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J ordan verbrachte viel Zeit in Museen. Um sich fortzubilden. Sicherzustellen, dass ihr Job ihr erhalten blieb. Und ihre geistige Gesundheit auch. Mindestens zweimal pro Woche schloss sie sich den Scharen von Kunststudierenden an, die von Galerie zu Galerie zogen, um ihr Können durch Nachahmung zu vertiefen. Für diese paar Stunden wurde Jordan selbst zur Fälschung: Äußerlich unterschied sie sich durch nichts von diesen angehenden Künstlern, dabei hätte sie in Wirklichkeit kaum weniger mit ihnen gemeinsam haben können.

D.C. bot in dieser Hinsicht einen regelrechten Überfluss. Die zart rosafarbene National Portrait Gallery. Die latent ungemütliche Renwick Gallery. Das chaotisch bunte Museum of African Art. Das Art Museum of the Americas und das Mexican Cultural Institute mit ihren wunderschönen Fliesen im Maya- und Pueblostil. Der malerische Garten von Dumbarton Oaks. Das National Museum of Women in the Arts, in dem Hennessy einmal so heftig randaliert hatte, dass niemand von ihnen sich dort mehr blicken lassen konnte. Das Kreeger, das Hillwood, das Hirshhorn und die Phillips Collection. Es gab so viele Museen. Am liebsten mochte Jordan die kleine, zugige Freer Gallery, deren überschaubare Sammlung vor langer Zeit von einem Mann zusammengestellt worden war, der mehr auf sein Herz als auf seinen Kopf gehört hatte. Hennessy und sie hatten eine Abmachung getroffen: Jordan ging zum Arbeiten nicht in die Sackler Gallery direkt nebenan und Hennessy nicht in die Freer.

Wenigstens etwas, das sie nicht teilen mussten.

Um nicht zu viel von sich preiszugeben, machte Jordan sich an diesem Morgen jedoch auf den Weg in die National Gallery of Art. Das Museum war ein imposantes Gebäude mit hohen Räumen und üppigen Stuckverzierungen. Die Wände waren in gedeckten Farben gehalten, damit die goldgerahmten Schätze daran angemessen zur Geltung kamen. In einigen Sälen standen sogar riesige Staffeleien für die zahlreichen Studierenden und andere Gastkünstler bereit, sodass man als Fälscherin unbehelligt in aller Öffentlichkeit seinem Tagewerk nachgehen konnte.

Jordan sah auf die Uhr. Sie war ein bisschen spät dran. Hennessy sagte immer, zu spät zu einer Verabredung zu kommen sei stets ein kleiner Akt der Feindseligkeit. Es war, als würde man jemandem in die Tasche greifen und den Geldbeutel herausfischen. Als würde man sich gegen ein fremdes Auto lehnen und den Tank leer saugen, während man dem Besitzer in die Augen sah. Oder aber man hatte schlicht im Stau gestanden, hatte Jordan entgegnet, woraufhin Hennessy die Diskussion für beendet erklärt hatte.

Ihr Blick fiel auf einen Mann am anderen Ende des Foyers, der eine der Marmorstatuen betrachtete. Er trug einen komplett anonymen, nichtssagenden grauen Anzug und stand mit dem Rücken zu ihr, aber Jordan erkannte ihn trotzdem, an seiner Körperhaltung, den dunklen Locken. Das Licht, das zwischen die Säulen fiel und alles in Braun-, Schwarz- und Weißtöne tauchte, gab der Szenerie einen leicht unwirklichen Anstrich. Guter Stoff für ein Gemälde, wenn Jordan denn Originale malen würde.

»Ich hab’s schon gehört«, sagte sie, »Sie sind der Sohn des Teufels.«

Declan Lynch wandte nicht mal den Kopf, als sie sich ihm näherte, doch sein Mund verzog sich zu einem unterdrückten Lächeln. »Stimmt«, sagte er.

Sie hatte nur wenige Mausklicks gebraucht, um herauszufinden, dass er der älteste Sohn von Niall Lynch war, dem Schöpfer der Dunklen Dame. Eigentlich hatte sie gar nicht vorgehabt, ihm hinterherzuschnüffeln, sondern sich bloß einen Eindruck davon verschaffen wollen, was sie bei ihrem heutigen Treffen erwartete. Auf den wenigen Fotos von ihm, die sie gefunden hatte – im Archiv der Website seiner Privatschule, als Randfigur in Artikeln zu lokalpolitischen Ereignissen, fotowirksam posierend bei der Eröffnung einer Kunstausstellung –, hatte er unscheinbar und dröge gewirkt. Portrait eines dunkelhaarigen jungen Mannes . Nichts daran hatte ihr auch nur im Entferntesten in Erinnerung gerufen, was ihr auf dem Feenmarkt interessant an ihm erschienen war. Wahrscheinlich hatte bloß die spannungsgeladene Atmosphäre jenes Abends auf ihn abgefärbt und ihm einen Hauch von Charme verliehen. Sie würde einfach nur ihre Pflicht tun. Keine allzu lästige Pflicht, die sie nicht schon irgendwie schaukeln würde, damit sie alle gemeinsam in seine Tasche greifen und seinen Geldbeutel herausfischen konnten, aber dennoch: mehr als das war es nicht. Im Grunde war sie erleichtert. Lieber so als anders.

Sie trat neben ihn. Er wirkte weitaus weniger dröge als auf den Fotos. Sie hatte ganz vergessen, dass er sogar ziemlich gut aussah. Seltsam, so etwas zu vergessen. Er duftete nach etwas dezent Männlichem, sanft und unvertraut, eher Öl als Parfüm. Jordan fühlte sich vage an all die Fremden erinnert, mit denen sie je etwas angefangen hatte, all die Fremden, gehüllt in Düfte, die ihr nie wieder begegnet waren und die in Jordans Vorstellung einzig und allein ihnen gehörten.

»Ich hab ein bisschen was über Sie in Erfahrung gebracht seit unserem letzten Treffen.«

»Na, so ein Zufall«, sagte Declan, ohne den Blick von der Statue zu lösen. »Ich nämlich auch über Sie. Ich weiß zum Beispiel, dass Sie in London aufgewachsen sind.«

Was fand man, wenn man Jordan Hennessy googelte? Man fand die Lebensgeschichte ihrer Mutter, so tragisch, dass sie beinahe schon vorhersehbar wirkte. Es war die Geschichte eines unverstandenen Genies, die Geschichte einer Künstlerin, deren Werk nach ihrem viel zu frühen Tod rapide an Wert und Bedeutung gewann. Hennessy hatte mit ihr zusammen in London gelebt; Hennessy hatte einen Londoner Akzent und somit auch Jordan und jedes der anderen Mädchen. »Ich bin überall aufgewachsen. Und Sie weiter im Westen?«

»Ich bin schon als Erwachsener auf die Welt gekommen«, entgegnete er schlicht.

»Ich hab das von Ihrem Vater gelesen. Schrecklich.«

»Ich hab das von Ihrer Mutter gelesen. Auch schrecklich.«

Es war ja Hennessys schreckliches Schicksal, nicht Jordans. »Nicht so schrecklich wie Mord«, wandte sie ein. »Meine Mutter war selbst schuld an ihrem Tod.«

»Dasselbe könnte man vermutlich von meinem Vater behaupten«, erwiderte Declan. »Tja. Kunst und Gewalt.« Endlich drehte er ihr den Kopf zu. Und starrte ihr auf den Mund. Gerade lange genug, dass sie es merkte, es spürte, wie einen winzigen Hitzeschub – jäh und überraschend angenehm –, ehe er fragte: »Wie wär’s, wollen wir ein Ründchen drehen?«

Hennessy hätte ihn gehasst.

Aber Hennessy war nicht hier.

Sie schlenderten umher. Es war ein seltsames Gefühl, mitten am Vormittag durch ein Museum voller Schulkinder, Rentner und Touristen zu flanieren. Die Zeit verging in diesen Stunden anders, wenn man es gewohnt war, die halbe Nacht aufzubleiben.

Irgendwie blieben sie in der Warteschlange vor der Manet-Wanderausstellung hängen.

»Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass Sie anrufen«, sagte Declan.

»Ich auch nicht, Mr  Lynch.«

»Oh, da fällt mir ein.« Er griff in die Tasche seines Jacketts. »Ich hab Ihnen was mitgebracht.«

Jordan bekam ein schlechtes Gewissen. Declan schien tatsächlich zu denken, sie hätten ein Date, während vermutlich genau in diesem Moment die anderen Mädchen bei ihm zu Hause einbrachen. »Ich hoffe, keine Blumen.«

Sie bewegten sich ein paar Schritte auf den Eingang der Ausstellung zu.

»Hand auf«, forderte er, als sie wieder zum Stehen kamen. Sie streckte die Hand aus. Er legte sein Mitbringsel hinein.

Sie war wider Willen verblüfft.

»Ist da wirklich drin, was draufsteht?«, fragte sie.

Wieder schenkte er ihr dieses halb unterdrückte Lächeln.

Es war einer von diesen Mini-Glastiegeln, die für gewöhnlich sündhaft teure Hautcremes enthielten. In diesem jedoch befand sich eine winzige Menge eines bläulich violetten Pulvers, so wenig, dass man es nur dann sah, wenn man den Tiegel in einem ganz bestimmten Winkel hielt. Purpur, echt stand auf einem handgeschriebenen Etikett an der Außenseite. Ein uraltes Farbpigment, das heute so gut wie nicht mehr zu bekommen war. Es wurde aus dem Sekret bestimmter Meeresschnecken wie der Purpura lapillus gewonnen. Allerdings waren Schnecken eher widerwillige Pigmentgeber; man brauchte ungeheure Mengen von ihnen, wenn man auch nur wenige Gramm Purpur herstellen wollte. Wie viele genau, hatte Jordan vergessen. Tausende. Tausende von Schnecken. Dieses Zeug war extrem teuer.

»Das kann ich nicht …«

»Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit so was Einfallslosem«, fiel Declan ihr ins Wort. »War gar nicht so einfach, auf die Schnelle was davon aufzutreiben.«

Jordan hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Zweifel an ihrer Mission kommen würden. Alles daran hätte belanglos sein sollen. Ein Mittel zum Zweck. Kein echtes Date, nichts, was auch nur im Geringsten zu der realen Frage Könnte dieser Typ mir gefallen? führen dürfte.

All das verbarg sie jedoch hinter einem breiten Lächeln, während sie den Glastiegel einsteckte. »Ach, Scheibenkleister. Na gut, dann lass ich’s bleiben. Und hauche andächtig Ihren Namen, wenn ich etwas damit male.«

»Hauchen Sie ihn doch jetzt«, schlug er vor und hätte dabei fast gelächelt. Fast.

»Declan«, gehorchte sie und musste dabei den Blick abwenden, weil sie spürte, wie sich abermals ein Grinsen in ihrem Gesicht ausbreitete, und zwar nicht jene unverbindliche Version, die sie normalerweise für solche Situationen vorsah. Scheiße, dachte sie.

»Jordan«, erwiderte er, als wollte er ihren Namen austesten, und sie blinzelte überrascht zu ihm hoch. Aber natürlich lag es nahe, dass er sie bei ihrem Vornamen nannte. Schließlich kam er nicht aus der Welt der Kunstfälscher und nächtlichen Autorennen, der Welt, in der man sie als Hennessy kannte. Er hatte sie gegoogelt und war dabei auf einen vollständigen Namen gestoßen: Jordan Hennessy.

Normalerweise war dies der Punkt, an dem sie die Leute korrigierte. Nein, einfach Hennessy, denn so hätte Hennessy selbst es gemacht, und sie alle waren Hennessy.

Doch sie korrigierte ihn nicht.

Die Manet-Ausstellung war brechend voll, und als sie sie wieder verließen, blieben Declan und Jordan kurz im Ausgang stecken. Jackettärmel streiften Jordans Finger; Handtaschen drückten ihr in den Rücken. Sie wurde gegen Declan gedrängt und umgekehrt. Einen Moment lang sah sie ihn an und er sie. Sie erkannte glasklare Neugier in seinem Blick und wusste, dass ihrer den Ausdruck spiegelte. Irgendwann schafften sie es nach draußen, Jordan fand zu ihrer gewohnten Coolness zurück und Declan hüllte sich erneut in seine dröge, businessmäßige Zurückhaltung.

Nach einer Weile landeten sie in Galerie Nummer 70 und betrachteten Straße in Venedig, das Gemälde, das Jordan vor aller Augen auf dem Feenmarkt kopiert hatte.

Rings um sie bewegten sich die Menschen wie ein aus dem Takt geratenes Uhrwerk. Jordan hatte so viel Zeit in diesem Raum verbracht, dass die Gemälde hier wie alte Freunde waren. »Als ich zum ersten Mal in einem Museum nach Sargent gesucht habe, wusste ich gar nicht, in welchen Bereich ich dafür musste«, erzählte sie. »In Amerika geboren – also bei den amerikanischen Künstlern? In England gelebt – oder doch bei den britischen? Man sollte meinen, ein Typ, der Teil beider Welten war, wäre einfacher zu finden, aber in Wirklichkeit war es genauso, wie es für ihn zu Lebzeiten gewesen sein muss. Wer zu mehr als einer Welt gehört, ist in keiner richtig zu Hause.«

Wer war sie selbst? Jordan. Hennessy. Jordan Hennessy. Beides und nichts.

Das war ein wenig mehr gewesen, als sie von sich hatte preisgeben wollen, aber andererseits hatte er ihr echtes Purpur mitgebracht. Da konnte sie ihm im Gegenzug vielleicht ein kleines Fitzelchen Wahrheit zugestehen.

Declan wandte den Blick nicht von dem Gemälde. »Wenn Sargent in Venedig war«, sagte er nachdenklich, »hat er immer im Palazzo Barbaro-Curtis gewohnt. Muss wunderschön sein dort. Er war irgendwie mit den Besitzern verwandt. Cousins, meine ich. Oder weißt du das alles schon? Ich will dich nicht langweilen.«

»Erzähl weiter.«

»Jedenfalls fanden dort fast permanent Kunstsalons statt, mit den zu der Zeit berühmtesten amerikanischen Auswanderern. Wharton, James, Whistler – alle unter einem Dach, was für eine Vorstellung! Aber Daniel Sargent Curtis, dem der Palazzo gehörte, war selbst kein Künstler. Sondern ein ganz normaler Familienvater. Zu Hause in Boston hatte er als Richter gearbeitet und jahrzehntelang ein ganz normales, unauffälliges Leben geführt, bis er eines Tages einem Richterkollegen eine reingehauen hat. Bäm! Was dieser andere Richter da gedacht haben muss! K.o. geschlagen von einem Typen, den bisher kaum jemand wahrgenommen hat!«

Declan hielt inne, als müsste er kurz nachdenken, aber Jordan merkte ihm an, dass es ihm vor allem um die effektvolle Pause ging, darum, seine bisherigen Worte wirken zu lassen, bevor er nachlegte. Diesem Mann waren in seinem Leben schon so einige Geschichten erzählt worden, und er hatte sich genau eingeprägt, wie das ging.

Dann schloss er: »Als Sargent Curtis aus dem Gefängnis entlassen wurde, zog er mit seiner Familie nach Venedig, kaufte den Palazzo und verschrieb sich für den Rest seines Lebens ganz und gar der Kunst.«

Sein Blick huschte zu ihr. Er war wirklich ein guter Geschichtenerzähler. Man merkte ihm an, dass er den Klang und die Dynamik freigesetzter Worte mochte.

Jordan spürte, dass er ebenso viel von sich preisgegeben hatte wie sie selbst kurz zuvor. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, wann er denn einen Richter k.o. zu schlagen gedachte, aber eine solche Frage hätte zwangsläufig zu noch mehr Vertrautheit geführt, und für ein Fake-Date steckte sie ohnehin schon viel zu tief drin. »Tja. Kunst und Gewalt. Ist das wirklich so passiert?«

»Ich bin nicht so uninformiert, wie du denkst.«

»Ich halte dich nicht für uninformiert«, entgegnete Jordan. »Sondern für sehr besonnen und geordnet. Warum kleidest du nicht auch den Rest von dir so wie deine Füße?«

»Warum malst du nur, was schon andere vor dir gemalt haben?«

Touché, touché.

Jordans Handy vibrierte. Es war Hennessy. Alles erledigt Trinity holt dich ab.

»Ich …«, begann sie, ohne zu wissen, wie sie den Satz beenden sollte.

Declan half ihr galant aus. »Ich muss sowieso zu meinem Kurs.«

Sie konnte ihn sich gar nicht in einem Kurs vorstellen. Was für ein Kurs? Vermutlich studierte er Wirtschaftswissenschaften. Das Langweiligste, was ihm eingefallen war. Jordan bekam allmählich ein Gespür für seine Masche; sie war ihrer eigenen nicht unähnlich, nur dass sie in die komplett entgegengesetzte Richtung lief.

Declans Finger wanderten über sein Revers und untersuchten es auf Missstände. Ein gezielter Kniff stellte die scharfe Falte wieder her. »Willst du mich wiedersehen?«

Sie musterten einander. Mit einem Mal war es unmöglich, nicht die Züge der Dunklen Dame in seinen zu erkennen: seine Nase, sein Mund, ihre Nase, ihr Mund, ihrer beider blaue Augen.

Als ein Sechstel ein und derselben Person – ein Sechstel ein und derselben Person, die soeben diesen Typen ausgeraubt hatte – wusste Jordan, wie die richtige Erwiderung darauf lauten musste.

Doch sie antwortete, als könnte sie selbst über ihr Leben bestimmen.

»Ja.«