19

 

N iemand wusste, dass Declan wusste, dass Aurora Lynch geträumt war.

Schließlich war es ein Geheimnis und mit Geheimnissen wusste Declan umzugehen. Aber gleichzeitig war es eine Lüge, denn Niall erwartete, dass alle so taten, als wäre sie so real wie der Rest der Familie. Nun, Declan wusste auch mit Lügen umzugehen.

Diese machte sein Leben bloß ein wenig komplizierter als all seine anderen Geheimnisse und Lügen.

Oder vielleicht nicht komplizierter.

Sondern einsamer.

Aurora war nicht sofort am Tag von Nialls Tod eingeschlafen. Obwohl es eigentlich so hätte sein müssen. Sämtliche Kühe auf der Farm waren in Schlummer versunken. Die Katze. Die kleine Finkenfamilie, die ihr Nest in einem Baum vor dem Haupthaus gehabt hatte. Selbst die Kaffeemaschine, die sich stets warm angefühlt hatte, musste auf irgendeine Art lebendig gewesen sein und quittierte ihren Dienst. Jede einzelne von Nialls Traumkreaturen schlummerte innerhalb von Sekunden nach seinem Tod ein. Nicht so Aurora.

Es war ein Mittwoch gewesen. Daran erinnerte Declan sich genau, denn dieser Wochentag war für ihn über Jahre mit schlechten Nachrichten verbunden gewesen. War es noch immer. Soweit es sich einrichten ließ, legte er sich niemals Termine auf einen Mittwoch. Vermutlich war es bloß Aberglaube, aber Declan war noch heute überzeugt, dass die Wochenmitte selten Gutes brachte.

Auch am Donnerstag war Aurora noch wach. Wach? Schlaflos traf es wohl besser. Sie war die ganze Nacht aufgeblieben und nervös durchs Haus gestreift wie ein Tier, das eine nahende Naturkatastrophe spürte. Declan wusste, dass sie nicht schlief, weil er selbst auch hellwach war. Es sollte kein Donnerstag sein, an dem die Lynch-Brüder zu Waisen wurden.

Am Freitag nahm ein hohläugiger Ronan Matthew mit auf einen Spaziergang über die Heuwiesen und ließ Declan mit der Traumkreatur namens Aurora Lynch im Haus zurück. Declan war froh darüber. Er ertrug es kaum, Ronan anzusehen. Es war, als hätte sich in dem Moment, als sein Bruder Nialls Leiche gefunden hatte, etwas Finsteres in ihm eingenistet. Etwas, das im selben Maße erwachte, wie alles andere einschlief. Bislang war dies der beunruhigendste Aspekt der ganzen Situation – wohl weil er unmissverständlich deutlich machte, dass nichts je wieder sein würde wie früher.

Aurora wirkte träge an diesem Freitag. Verwirrt. Ständig setzte sie sich in Bewegung, um sich dann durch irgendwelche völlig alltäglichen Dinge von ihrem eigentlichen Vorhaben ablenken zu lassen. Spiegel. Waschbecken. Glas. Sie mied jede Art von Metall, schrak unvermittelt zusammen, wenn sie versehentlich einen Türknauf oder einen Wasserhahn berührte, nur um gleich darauf zurück in ihre Trance zu sinken.

Einmal sah Declan sie im Garderobenschrank wühlen. Immer wieder schob sie dieselben drei Mäntel auf der Kleiderstange hin und her und rang dabei kaum merklich nach Luft, als gäbe es nicht genug Sauerstoff im Raum. Ihre Augen waren glasig, die Lider halb geschlossen. Declan beobachtete sie eine ganze Weile lang und Furcht stahl sich in sein Herz. Furcht und eine böse Vorahnung.

Zu diesem Zeitpunkt war er sich noch sicher, dass niemand außer ihm die Wahrheit über sie kannte. Dass niemand außer ihm wusste, was passieren würde.

Armer Ronan, armer Matthew. Arme Lynch-Brüder. Sie hatten keine Ahnung, wie viel Schmerz ihnen noch bevorstand.

Als Aurora ihn schließlich bemerkte, wandte sie sich von den Mänteln ab und driftete auf ihn zu.

»Declan«, sagte sie. »Ich wollte spazieren gehen. Ich wollte …«

Declan stand reglos da, als sie ihn in die Arme nahm, stürmisch, ungelenk, und das Gesicht in seinem Haar vergrub. Er spürte sie schwanken. Ihren Herzschlag. Oder vielleicht spürte er auch bloß sich selbst. Sein eigenes Schwanken. Seinen eigenen Herzschlag. Wer wusste schon, ob sie überhaupt ein Herz besaß? Träume funktionierten nach anderen Regeln als Menschen.

Bald wäre er ganz allein, dachte er, ganz allein mit diesem neuen unheimlichen Ronan und mit Matthew, dessen Leben von ihm abhing, während irgendetwas dort draußen Jagd auf Lynchs machte.

»Das Testament liegt in der Zederntruhe in unserem Schlafzimmerschrank«, murmelte Aurora in sein Haar.

Declan schloss die Augen. »Ich hasse ihn«, flüsterte er.

»Mein tapferer Declan«, sagte Aurora und dann sank sie langsam zu Boden.

Arme Lynch-Brüder.

 

Und jetzt sah Declan Ronan auf ein Porträt starren, das stark, sehr stark an Aurora Lynch erinnerte. Es trug den Titel Die dunkle Dame und war der Grund, warum Declan zum Feenmarkt gewollt hatte.

Das Bild zeigte eine Frau mit goldenem, locker hochgestecktem Haar. Ihre Körperhaltung hatte etwas Sonderbares an sich, etwas Trotziges, so, wie sie leicht den Kopf nach vorne reckte und die Hände in die Hüften stemmte. Sie trug ein durchscheinendes lavendelblaues Kleid und ein Herrenjackett um die Schultern, als hätte es ihr soeben jemand umgelegt, damit sie nicht fror. Ihr Gesicht war dem Betrachter zugewandt, der Ausdruck darauf jedoch schwer zu deuten, denn ihre Augenhöhlen waren in dunkle, totenschädelgleiche Schatten getaucht. Alles auf dem Gemälde war schwarz, blau, braun, grau. Das Ganze strahlte eine Sehnsucht aus, die beinahe mit Händen greifbar war und die ein Unwissender möglicherweise als Zeichen für hochwertige Kunst gedeutet hätte. Declan aber wusste, dass dies die Magie eines Traumobjekts war. Das Werk trug eine vertraute Signatur.

Niall Lynch.

»Das ist von Dad«, sagte Declan.

»Ja, Scheiße, das seh ich auch.« Ronan klang wütend, was wenig Aufschluss über seine wahren Gefühle gab. Jede Emotion, die nicht Freude war, sah bei Ronan erst mal nach Wut aus. »Sind wir deswegen hier? Ich dachte immer, Dads Kram wäre dir egal.«

War er auch, aber Declan wollte dieses Gemälde.

Er brauchte es.

Es hatte jahrelang Colin Greenmantle gehört, jenem zwielichtigen Bostoner Sammler, der den Mord an ihrem Vater in Auftrag gegeben hatte. Vor einigen Monaten nun war Greenmantle selbst gestorben – unter ähnlich dubiosen Umständen –, woraufhin sich ein Kunsthändler, der sowohl Greenmantle als auch Niall gekannt hatte, mit Declan in Verbindung gesetzt hatte. Er hatte ihm den Schlüssel zu Greenmantles bizarrer Kollektion geboten.

Nehmen Sie alles von Ihrem Vater mit, was Sie wollen, hatte er gesagt. Ist schließlich mit Blut bezahlt.

Was ein großzügiges Angebot war. Überaus großzügig. Großzügigkeit im Wert von Zehntausenden von Dollar.

Ich will nichts davon, hatte Declan geantwortet.

Was er wollte, war unentdeckt bleiben. Unsichtbar. So tun, als wäre das alles niemals Teil seines Lebens gewesen.

Gar nichts . Doch er wusste, dass das gelogen war, noch bevor die Worte seinen Mund verlassen hatten.

Aber was war Declan Lynch, wenn nicht ein Lügner?

»Es gibt eine Legende über sie«, erzählte Declan nun, während Ronan weiter auf das Bild starrte, das zwischen mehreren anderen Leinwänden in einem der Stände lehnte. »Angeblich träumt man vom Meer, wenn man mit ihr unter einem Dach schläft.«

Angeblich trieb es Menschen in den Wahnsinn. Während Ronan ein Wohnheimzimmer in Harvard verwüstet hatte, war Declan in Boston gewesen und hatte sich die Überreste von Greenmantles Kunstsammlung angesehen. Er hatte in Erfahrung gebracht, dass Die dunkle Dame kurz nach Greenmantles Tod verkauft worden war und seither Dutzende Male den Besitzer gewechselt hatte. Niemand schien sie länger als ein paar Wochen behalten zu wollen. Und jetzt stand sie erneut zum Verkauf, diesmal auf dem Feenmarkt in Washington, D.C.

Das konnte kein Zufall sein.

»Ich würde es gern kaufen, wenn ich es mir leisten kann«, fuhr Declan fort. Die Lynch-Brüder waren zwar reich, aber nicht unermesslich. Niall hatte jedem von ihnen einen Teil seines Besitzes hinterlassen – seinem Lieblingssohn die Schober, dem Lieblingssohn seiner Frau ein unbebautes Stück Land im nordirischen Armagh und dem Sohn, der noch übrig blieb, ein gesichtsloses Stadthaus im Washingtoner Vorort Alexandria. Außerdem hatten sie jeder eine Geldsumme erhalten, mit der sich einige Jahrzehnte ein komfortables Mittelstandsleben führen ließ, solange man nicht zu viele Autos, Krankenhausaufenthalte oder übernatürliche Gemälde damit bezahlte. »Also setz dein Pokerface auf.«

»Setz dein Pokerface auf«, äffte Ronan ihn leise nach, tat jedoch wie geheißen, während sie sich dem Stand näherten.

Der Verkäufer sah nicht aus wie jemand, der in der Kunstbranche tätig war. Er sah aus wie jemand, der eigentlich ein Fitnessstudio führen müsste, jemand, der von einem Werbeplakat für seinen selbst entwickelten Powerlifting-Trainingsplan strahlen und Proteinshakes promoten müsste, bevor er wegen Steroidmissbrauchs eingelocht wurde und alles verlor. Sein Haar war zu Stacheln hochgegelt, die genauso vor Kraft zu strotzen schienen wie seine Muskeln.

»Wie viel soll das da kosten?«, fragte Declan. »Das mit der blonden Frau?«

»Zwanzigtausend und die kleine Lady gehört Ihnen«, sagte der von Leinwänden umgebene Mann. »Was für ’ne Ausstrahlung, oder? Tolle Puppe. Wenn die’s nicht faustdick hinter den Ohren hat, dann weiß ich auch nicht.«

Declan kalkulierte den Tonfall und die Körpersprache des Händlers sowie die Platzierung des Gemäldes am Verkaufsstand, um abzuwägen, welchen Wert der Mann dem Bild zumaß. Und ganz nebenbei prägte er sich auch noch seine Ausdrucksweise ein. Insgeheim pflegte Declan nämlich eine Sammlung von Wörtern und Phrasen. Die kostete ihn keinen Cent und niemand musste je davon erfahren – das perfekte Hobby also.

Er sagte: »Für ein Gemälde von irgendeinem Nobody?«

Ronans Blick bohrte Löcher in die Seite seines Schädels. Es wäre wirklich von Vorteil, dachte Declan, wenn sein Bruder mal begreifen würde, dass hier und da eine Lüge durchaus angebracht war.

»Das lässt einen vom Meer träumen«, entgegnete der Mann. »Meine kleine Tochter meinte gleich am ersten Tag nach dem Mittagsschlaf, sie hätte vom Strand geträumt, da hab ich mich auch direkt aufs Ohr gehauen. Und verflucht noch mal, sie hatte recht. Ab an den Strand, jede Nacht, seit ich das Bild im Haus hatte. Wie ’n Gratisurlaub! Hand drauf.«

»Solcher Humbug interessiert mich nicht«, sagte Declan. »Ich suche einfach nur ein Bild für mein Esszimmer. Dreitausendfünfhundert.«

»Zwanzigtausend und dabei bleibt’s.«

Die Preispolitik bei fantastischen Objekten war äußerst subjektiv. Wie viel war das Gefühl wert, etwas zu besitzen, das es streng genommen gar nicht geben durfte, etwas aus einem Zauberreich, zu dem man als normaler Mensch keinen Zugang hatte, etwas, das einem den Glauben daran zurückgab, dass das eigene Dasein noch mehr zu bieten hatte? In der Regel lautete die Antwort: viel. Declan hatte keine Ahnung, wie stark er den Mann würde herunterhandeln können. Aber zwanzigtausend würden ein dickes Loch in sein sorgsam gehegtes Budget reißen. Eine haarsträubende Summe für ein ebenso haarsträubendes Unterfangen. »Viertausend.«

»Neunzehn.«

»Ich will ja kein Spielverderber sein«, sagte Declan rundheraus, »aber das hier ist mein letztes Angebot: fünfzehn.«

Der Mann willigte ein und nahm das Geld. »Ich pack’s Ihnen sofort ein.«

Jetzt gibt es kein Zurück mehr, dachte Declan.

Ronan hatte sich unterdessen zu dem Gemälde auf den Boden gekniet. Seine Hand schwebte vor dem Gesicht der Frau, ohne die Leinwand zu berühren. Er war sichtlich bewegt über dieses Wiedersehen mit Aurora; Ronan war nicht mal in der Lage, durch seine Körpersprache zu lügen. Aus irgendeinem Grund hatten all die Enthüllungen über Niall und Aurora nichts an dem geändert, was Ronan für sie empfand. Declan beneidete ihn. Um seine Fähigkeit zu lieben und zu trauern gleichermaßen.

Der Verkäufer war kurz verschwunden und kam nun mit einer Rolle Packpapier und einem dicken, zerfledderten Kassenbuch zurück.

Declan beäugte das Buch. »Was ist das denn?«

»Ich brauche Ihren Namen und die Postleitzahl. Das Gemälde ist registriert«, erklärte der Mann. »Die Verkäufe werden nachverfolgt.«

Das war äußerst ungewöhnlich für einen Markt, dessen oberste Maxime Diskretion war. Wenn ein Objekt nachverfolgt wurde, dann war es in der Regel gefährlich, irrsinnig wertvoll oder es war irgendeine Form von organisierter Kriminalität im Spiel.

Declan beschlich ein ungutes Gefühl. »Von wem?«

»Boudicca«, antwortete der Verkäufer.

Der Name sagte Declan nichts, aber das Ganze gefiel ihm immer weniger. Er mochte keine Unwägbarkeiten beim Geschäftemachen. »Ich zahle Ihnen die neunzehn, wenn Sie es mir unter der Hand geben.«

Der Muskelprotz schüttelte bedauernd den Kopf. »Nichts zu machen, tut mir leid.«

»Fünfundzwanzig.«

»Keine Chance. Nicht bei Boudicca. Das ist es nicht wert.«

Declan überlegte. Es war schlimm genug, dass er überhaupt hatte hierherkommen müssen, wo unzählige Leute ihn erkannten. Aber hierherzukommen und infolge des Kaufs eines der alten Träume seines Vaters registriert zu werden, war ungleich schlimmer. Und außerdem gefiel ihm der Tonfall des Mannes nicht, in dem er Boudicca sagte. Es klang mächtig. Böse. Nein, das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Er hatte an diesem Abend schon einmal seine Visitenkarte abgegeben und das war gefährlich genug gewesen.

»Tja, dann bin ich raus«, sagte Declan. Er streckte die Hand aus, um das Geld zurückzufordern. »Tut mir leid.«

»Ach, kommen Sie«, versuchte der Mann, ihn umzustimmen. »Der Deal war doch schon so gut wie in trockenen Tüchern.«

»Tut mir leid.«

Der Typ schob ihm das Kassenbuch hin. »Ich brauch ja keine Adresse. Bloß Namen und Postleitzahl. Mehr nicht. Die gibt man bei jedem Starbucks-Drive-in an. Die schmiert man an Toilettenwände.«

Declans Hand blieb ausgestreckt.

Ringsum ging das geschäftige Markttreiben weiter. Irgendwo am anderen Ende der Bibliothek erhob sich ein Tumult. Fußgetrappel. Laute Stimmen. Es war gefährlich hier; Orte wie dieser waren immer gefährlich. Das war Declan klar gewesen, aber er war trotzdem hergekommen. Mit Ronan im Schlepptau. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt, um dieses Gemälde aus seiner Vergangenheit zurückzubekommen. Er hätte es besser wissen müssen.

Die dunkle Dame starrte ihn argwöhnisch an.

»Lynch«, sagte Ronan unvermittelt.

Declans Kopf und der des Händlers ruckten herum. Einen Moment lang war Declan nicht sicher, ob Ronan tatsächlich etwas gesagt hatte oder ob es Einbildung gewesen war.

»Ronan Lynch, 22740

Am liebsten hätte Declan ihn erwürgt. An Ort und Stelle.

Der Mann notierte sich die Angaben. Declan spürte, wie ihn ein Schauder überlief, als er die Worte auf Papier sah. Ronan. Lynch. Ein Geheimnis, gelüftet. Eine Wahrheit, für alle Zeiten dokumentiert. Wie er so was hasste. Lügen wäre so viel eleganter gewesen. Einfach das Gemälde und all das, was es versprach, zurückstellen und gehen.

Der Mann hob das Porträt der goldblonden Frau hoch und überreichte es Ronan.

»Viel Spaß am Meer.«