32

 

D ie meisten Leute taten so, als würden sie die Frau an der Tankstelle nicht bemerken. Besagte Tankstelle, etwa dreißig Minuten außerhalb von Washington, D.C., war eine wahre Oase am Rande der Interstate und stets stark frequentiert. Das lag hauptsächlich an der unschlagbaren Kombination aus Sandwiches, die man ohne Bedenken verzehren konnte, und Toiletten, an denen man nicht kleben blieb. Die Frau war sehr hübsch mit ihrer hellen Haut und den langen roten Haaren. Sie trug einen Trenchcoat über einem geblümten Kleid und wirkte gepflegt, aber auch irgendwie fehl am Platz – nicht an diesem Ort, sondern eher in dieser Zeit. Was zur Folge hatte, dass niemand ihr in die Augen sah.

Shawna Wells beobachtete die Frau bereits seit zwanzig Minuten. Eigentlich wartete Shawna darauf, dass ihr Mann, Darren, endlich aufhörte, die beleidigte Leberwurst zu spielen, und zu seinem neuen Pick-up zurückkam, damit ihre kleine Kolonne sich endlich auf den Heimweg nach Gaithersburg machen konnte. Vielleicht wartete er auch darauf, dass sie aufhörte, die beleidigte Leberwurst zu spielen. Aber so oder so dachte sie gar nicht daran, aus dem Van zu steigen und ihn zu holen. Sie hatte zwei besetzte Kindersitze auf der Rückbank, das konnte er ja wohl kaum vergessen haben, und sie würde die beiden bestimmt nicht wieder abschnallen, nur um diesen albernen Streit zu beenden.

Also beobachtete sie weiter die Frau. Zuerst dachte Shawna, sie würde um Geld betteln, aber je länger sie ihr zusah, desto überzeugter war sie, dass sie eine Mitfahrgelegenheit suchte. Welche Frau geht denn heute noch trampen?, fragte sie sich. Wurde nicht mittlerweile jedem Mädchen von klein auf eingebläut, dass man nicht zu Fremden ins Auto stieg? Nach einer Weile jedoch wurde Shawna klar, dass die Frage, die sie wirklich interessierte, eine andere war – Welche Frau nahm eine Tramperin mit?  –, gleich bevor ihr klar wurde, dass sie die Fremde mitnehmen würde.

Bei dem Streit zwischen Darren und Shawna war es um den neuen Pick-up gegangen und darum, ob es egoistisch von Shawna war, sauer auf Darren zu sein, weil er ihr Erspartes einfach dafür ausgegeben hatte. Sie hatte sich schon Gartenpartys auf ihrer neu angelegten Terrasse geben sehen, er sich hinter dem Steuer seines neuen Ford Raptor zur Arbeit pendeln. Sie fand eigentlich nicht, dass sie das egoistisch machte. Er fand, genau da liege das Problem.

Wenn die Frau sie fragte, bevor Darren zurück war, würde sie Ja sagen, beschloss Shawna.

Doch als die Minuten vergingen und es immer wahrscheinlicher wurde, dass Darren bald klein beigeben würde, packte sie die Ungeduld. Shawna startete den Wagen. Die Kinder brummelten vor sich hin. Während sie ausparkte, sah sie, wie Darren und die Frau die Köpfe hoben. Ersterer verwirrt, Letztere mit etwas wie Erkennen im Blick.

Shawna fuhr ihr Fenster herunter. Der alte Van hatte mittlerweile seine Tücken und das Fenster blieb auf halber Höhe stecken, aber das reichte, um hindurchzurufen: »Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit?«

Aus der Nähe war die Frau noch hübscher, mit strahlend grünen Augen, korallenroten Lippen und Sommersprossen auf der beinahe durchscheinenden Haut. Nun war es ja häufig so, dass der Anblick einer attraktiven Frau einem die Unzulänglichkeiten des eigenen Erscheinungsbilds vor Augen führte. In diesem Fall jedoch trat das genaue Gegenteil ein. Mit einem Mal war Shawna erfüllt von einem völlig neuen Bewusstsein für die Schönheit ihres eigenen Körpers.

»Ich muss nach Washington, D.C.«, antwortete die Frau.

»Das ist genau meine Richtung.« Shawna sah sich zu Darren um, der sie entgeistert anstarrte. »Steigen Sie ein.«

Die Frau lächelte und Shawna fielen noch mehr Dinge ein, die sie an sich mochte. Ihre Augen zum Beispiel wirkten immer fröhlich, selbst wenn sie gar nicht lachte, und Darren sagte manchmal, dass er gute Laune bekam, bloß wenn er hineinblickte. Im Grunde war er wirklich kein schlechter Kerl. Zu dumm, diese Geschichte mit dem Pick-up.

Die Frau stieg ein.

Shawna erwiderte Darrens Blick noch eine Sekunde länger (er vollführte die universelle Geste für Was zum Teufel soll das, Shawna? ), dann fuhr sie los.

»Ich bin Ihnen wirklich dankbar«, sagte die Frau.

»Keine Ursache«, entgegnete Shawna, als würde sie so was täglich machen. Ihr Handy, das in seinem Halter neben dem Radio steckte, vibrierte unter einer Flut eingehender Nachrichten. Was hast du vor? Du hast unsere Kinder im Auto! »Wie heißen Sie?«

»Liliana.«

Sie fuhren auf die Interstate. Der alte Van war nicht sonderlich schnell, brachte es mit etwas Anlauf aber immerhin bis knapp unter die zulässige Höchstgeschwindigkeit. Shawna betrachtete sich als sehr umsichtige Autofahrerin.

»Das ist ein hübscher Name«, erwiderte sie. Zwar hatte die Frau keinen hörbaren Akzent, aber irgendetwas daran, wie sie Liliana ausgesprochen hatte, wies darauf hin, dass sie eigentlich einen haben sollte.

»Danke. Wie heißen Ihre Kinder?«

Shawna streckte die Hand aus, um das Handydisplay auszuschalten. Sie wollte nicht, dass die Frau Darrens Nachrichten las und sich unerwünscht fühlte. »Jenson und Taylor. Meine zwei Süßen.«

»Sei gesegnet, Jenson. Sei gesegnet, Taylor«, sagte die Frau leise, und Shawna spürte regelrecht, wie sich der Segen über ihre Kinder senkte, als empfände Liliana, obwohl sie bloß einen einzigen Blick auf den Rücksitz geworfen hatte, bereits aufrichtige Liebe für ihre Kinder.

Eine Weile herrschte Schweigen. Normalerweise war Shawna nicht gerade der schweigsame Typ, doch aus irgendeinem Grund war die Anwesenheit der Frau, dieser sonderbaren Frau, dieser Tramperin, so laut, dass Shawna keinerlei Drang verspürte, die Stille zu füllen. Der Verkehr wurde dichter und die Spuren vervielfachten sich. Die Abendsonne in ihrem Rücken war eindringlich und golden. Der Himmel vor ihnen verdunkelte sich mit Einbruch der Dämmerung, begleitet von einem Band heraufziehender Unwetterwolken.

»Was führt Sie denn nach D.C., Liliana?«

»Ich suche nach jemandem.« Die Frau sah aus dem Fenster. Ihr dickes rotes Haar rief Shawna plötzlich in Erinnerung, wie prächtig ihr eigenes Haar während ihrer Schwangerschaften gewesen war. Schwangere verloren nämlich weniger Haare, darum hatte sie jede Menge davon gehabt, wunderschön voll und glänzend. Nach Taylors Geburt dann hatte sich ihr Hormonhaushalt abermals umgestellt und alles war gewesen wie vorher. Bislang hatte Shawna nie ernsthaft in Erwägung gezogen, ein weiteres Baby zu bekommen, aber jetzt, genau jetzt in diesem Moment, kam ihr der Gedanke und erschien ihr noch dazu ziemlich verlockend. Sie hatte ihre Schwangerschaften wirklich genossen und Darren liebte die Kinder. Neues Leben in sich heranwachsen zu fühlen hatte ihrem eigenen Dasein erst richtig Sinn gegeben.

»Und diese Person ist in D.C.?«, fragte sie.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Aber ich hoffe, ich finde dort raus, wo sie ist.« Wenn jemand Ich hoffe sagte, dann meinte er damit allzu oft, dass er keine Hoffnung hatte. Bei dieser Frau jedoch klangen die Worte wie ein Heiligtum. Wie eine Berufung.

Was machen Sie beruflich?

Ich hoffe.

Im Rückspiegel sah Shawna, wie Darrens neuer Pick-up durch den schnell dahinfließenden Verkehr zu ihnen aufholte. Noch befanden sich mehrere andere Autos zwischen ihnen, aber er war definitiv da. Shawna merkte, dass ihr Ärger über den Pick-up komplett verraucht war. Gut, sie hätte nach wie vor lieber die Terrasse gehabt, aber der neue Wagen war immerhin ein Anzeichen dafür, dass Darren noch immer spontan sein konnte und zu jugendlicher Leidenschaft neigte. Und war nicht genau das einer der Gründe, warum sie ihn so liebte?

Vor ihnen erhob sich Donnergrollen, das sogar über dem Dröhnen des Vans zu hören war. Zwischen den Wolken flackerten Blitze. Als kleines Mädchen hatte Shawna sich vor Gewittern gefürchtet. Zuerst war es bloß eine diffuse Angst gewesen, doch eines Nachts, als sie im Bett lag, war ein Blitz durchs offene Fenster gezuckt und hatte in den Lichtschalter an ihrer Wand eingeschlagen. Die Erkenntnis, dass Elektrizität derart wilde Kapriolen schlagen konnte, hatte dazu geführt, dass Shawna fortan bei der kleinsten Wolke ins Haus rannte und sich in einem fensterlosen Raum verkroch. Zwar hatte sie diese Angst inzwischen überwunden, doch die schiere Kraft, die die Gewitterwolken vor ihnen freisetzten, jagte ihr noch immer eine Gänsehaut über den Rücken.

Mit einem Mal kam es ihr albern vor, dass Darren und sie sich wegen einer solchen Lappalie gestritten hatten. Sie waren doch so ein glückliches Paar und sie wünschte sich ein weiteres Kind mit ihm.

Der nächste Blitz entlud sich in die Atmosphäre und sie suchte im Rückspiegel nach Darrens Pick-up. Sie wollte ihn in ihrer Nähe wissen. Wollte sein Gesicht sehen.

Und da war er. Er hatte noch weiter aufgeholt und fuhr nun direkt hinter ihnen, forderte sie mit einer Geste auf, ihn anzurufen, und Shawna bereute es, dass sie sich nicht mit ihm vertragen hatte, bevor sie losgefahren war.

In diesem Moment verstummten jegliche Geräusche.

Sie verschwanden einfach, lösten sich in nichts auf, als hätte jemand den Lautstärkeregler der Realität ganz heruntergedreht. Der Van glitt wie ein Geist durch den plötzlich totenstillen Verkehr.

Shawna wollte ein Oh, Gott hervorstoßen, aber selbst dafür hätte es Lauten bedurft, die es einfach nicht gab.

Und dann kehrte der Ton mit Macht zurück. Im Inneren des Vans explodierte eine Kakofonie aus jedem Geräusch in jeder Lautstärke, der geballte Lärm mehrerer Jahrzehnte.

Die Wucht war unbeschreiblich.

Sie knüppelte die Insassen des Autos nieder. Wenn jemand schrie, dann hörte es niemand über dem Rest. Die Windschutzscheibe zerbarst, genau wie die Seitenfenster; irgendwo spritzte Blut. Der Van blieb abrupt stehen und der Pick-up krachte hintendrauf. Doch selbst dieses Geräusch wurde von dem Getöse im Inneren des Vans aufgesogen. Die zwei Autos kreiselten, kreiselten, kreiselten über die Fahrbahn, wurden wieder und wieder und wieder gerammt, doch der Lärm riss nicht ab.

Irgendwann blieben sämtliche Fahrzeuge reglos auf der rechten Spur stehen und die Welt setzte ihren Lauf fort.

Darren war in seinem Pick-up über dem Lenkrad zusammengesunken. Frostschutzmittel sickerte aus dem Van. Shawna hing rücklings auf ihrem Sitz, Blut rann ihr aus Augen und Ohren, ihr Körper ein Bild der Zerstörung. Alles im Wagen schien zermalmt und auf den Kopf gestellt, wie das Epizentrum eines sehr ortsbeschränkten Erdbebens.

Jenson und Taylor schrien. Die beiden waren unversehrt, obwohl der Rücksitz kaum mehr als solcher zu erkennen war, ihre Kindersitze zu unförmigen Blöcken gepresst.

Ein Mädchen im Teenageralter kletterte vom Beifahrersitz, genauso unverletzt wie die Kinder. Sie hatte langes rotes Haar, Sommersprossen und strahlend grüne Augen. Und sie weinte lautlos.

Die Fingerknöchel auf den Mund gepresst, hockte sie sich auf den Seitenstreifen und wiegte sich vor und zurück, bis sich aus der Ferne Sirenengeheul näherte. Dann stand sie auf und ging los Richtung D.C.

Es fing an zu regnen.