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H ennessy.«

Es war Hennessys Schuld.

Darauf ließen sich die meisten Probleme der Mädchen zurückführen. Sie konnten weder aufs College gehen noch einen Job annehmen, der eine Sozialversicherungsnummer erforderte: Hennessys Schuld. Sie hatten Hausverbot im Nine O’Clock Club: Hennessys Schuld. Bei schlechtem Wetter taten ihnen die Weisheitszähne weh: Hennessys Schuld. Sie mussten in mühseliger Kleinarbeit ein Gemälde fälschen und anschließend das Original klauen, anstatt einfach ein bisschen Krempel zu Geld zu machen und das Bild zu kaufen: Hennessys Schuld.

Alles an der Sache mit der Dunklen Dame war Hennessys Schuld.

»Hennessy.«

Im Jahr zuvor hatte Hennessy eine John-Everett-Millais-Fälschung an Rex Busque verkauft, einen Muskelprotz, der mit Porträts und präraffaelitischen Artefakten handelte und langjähriger Teilnehmer des Feenmarkts war. Das Bild zeigte eine junge Frau mit tizianrotem Haar, die sich eine Karte an die Brust drückte, und zwar so verdeckt, dass dem Betrachter die Entscheidung überlassen blieb, ob es sich um eine Spielkarte, eine Tarotkarte oder etwas vollkommen anderes handelte. Ihr Blick verhieß lediglich, dass die mysteriöseste Option von allen zutraf. Die Fälschung war einen Hauch gewagter als Hennessys übliche Projekte. Sicherer wären ein paar unscheinbare Skizzen oder unvollendete Werke gewesen. Busque aber, der ein wenig in finanzielle Schwierigkeiten geraten war und daher etwas brauchte, was in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Geld einbrachte, hatte nach etwas mit mehr Wumms verlangt. Hennessy hatte ihn noch gewarnt, dass ein solcher »Fund« zu viel Aufsehen erregen würde, um nicht genauer unter die Lupe genommen zu werden, und höchstens an irgendeinen privaten Sammler in Übersee verkauft werden durfte.

»Hennessyyyy.«

Natürlich war der ganze Schwindel direkt in der ersten seriösen Galerie aufgeflogen, an die Busque das Bild zu verscherbeln versucht hatte. Millais hatte seine Kompositionen direkt auf die Leinwand gebracht, mitsamt den Bleistift-Unterzeichnungen, die Hennessy jedoch ausgelassen hatte. Und nachdem der erste Zweifel gesät war, fielen in rascher Folge sämtliche anderen Dominosteine: Die Pinselführung sei zu grob, das Finish zu glänzend, und wo, sagten Sie, haben Sie das Werk entdeckt?

Hennessy zeigte sich vollkommen ungerührt. Sie habe ihn gewarnt, sagte sie; selbst schuld, wenn er ein zu fauler Sack war, um eine ausländische Telefonnummer rauszusuchen.

Und natürlich musste ein paar Monate später Die dunkle Dame ausgerechnet bei ihm landen.

»Ich würde ein Bild lieber verbrennen, als es dir zu verkaufen«, hatte er Hennessy gegenüber verkündet.

Hennessys Schuld.

Ohne die anderen hätte sie schon längst aufgegeben.

Sie hatte es so satt.

»Heloise«, sagte Jordan. Hennessy sah nicht hoch, aber sie wusste, dass es Jordan war; nur Jordan nannte sie so. Hennessy hieß nicht Heloise. Aber das war ja gerade der Witz. »Taschentuch?«

Hennessy war klar, was los war, aber ein Taschentuch würde da auch nicht helfen. Sie lag auf den Küchenfliesen und rauchte, während ihr ein dünnes schwarzes Rinnsal vom Nasenloch über die Wange lief.

Sie hatte zu lange nicht mehr geträumt.

Und nachdem ihr Plan gescheitert war, würde eine weitere Kopie wohl bald unausweichlich sein. Eine weitere Blüte an dem Tattoo um ihren Hals. Ein weiterer Schritt Richtung Tod. Ein weiterer Schritt auf den Tag zu, an dem sämtliche Mädchen in dieser Küche in ewigen Schlaf fallen würden.

Hennessys Schuld.

»Hat es gerade erst angefangen?«, fragte June. Arme June. Sie war stets so bemüht, die Zweitbeste darin, aufzutauchen, wenn man sie brauchte, und die Beste darin, einen legalen Teilzeitjob zu halten. Wie Hennessy trank sie zu viel und mochte Hunde. Anders als Hennessy glättete sie ihr Haar und mochte auch Katzen. Sie war die zweitälteste der noch lebenden Kopien, was sie zur vielschichtigsten nach Jordan machte.

Arme Jordan. Sie hatte das alles nicht verdient. Keine von ihnen hatte das, aber am allerwenigsten sie.

»Hat es jemals wirklich aufgehört?«, entgegnete Hennessy. »Also, wenn man das große Ganze betrachtet?«

Die Mädchen putzten gemeinsam die in strahlendem Weiß gehaltene Küche, die komplett verwüstet war. Aber das war der Normalzustand. Der Raum wurde immerhin von sechs Kunstfälscherinnen genutzt, die dort Pastellkreide anspitzten, Farben mischten, Klebstoff anrührten, Papier beizten oder Pizza aufwärmten, und von all diesen Komponenten fanden sich derzeit Reste auf Boden und Arbeitsflächen, neben Staubmäusen und dem einen oder anderen ausgeschlagenen Zahn nach Brecks Einbruch. Die tief stehende Abendsonne, die vom Garten hereinfiel, erleuchtete Farbspritzer auf dem Marmorboden, Spinnweben zwischen den über dem Herd aufgehängten Kupfertöpfen und eine Ansammlung von Imbisspappschachteln auf der Kücheninsel.

»Wisst ihr, wer mich echt mal kann?«, fragte Madox. Sie klang entnervt. So klang sie meistens. Es war, als hätte sie hauptsächlich Hennessys aufbrausendes Temperament geerbt. »Busque, dieser verschissene Schrotthändler.«

»Wenn du nichts kannst als schlechte Stimmung verbreiten, verpiss dich lieber nach draußen«, riet June. Sie klang sachlich. So klang sie meistens. Es war, als hätte sie hauptsächlich Hennessys Pragmatismus geerbt. »Wie ist denn jetzt der Stand der Dinge?«

»Dieser Lynch hat es sich unter den Nagel gerissen«, antwortete Hennessy.

»Der wohnt auch hier in der Gegend«, fügte Madox hinzu. »Ich hab seine piekfeine Hütte gesehen. Also, ich wäre ja immer noch dafür, dass wir ihn kaltmachen.«

»Du bist wirklich die Blödste von uns«, stellte June fest. »Der arbeitet für einen Senator. Was meinst du, wie schnell so was in den Nachrichten landet? Viel zu riskant.«

»June hat recht«, stimmte Trinity nachdenklich zu. Sie klang meistens nachdenklich und unzufrieden mit sich selbst. Es war, als hätte sie hauptsächlich Hennessys Selbsthass geerbt. »Dann müssten wir hier abhauen, und das wäre es nur wert, wenn Die dunkle Dame funktioniert.«

Hennessy wechselte einen Blick mit Jordan, die mit ein paar Pinseln in der Hand an der Arbeitsplatte lehnte. Es war schwer zu sagen, was ihr durch den Kopf ging. Sie betrachtete das schwarze Rinnsal in Hennessys Gesicht und strich mit dem Finger über ihr eigenes Blumentattoo, eine perfekte Reproduktion von Hennessys.

Jordan hätte es von allen Mädchen am meisten verdient gehabt, ihr eigenes Leben zu führen. Sie war nicht Hennessy. Sie war Jordan. Ein eigenständiger Mensch, der lediglich in Hennessys verkorkstem Leben gefangen war.

Hennessys Schuld.

»Ich hab keine Lust, mir mit noch einer von euch das Bad teilen zu müssen«, seufzte Hennessy.

»Können wir ihm das Bild nicht abkaufen?«, meldete sich Brooklyn zu Wort, die mit einem Kehrblech voller Pastellkreidebrösel an der Spüle stand. Was ein geradezu schockierender Vorschlag war, denn Brooklyns Vorschläge waren meistens anzüglicher Natur. Es war, als hätte sie hauptsächlich Hennessys sexuelle Freizügigkeit geerbt.

»Wenn er es nicht verkaufen will, muss er uns irgendwie auf die Schliche gekommen sein, oder?«, überlegte June.

»Vielleicht sollten wir’s einfach aufgeben. Wer weiß, ob es überhaupt funktionieren würde«, sagte Madox.

»Ganz miese Einstellung, Mad«, rügte June.

»Du solltest echt wissen, dass so was hier nicht gut ankommt«, pflichtete Trinity ihr bei.

Der Plan mit der Dunklen Dame war einfach. Die Legende, die sie umgab, war hinreichend dokumentiert: Wer mit der Dame unter einem Dach schlief, träumte vom Meer. Und genau das wünschte Hennessy sich anstatt ihres üblichen wiederkehrenden Albtraums. Dann könnte sie einfach eine Möwe, ein bisschen Sand oder anderen Strandkram mitbringen, irgendwas, was ihr körperlich weniger schaden würde als noch eine Kopie von sich selbst.

»Und wenn wir es doch noch austauschen?«, schaltete sich schließlich Jordan ein.

»Wie das denn?«, wollte Trinity wissen. »Willst du bei ihm einbrechen?«

»Derselbe Plan«, sagte Jordan. »Genau derselbe Plan. Rein, Kopie dalassen, Original mitnehmen, raus.«

Die Mädchen überlegten.

»Du hast doch ’ne Meise«, befand Madox.

Ohne Madox’ Kommentar zu beachten, warf June ein: »Immer noch ein ziemlich hohes Risiko, erwischt zu werden.«

Brooklyn warf die Pastellkreidereste in den Müll. »Nicht, wenn wir durchs Fenster reingehen und anschließend die Scheibe ersetzen.«

»Das würde aber ewig dauern«, gab Trinity zu bedenken. »Da müsste er ganz schön lange außerhalb beschäftigt sein.«

Was für ein Riesenaufwand, dachte Hennessy. Und das alles nur, weil sie immer wieder denselben verdammten Traum hatte.

Hennessys Schuld.

Jordan kam anmarschiert und nahm ihr die Zigarette aus der Hand. Sie zog daran, schnippte den Stummel in die Spüle und wandte sich ab. Und genau das, dachte Hennessy, war der größte Unterschied zwischen ihnen. Wie Hennessy war auch Jordan offen für so ziemlich alles, aber im Gegensatz zu Hennessy war sie in der Lage, den Dingen, die schlecht für sie waren, den Rücken zuzukehren, bevor diese sie umbrachten.

Nur nicht Hennessy. Hennessy war das tödlichste Laster, das sie alle gemeinsam hatten, und keine kam von ihr los.

»Ich glaube, ich weiß, wie wir das hinkriegen«, sagte Jordan.