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R onan erwachte. Langsam. Zäh. Seine Wimpern klebten zusammen.

Er lag reglos da, wie versteinert, und sah von oben auf sich herunter. Ein atemberaubend heller, goldglühender Sonnenstrahl stach ihm in den Augen, aber er konnte den Kopf nicht abwenden. Aus einem seiner Nasenlöcher schlängelte sich ein dünnes schwarzes Rinnsal. Der Rest seiner Haut war sauber.

Er lag auf dem Rücksitz seines BMWs, eins von Matthews Schulsweatshirts als Kissen unter den Kopf geknüllt. Seine Hände waren auf der Brust gefaltet, wie er sie selbst niemals dort positioniert hätte. Im Auto herrschte ein seltsames Licht; es schien weder Tag noch Nacht zu sein. Abgesehen von dem leuchtenden Sonnenstrahl war es dunkel. Ronan verstand gar nichts. Weder, wie er auf den Rücksitz gelangt war, und erst recht nicht, was er aus seinem Traum mitgebracht hatte.

Er hielt etwas zwischen Hände und Brust geklemmt, doch die Form ergab keinen rechten Sinn. Es schien sich zwar nicht zu bewegen, aber was hieß das schon? Vielleicht war es ja einer der Killerkrebse, der noch darauf wartete, vom Licht geweckt zu werden. Vielleicht war es ein körperloser Schrei. Es konnte alles sein. Auch die Erinnerungen an seinen Traum lieferten keine Hinweise. An diese Einöde aus unzähligen sich windenden Dunkelheiten und Brydes sanft daraus emporsteigende Stimme.

Endlich kehrte wieder Leben in Ronans Körper zurück.

Vorsichtig hob er die Hände. Ein zerbrochener Schwertgriff kam zum Vorschein, die Ummantelung komplett schwarz, wie das Soulages-Gemälde vom Feenmarkt, bei dem selbst einem Declan Lynch verdammt noch mal die Tränen kamen. Die mattschwarze Klinge war knapp unterhalb des Hefts abgebrochen. Auf den Griff waren drei sehr kleine Wörter gedruckt, ebenfalls in Schwarz und nur zu sehen, wenn das Licht im richtigen Winkel darauf fiel: ZUM ALBTRAUM ERWECKT .

Er erinnerte sich nicht, davon geträumt zu haben.

Möglicherweise hatte Bryde ihm soeben das Leben gerettet.

Was ein seltsames Gefühl war, zu komplex, um als gut oder schlecht klassifiziert zu werden. Die Erkenntnis, dass die Welt um einiges größer und unergründlicher war, als er es ihr zugetraut hatte, war schon überwältigend genug. Dass diese Welt nun auch noch auf seiner Seite sein sollte, war nahezu unvorstellbar.

Er setzte sich auf und versuchte, sich zu orientieren.

Das Weder-Tag-noch-Nacht-Licht rührte daher, dass der BMW in einem alten Schuppen oder Unterstand geparkt war. Die mehr oder weniger provisorisch hingezimmerten Seitenwände wirkten ziemlich ramponiert, und der Lichtstrahl, der Ronan in den Augen gebrannt hatte, fiel durch eine Lücke herein, wo ein Brett fehlte.

Die Fußräume der Rückbank waren voller zusammengeknüllter, schwarz getränkter Taschentücher. Er hatte doch gar keine Taschentücher im Auto gehabt. Oder? Nein, er hatte sich mit Tankquittungen das Gesicht abwischen müssen. Der Fahrersitz war weit nach vorne gestellt, wodurch ein ehemals darunter verborgenes Müllnest zum Vorschein kam, und auf der Fußmatte waren zwei schwarze Schuhabdrücke zu erkennen, zu klein, um Ronans eigene zu sein. Jemand hatte seinen Autoschlüssel auf die Mittelkonsole gelegt, wo er ihn ganz sicher sehen würde.

Es kam ihm vollkommen falsch vor, an einem Ort einzuschlafen und an einem anderen wieder aufzuwachen, anstatt einzuschlafen und bloß seinen Geist an einen anderen Ort reisen zu lassen. Alles an diesem Tag war wie auf links gedreht.

Ronan öffnete die Autotür und stieg schwankend aus. Der ausgedörrte Boden war voller Hufabdrücke – anscheinend war er in einer Art Offenstall gelandet. Er trat ins Freie, schirmte seine Augen vor den schrägen Strahlen der Nachmittagssonne ab und machte sich ein Bild von der Umgebung. In der Ferne standen ein paar Pferde, die seelenruhig weitergrasten, während er den Blick über die schmale, leicht ansteigende Weide schweifen ließ. Ein Pfad aus platt getretenem Gras führte vom Stall zu einem Tor und dann weiter zu einer zweispurigen Straße voller Schlaglöcher.

Von dem weißen Auto war nichts zu sehen. Und auch sonst von keinem.

Ronan zog sein Handy aus der Tasche und öffnete die Karten-App. Er befand sich vierzig Minuten nordwestlich der Stadt und damit nicht einmal annähernd auf dem Weg zurück zu den Schobern.

Langsam erschloss sich ihm, was passiert sein musste. Einer der beiden – vermutlich die Frau, dem nach vorne gestellten Sitz nach zu urteilen – musste ihn aus der Stadt gefahren haben, damit er träumen konnte, ohne dass seine zwei widerstreitenden geasa ihn in Schwierigkeiten brachten. Sie hatte sein Auto versteckt. Ihm das Gesicht abgewischt. Den Schlüssel so hinterlegt, dass er ihn auf Anhieb finden würde. Und dann war sie weggefahren, zusammen mit diesem lynchgesichtigen Mann, und hatte Ronan mit mehr Fragen als Antworten zurückgelassen.

Die beiden hatten seinen Körper vor Schaden bewahrt und Bryde seinen Geist und doch waren alle drei ihm ein größeres Rätsel denn je.

Frustriert rammte Ronan die Fußspitze in den Boden.

Einen Schritt vorwärts, zwei zurück.

Halt durch, Kumpel.