzen. Und jetzt? Sollte sie ihn mit Gewalt mitschleifen?

Farooq-Lane verlor nie die Beherrschung. Als Kind war sie für ihre Gelassenheit bekannt gewesen – sowohl ihre Mutter als auch Nathan hatten einen Hang zu Wutausbrüchen gehabt. Ihre Mutter konnte über eine simple Telefonrechnung in unbändige Raserei verfallen, während Nathan manchmal tage- oder sogar wochenlang komplett entspannt wirkte, um dann plötzlich aus heiterem Himmel zu explodieren, ohne dass irgendjemand wusste, warum. Farooq-Lane dagegen war weder leicht zu provozieren noch neigte sie zu Frustreaktionen. Sie war schon mit einem kühlen Kopf zur Welt gekommen und liebte Pläne. Pläne zu schmieden, sie zu überarbeiten, sich akribisch daran zu halten. Solange es einen Plan gab, ein System, war Farooq-Lanes Welt in Ordnung.

Aber Parsifal Bauer trieb sie schlicht und ergreifend in den Wahnsinn.

»Essen«, stieß Farooq-Lane hilflos hervor. Sie hasste sich dafür, dass sie es derart an Eloquenz mangeln ließ und dann auch noch auf Bestechung zurückgreifen musste. »Komm mit und wir suchen dir was zu essen. Was du willst, ganz egal.«

»Jetzt hat doch gar nichts mehr auf«, wandte Parsifal besonnen ein.

»Doch, klar«, beharrte sie. »Komm, ich kaufe dir auch dunkle Schokolade. Siebzig Prozent Kakao. Neunzig. Und neues Mineralwasser.«

Er faltete weiter seine Wäsche, als hätte sie gar nichts gesagt. Farooq-Lane spürte ihren Blutdruck steigen. Hatte Nathan dasselbe gefühlt, bevor er seine Morde begangen hatte? Dieses finstere, pulsierende Verlangen?

Sie schob es weit von sich.

»Du kannst im Auto vor dem Hotel warten«, versuchte sie es weiter. »Mit deinem Handy. Wenn du eine Vision hast, schreibst du mir, und ich komme raus.«

Lock würde im Dreieck springen, wenn er von diesem erbärmlichen Kompromiss wüsste. Parsifal dagegen schien in keinster Weise bewusst zu sein, wie sehr Farooq-Lane ihm damit entgegenkam. In aller Seelenruhe drapierte er die Ärmel eines Pullovers mit Ellbogenflicken perfekt symmetrisch.

Farooq-Lane hatte keinen Schimmer, wie man einen Teenager dazu brachte, etwas zu tun, wozu er keine Lust hatte.

Zu ihrer Erleichterung jedoch stand Parsifal jetzt auf. Wählte ein paar Kleidungsstücke aus. Und machte sich damit auf den Weg zu ihrem Schlafzimmer.

»Was hast du vor?«, fragte sie.

Er drehte sich um, sein Blick hinter den winzigen Brillengläsern unergründlich. »Duschen.«

Die Tür fiel hinter ihm zu. Kurz darauf quäkte Musik aus seinem Handylautsprecher. Zwei Frauen schmetterten so volltönend und mit solch übertriebener Inbrunst drauflos, wie es nur in einer uralten Oper verzeihlich war. Dann fing die Dusche an zu rauschen.

Farooq-Lane schloss die Augen und zählte bis zehn.

Hoffentlich fanden sie diese Zeds schnell.