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D u hattest recht«, staunte Farooq-Lane.

»Ich weiß«, erwiderte Parsifal steif.

Sie saßen in Farooq-Lanes Mietwagen vor dem Gelände, auf dem einst das Carter Hotel gestanden hatte. Parsifal hatte das Hotel in seiner Vision brennen sehen, und genauso war es eingetreten. Dabei schien kaum genug Zeit vergangen zu sein für ein solches Ausmaß der Zerstörung. Irgendetwas hätte doch noch stehen müssen, dachte Farooq-Lane. Säulen, Schornsteine. Reste eines steinernen Skeletts, das in den blauen, blauen Himmel ragte. Doch vor ihnen erstreckte sich nichts als eine riesige schwarze, von Reifenspuren durchzogene Fläche. Gründlicher hätte man ein Gebäude nicht dem Erdboden gleichmachen können, egal, wie sehr man sich bemühte. Das war definitiv kein Unfall gewesen.

»So war das nicht gemeint«, lenkte Farooq-Lane ein. »Es war keine Kritik an dir, sondern an mir.«

Sie spürte, wie er sie beobachtete, während sie an ihrem Becher nippte. Sie hatte vorgeschlagen, irgendwo Kaffee zu holen (»Von mir aus.« – »Trinkst du ihn denn auch?« – »Wahrscheinlich nicht.«), und dann alle Hebel in Bewegung gesetzt, um einen anständigen Laden zu finden. Sie vermisste guten Kaffee, gute Arbeit – kurz, ihr gutes Leben –, und dass es jetzt eine brauchbare Vision gegeben hatte, erschien ihr Grund zum Feiern genug, um sich wenigstens etwas davon mal wieder zu gönnen.

Jetzt, mit einem Espresso in der Hand, fühlte sie sich so sehr wie sie selbst wie schon lange nicht mehr. Parsifal mit seinem Kakao erinnerte dagegen an einen Haufen Wäsche, den man zu früh aus dem Trockner genommen hatte. Nichts an seiner Körpersprache deutete darauf hin, dass er sein Heißgetränk genoss.

»Hast du gesehen, wie es dazu gekommen ist?«, fragte sie. »Ob es Brandstiftung war?«

Parsifal antwortete nicht. Er fuhr bloß sein Fenster runter und atmete ein paarmal tief ein. Die Luft roch nach Asche. Übelkeit erregend. Sein Gesichtsausdruck passte dazu.

»Lock wollte wissen, ob wir irgendwas tun können, was die Sache für dich erträglicher macht«, sagte Farooq-Lane. »Irgendwas, damit du dich wohler fühlst. Fällt dir vielleicht etwas ein?«

Er drückte schweigend auf den Radioknöpfen herum.

Farooq-Lane war entschlossen, sich nicht die gute Laune verderben zu lassen, und erst recht nicht den guten Kaffee. »Geld spielt keine Rolle.«

»Ich hätte gern ein Stück Bienenstich, so, wie meine Mutter ihn mir immer gemacht hat«, sagte Parsifal und schaffte es irgendwie, das klingen zu lassen, als hätte Farooq-Lane schlecht über seine Mutter geredet. Seine langen Finger ließen von den Radioknöpfen ab und zogen sich zusammen wie die Beine einer sterbenden Spinne. Er hatte einen Opernsender gefunden. Ein sonorer Bariton knödelte drauflos. »Und das geht nun mal nicht.«

Farooq-Lane googelte rasch Bienenstich, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Sie waren schließlich in Amerika; in einer Metropole wie dieser konnte man sich per Uber Eats oder Expresslieferung so gut wie alles bestellen, solange man findig war und über eine gültige Kreditkarte verfügte. Nach ein paar Minuten jedoch musste sie feststellen, dass ihr ihre Kreditkarte in Bezug auf Bienenstich wohl nicht weiterhelfen würde. Wie es schien, handelte es sich um eine eher langweilige deutsche Kuchensorte, die im Umkreis von Washington, D.C., bislang noch keine rechte Abnehmerschaft gefunden hatte. Ein Onlineversand für die Backware schien genauso wenig zu existieren wie ein amerikanisches Äquivalent.

Warum konnte er sich nicht einfach ein schnelles Auto wünschen, dachte sie genervt, oder Sex oder wovon auch immer normale Jungs in dem Alter träumten?

Hastig schrieb sie eine Nachricht an Lock. Besorgen Sie mir Bienenstich.

Dann fragte sie: »Kann ich dich irgendwie dabei unterstützen, dich an die Details deiner Vision zu erinnern? Wie wär’s, wenn du mir etwas genauer davon erzählst? Dann können wir uns zusammen darüber Gedanken machen. Vielleicht kitzeln wir so ein bisschen was hervor.«

Er sah nach draußen auf das Aschefeld. »Warum machen Sie das alles?«

»Aus demselben Grund wie du«, sagte sie.

Parsifal sah sie verwirrt an, seine Augen blinzelten überrascht hinter den Brillengläsern. »Was?«

»Ich hab gesagt, ich mache das hier aus demselben Grund wie du«, wiederholte Farooq-Lane. »Um die Welt zu retten. Was ist daran so erstaunlich?«

Er starrte nur noch entgeisterter. »Was?«

»Willst du mir vielleicht erzählen, dass du nicht hier mit mir in diesem Auto sitzt, um den Weltuntergang und damit die Ausrottung der gesamten Menschheit zu verhindern?«

»Was?«

»Du hast doch gefragt!«

Er schüttelte den Kopf und beäugte sie argwöhnisch. »Ich hab kein Wort gesagt.«

Farooq-Lane stellte ihren Kaffee ein wenig nachdrücklicher als nötig zurück in den Becherhalter. Ihre Hände hatten wieder zu zittern angefangen. In Gedanken ließ sie die letzte Minute Revue passieren. Hatte Parsifal wirklich etwas gesagt? Oder hatte sie stattdessen Nathans Stimme gehört, der sie aufzog, wie er es schon zu Lebzeiten getan hatte?

»Entschuldige«, sagte sie. »Ich glaube, ich bin ein bisschen angeschlagen.«

Parsifal warf ihr einen – ziemlich unverschämten – Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, dass er ihr in dem Punkt zustimmte. Dann sagte er: »Das da war er.« Er zeigte auf zwei schwarze Streifen, die sich bis auf die Straße zogen. »Daran erinnere ich mich. Ich hab’s gesehen. Wie sein Auto die Spur hinterlassen hat. Heute. Ich bin mir ganz sicher, dass es heute war.«

Farooq-Lanes Herz schlug ein bisschen schneller. Das war doch schon mal ein Anfang. Genauso waren sie Nathan auf die Schliche gekommen. Anhand von einzelnen kleinen Puzzleteilen, die nach und nach ein immer klareres Bild ergaben. Punkte, die man von einer To-do-Liste abhaken konnte und die Lock vor Augen führen würden, dass sein Vertrauen in sie gerechtfertigt war. »Gut. Das ist sehr gut, Parsifal. Und was ist danach passiert? Wo müssen wir hin?«

Parsifals Finger schlossen sich ein wenig fester um seinen Kakaobecher. »Danach war nicht mehr viel zu erkennen.«

»Versuch’s einfach.«

»Ich hab ihn in einem dunkelgrauen Auto gesehen. Und … und auch in einem weißen. Aber ich glaube, das graue war richtig. Ein BMW . Wahrscheinlich. Keine Ahnung. Irgendwie ist in letzter Zeit alles verworrener als früher. Da konnte ich noch sagen, ob … da wusste ich, wenn …« Er verstummte, den Mund qualvoll verzogen.

»Es macht nichts, wenn die Bruchstücke keinen Sinn ergeben«, ermutigte Farooq-Lane ihn. »Erzähl mir einfach alles. Dafür bin ich ja hier.«

»Ich hab so was gesehen.« Parsifal zeichnete eine leicht obszön anmutende Figur in die Luft. »Eine Straße. Aber ich weiß das englische Wort dafür nicht.«

»Mit einem Schlagbaum?«

Parsifal versuchte es mit einer vertikalen und einer etwas kürzeren horizontalen Linie direkt obendrüber.

»Eine T-Kreuzung?«

Jetzt zeichnete er mit dem Finger etwas aufs Armaturenbrett. »Das hier ist die Straße, Häuser, Häuser, Häuser, bitte wenden, Häuser, Häuser, Häuser.«

»Eine Sackgasse«, riet Farooq-Lane.

Seine Miene hellte sich auf. »Ja, kann sein.«

»Hier in der Nähe?«

»Weit kann er ja nicht sein, wenn die Reifenspuren da noch so deutlich zu sehen sind«, schlussfolgerte er. »Jedenfalls scheinen noch nicht viele andere Autos durchgefahren zu sein.«

Erleichtert, endlich einen Plan zu haben, öffnete Farooq-Lane die Karten-App auf ihrem Handy und zoomte heran, bis sie einen guten Überblick über die unmittelbare Umgebung hatte. Im schlimmsten Fall gab es keine Sackgasse in der Nähe. Im realistischsten Fall gab es mehrere. Im besten Fall gab es innerhalb weniger Meilen nur eine einzige.

Sie hatten Glück.

Parsifal, der über ihre Schulter spähte und ihr dabei durch den Mund ins Ohr atmete, begann aufgeregt zu zappeln und ließ dabei etwas von seinem Kakao auf das Display schwappen. Farooq-Lane gab einen leisen unwirschen Laut von sich. Er schaffte es einfach immer wieder.

»Da, da, da«, sagte er. »Andover. Das ist das Wort, das ich gesehen hab. In der Straße da ist der Zed.«

Und mit einem Mal hatten sie nicht nur einen Plan, sondern auch ein Ziel.

Parsifal fuhr sein Fenster wieder hoch und stellte seinen Kakaobecher sicher hinter Farooq-Lanes in den zweiten Halter.

Farooq-Lane dachte an die Worte der Wahrsagerin.

Wenn du einen Menschen tötest und nicht willst, dass jemand es erfährt, dann tu es nicht dort, wo die Bäume dich sehen.

Sie erschauderte. Sie machte das alles hier aus einem guten Grund. Um die Welt zu retten.

»Dieser Zed«, fragte sie, während sie anfuhr. »Der aus deiner Vision, war der bewaffnet? War er gefährlich?«

Von dir hätte ich mehr Einsicht erwartet, Carmen.

Sie träumte nachts noch immer von Nathan, der erschossen wurde, und von Nathan, der plötzlich wieder lebendig war. Sie wusste nicht, was von beidem ihr mehr Angst machte.

»Nein«, antwortete Parsifal. »Daran erinnere ich mich genau. Er wirkte ziemlich hilflos.«

»Okay, dann schnappen wir ihn uns.«