36

 

V ielleicht war es ja doch nicht das Ende der Welt, dachte Hennessy bei sich.

Aber was sie davon halten sollte, wusste sie trotzdem nicht.

»Menschen wie deiner Mutter ist es vorherbestimmt, jung zu sterben«, hatte Hennessys Vater einmal zu ihr gesagt, bevor sich herausgestellt hatte, dass seine Tochter ebenfalls zu diesen Menschen gehörte. »Das hab ich schon vor unserer Heirat gewusst. Leute wie sie brennen kurz, aber hell. Die sind aufregend. Gefährlich. Wunderschön. Leben auf der Überholspur. Treiben es immer bis zum Äußersten. Ich hab’s gewusst. Und alle anderen haben es auch gesagt.« Streng genommen hatte er das gar nicht Hennessy selbst erzählt. Sondern Jordan, im Glauben, sie wäre Hennessy. Aber Hennessy hatte sich unter dem Esstisch versteckt und alles mitgehört. Es war ja auch nicht unbedingt eine bahnbrechende Enthüllung gewesen. Eher Small Talk beim Abendessen, olle Kamellen.

»Geheiratet hab ich sie trotzdem«, hatte er dann hinzugefügt. »Ich wollte den Antrag nicht wieder zurücknehmen, aber sie war ein bisschen wie ein Pontiac. Manche Autos braucht man nur ein einziges Mal zu fahren.«

Hennessys Vater war Bill Dower, Rennfahrer und Hersteller von Kit-Car-Bausätzen. Wann immer er etwas Bedeutungsvolles von sich gab, musste es in eine Rennautometapher verpackt sein. Wenn man Bill Dower nicht kannte, war es schwer vorstellbar, dass alles im Leben sich auf irgendeine Art mit Autorennen in Verbindung bringen ließ. Wenn man ihn jedoch kannte, vergaß man es so schnell nicht wieder.

Hennessys Mutter war J. H. Hennessy und wurde von ihren Freunden Jay genannt – nicht weil dafür das J stand, sondern lediglich, weil das J so klang. Hennessy wusste bis heute nicht, wie ihr eigentlicher Vorname lautete. Auch viele Kunstbuchautoren spekulierten mit Hingabe darüber und äußerten die Vermutung, dass ihr Name in Wirklichkeit gar nicht mit J anfing. Vielleicht waren die Initialen ja eine Art Pseudonym, eine erfundene Identität. Vielleicht, hieß es bei einigen, hatte es sie auch nie wirklich gegeben. Vielleicht, hielten andere dagegen, steckte ein ganzes Kollektiv von Künstlern dahinter, die allesamt unter dem Namen J. H. Hennessy agierten, was auch erklären würde, warum man seit ihrem Tod so gut wie nichts über sie in Erfahrung bringen konnte. Vielleicht war die Frau, die zu all den Vernissagen erschienen war, bloß angeheuert worden, um J. H. Hennessy ein Gesicht zu geben, und diese war in Wirklichkeit der Banksy der Galerieszene.

Oh, doch, es hatte sie gegeben.

Niemand, der mit ihr unter einem Dach gelebt hatte, hätte je zu einem anderen Schluss gelangen können.

Hennessys Handy klingelte. Sie sah zu, wie es sich über die Kante der Betonstufe vibrierte und auf die nächstniedrige plumpste, wo es mit dem Display nach unten liegen blieb und missmutig weiterbrummte. Hennessy hob es nicht auf.

Es war irgendwann am Nachmittag. Soeben war ein Verbrechen geschehen – ein Einbruch in das Haus eines jungen Mannes in Alexandria. Mehrere Frauen hatten ein Fenster eingeschlagen, ein Gemälde gestohlen und anschließend das Fenster repariert. Und jetzt saß Hennessy zusammen mit der Dunklen Dame auf einer Treppe am Hafen, nur in Gesellschaft vereinzelter Yuppies und der Sonne, die gleichermaßen zielstrebig an ihr vorbeieilten. Vor ihr lag Seward Johnsons The Awakening, die zwanzig Meter lange Skulptur eines Mannes, der aus dem Sand aufzutauchen schien. Oder darin zu versinken. Wenn man den Titel des Kunstwerks nicht kannte, konnte man die zu Klauen gekrümmten Hände und das verzerrte Gesicht in beide Richtungen interpretieren.

Hennessy versuchte, Zeit zu schinden.

Sie wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase entlang und betrachtete milde interessiert den dunklen Striemen auf ihrer Haut. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie ein Farbpigment gesehen, das als das schwärzeste Schwarz der Welt galt. Singularity Black. Sie hatten ein Kleid damit eingefärbt. Das Pigment war so schwarz, dass ein damit behandeltes Objekt keinerlei Konturen mehr aufwies, sondern nur noch schwarz war. Keine Schatten, keine Lichtreflexe. Das Kleid war nur mehr eine Silhouette seiner selbst, jeglicher Komplexität beraubt. Streng genommen war Singularity Black gar kein echtes Farbpigment, sondern bestand aus irgendwelchen Nanofitzeln, die über neunzig Prozent des Umgebungslichts absorbierten. Die NASA hatte damit ihre Astronauten anmalen wollen, damit die Aliens sie nicht sahen, oder irgendwas in der Art. Hennessy hatte Jordan etwas von dem Zeug zu ihrem gemeinsamen Geburtstag schenken wollen, aber ihre Recherchen hatten ergeben, dass man fünfzig Schichten davon auftragen und es anschließend bei dreihundert Grad aushärten musste. Und selbst dann ließ es sich immer noch ganz einfach mit dem Finger wegwischen. Auf so einen Stuss konnte auch nur die NASA abfahren.

Aber es war tatsächlich beeindruckend schwarz gewesen.

Und trotzdem nicht so schwarz wie die Substanz, die Hennessy aus diversen Körperöffnungen rann. Vielleicht weil sie in Wahrheit gar nicht schwarz war. Sie war weniger als Schwarz. Weniger als alles. Nichts. Sie wirkte nur von Weitem schwarz, aber sobald man sie von Nahem betrachtete, zeigte sich die übernatürliche Herkunft.

War das ein Nebeneffekt davon, eine Träumerin zu sein, oder ein Nebeneffekt davon, Hennessy zu sein? Es gab keinen lebendigen Menschen auf dieser Welt, den sie danach hätte fragen können.

Auch J. H. Hennessy war eine Träumerin gewesen. Zwar hatte sie nie mit Hennessy darüber gesprochen – außer in verklausulierten Metaphern –, aber Hennessy hatte immer Bescheid gewusst. Ihre Mutter war des Öfteren betrunken auf der Treppe oder unter dem Konzertflügel eingeschlafen, und man musste schon ein wirklich mieser Beobachter sein, um nicht zu merken, dass sie beim Aufwachen von mehr Flaschen und Farbtuben umgeben war als zuvor beim Einschlafen. Was wohl erklärte, warum Hennessys Vater nie wirklich begriffen hatte, dass Jay Dinge in die Wirklichkeit träumen konnte.

Wenn er seine Frau als Wrack bezeichnete, dann ging es dabei lediglich um den Wodka und das Ecstasy.

Rückblickend war Hennessy klar, dass er sich darin gefallen hatte, ein Wrack zur Frau zu haben.

»Kannst du mich retten?«, fragte Hennessy Die dunkle Dame und wischte sich abermals das Gesicht ab. Die Frau erwiderte ihren Blick, argwöhnisch, trotzig. »Schon gut, ich meine natürlich uns . Danke für den Hinweis.« Die dunkle Dame lächelte nicht. Hennessy auch nicht. Sie wusste nicht, wie viel Macht das Gemälde wirklich hatte, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ausreichen würde, um Hennessy von ihrem widerkehrenden Albtraum zu befreien. Nachdem er sie die letzten sechzehn Jahre lang hartnäckig verfolgt hatte, würde sich höchstwahrscheinlich auch jetzt nichts daran ändern. Hennessy schloss die Augen – und da war er auch schon. Sie musste nicht mal die Augen schließen. Sie musste bloß aufhören zu denken – und da war er auch schon.

Sie war so müde.

Den Dingen nach zu urteilen, mit denen Jay früher aufgewacht war, hatte sie geradlinige, unkomplizierte Träume gehabt. Sie träumte einfach von dem, was sie kurz vor dem Schlafengehen gemacht hatte. Wenn sie auf einer Party gewesen war, erwachte sie mit einem Haufen Pailletten. Wenn sie sich mit Bill Dower gestritten hatte, erwachte sie mit einem Stapel Scheidungspapiere. Wenn er versucht hatte, sie mit Blumen und Schmuck zu besänftigen, erwachte sie mit noch mehr Blumen und Schmuck. Die einzige ihrer Traumkreaturen, für die Hennessy jemals Interesse aufgebracht hatte, war ein Frettchen gewesen, das Jay geträumt hatte, nachdem Hennessy den ganzen Tag um eins gebettelt hatte.

Cassatt war das perfekte Haustier gewesen. Er roch nach nichts und fraß ausschließlich verschreibungspflichtige Medikamente.

Bis Jay gestorben war und er nicht mehr aufwachte.

Hennessy krümmte sich auf der Treppe zusammen; mit einem Mal fühlte sie sich gar nicht gut. Sie spürte, wie ihre Ohren sich mit der schwarzen Substanz zu füllen begannen. Und der Geschmack in ihrem Mund war widerlich.

»Ich versuch’s einfach«, informierte Hennessy Die dunkle Dame, die es ihr langsam übel zu nehmen schien, dass sie so lange wach blieb. Waren die anderen Mädchen ihr denn vollkommen egal?, fragte Die dunkle Dame. War es ihr egal, dass auch sie in diesem Moment ins Taumeln gerieten, weil sie den Effekt der schwarzen Brühe spürten, die in ihrer Schöpferin hochblubberte? War es ihr egal, dass sie alle für immer einschlafen würden, wenn sie starb? Hennessy war empört über diese Unterstellungen. Schließlich waren die Mädchen so ziemlich das Einzige, was ihr nicht egal war. »Ich kann mich bloß noch nicht so ganz mit dem Gedanken anfreunden. Gib mir ein bisschen Zeit.«

Doch der Hass auf ihren Albtraum war nicht das Einzige, was sie wach hielt. So schlimm er auch sein mochte, er war nichts verglichen damit, wie sich ihr Körper anfühlte, nachdem sie eine Kopie von sich selbst geträumt hatte.

Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass Die dunkle Dame sie davor würde bewahren können.

Wieder vibrierte ihr Handy. Sie drehte es mit der Fußspitze um und warf einen Blick auf das Display. Jordan. Also hatte sie ihr Date mit Declan Lynch hinter sich gebracht. Und es überlebt. Hennessy hatte den Typen gegoogelt und war zu dem Schluss gekommen, dass Jordan es definitiv schlechter erwischt hatte als sie, schwarze Substanz hin oder her. Hennessy würde lieber komplett ausbluten, als einen weißen Langweiler in einem Anzug aus der Kollektion vom letzten Jahr zu daten.

Jordan schrieb: Die Mädchen sagen, du warst gemein zu ihnen.

Sie war nicht gemein zu ihnen gewesen. Sie hatte sich lediglich das gestohlene Gemälde geschnappt und ihnen geraten, noch mal so richtig weltuntergangsmäßig auf den Putz zu hauen für den Fall, dass Hennessys nächste Traumkopie diejenige war, die sie umbringen würde. Sie hatten sie nicht allein lassen wollen. Hennessy hatte ihre Empfehlung wiederholt. Mit Nachdruck. Lautstark. Sie selbst hätte es jedenfalls so gewollt. Party bis zum bitteren Ende. Ohne Netz und doppelten Boden. Okay, vermutlich war es nicht ganz leicht, an einem Nachmittag mitten in der Woche eine Party aufzutun, aber ihnen war sicher was eingefallen. Schließlich waren sie alle Hennessys.

Jordan: Wo bist du

Aber an der nächsten Kopie würde sie ohnehin noch nicht sterben, dachte Hennessy. Noch drei. Glaubte sie jedenfalls. Denn immer, wenn sie eine Kopie träumte, bekam das Rosentattoo an ihrem Hals eine neue Blüte, und dort war noch Platz für drei weitere.

Sie wischte einen schwarzen Spritzer von ihrem Schuh.

»Menschen wie mir«, erklärte Hennessy der Dunklen Dame, »ist es vorherbestimmt, jung zu sterben.«

Was J. H. Hennessy im Grunde zu einer Mörderin machte, weil sie ein Kind in die Welt gesetzt hatte.

Die Augen der Dunklen Dame funkelten. Sie fand, dass Hennessy übertrieb. Tja, da mochte sie recht haben. Hennessy erschauderte. Sie blickte aufs Wasser und versuchte, sich einen Traum vorzustellen, der vom Meer handelte statt von einer weiteren Hennessy.

Sie schaffte es nicht.

Alles, was sie zustande brachte, war derselbe Traum, der hinter jedem ihrer Gedanken lauerte. Immer und immer und immer wieder.

Jordan schrieb: Du kannst mit diesem Scheiß weitermachen und ich kann weiter nach dir suchen, wird aber vielleicht auf Dauer langweilig, meinst du nicht

Ach Süße, schrieb Hennessy zurück, ich glaube, langweilig sein ist nichts, wovor wir zwei Angst haben müssen.