N ichts. Ronan durchwühlte seit Stunden die Sachen seines Vaters, und was hatte es gebracht? Null Komma nichts.
Er war schon den ganzen Tag über rastlos. Seine Träume in der vergangenen Nacht waren unruhig und unzusammenhängend gewesen, ohne eine Spur von Bryde. Sein Morgen danach war unruhig und unzusammenhängend gewesen, ohne eine Spur von Adam. Eine Stunde lang war er mit dem BMW über die matschige Schlammbahn geschlittert, immer hin und her. Doch selbst der heulende Motor hatte die Erinnerungen an das junge Gesicht seines Vaters und das besorgte seiner Mutter, an Brydes verlockende und Declans mahnende Worte nicht übertönen können.
Declan hatte ihm geraten, nicht das Kaninchen jagen zu gehen. Bryde hatte ihm geraten, es zu tun.
Somit herrschte Gleichstand und Ronan durfte keiner Seite den Vorzug geben.
Mach langsam, hatte Adam gesagt.
Morgen war Ronans Geburtstag, darum musste er wieder nach D.C. Nicht dass er selbst sich darum geschert hätte, aber Matthew lagen Geburtstage und jede Art von Familienritualen nun mal sehr am Herzen, also würde er ein Mindestmaß an Feierei über sich ergehen lassen müssen. Matthew hatte ein Picknick in Great Falls vorgeschlagen. Declan ein Abendessen in einem guten Restaurant. Beide Optionen erschienen Ronan nahezu unerträglich banal.
Warum war Bryde ihm nicht im Traum erschienen?
Doch in Wahrheit wusste er, warum.
Bryde hatte seine Jagd nach Ronan beendet; jetzt war Ronan am Zug.
Er wollte ja.
Mach langsam.
Um Zeit totzuschlagen, fuhr Ronan in die Berge. Er überlegte, noch weiter rauszufahren, bis nach Lindenmere, aber das war keine gute Idee, solange er so durch den Wind war. Und dieser Wind hatte mindestens Stärke acht. Also fuhr er stattdessen nach Hause, machte sich ein Erdnussbuttersandwich und stellte abermals das Haus auf den Kopf, wie schon unzählige Male zuvor, auf der Suche nach Geheimnissen oder Träumen, die er bislang übersehen hatte.
Und dann hörte er es …
Jemanden. Draußen.
Es klang wie ein Motor, der abgestellt wurde. Nicht direkt vor dem Haus. Dann wäre es lauter gewesen. Es schien eher, als hätte jemand sein Fahrzeug auf der Hälfte der Zufahrt stehen gelassen, um den Rest des Wegs unentdeckt zurückzulegen.
Vielleicht täuschte er sich aber auch.
Schließlich schaffte es niemand so einfach durch das Sicherheitssystem.
Draußen rief Chainsaw. War das ihr Alarmkrächzen? Nein. Bloß ein ganz normales.
Ronan hatte sein kleines Krallenmesser in der Tasche und in Declans altem Zimmer war eine Pistole.
Er hörte, wie die Hintertür aufging.
Fuck .
Natürlich war sie nicht abgeschlossen gewesen. Er war schließlich wach und das verdammte Sicherheitssystem bewachte die Zufahrt.
Eine Bodendiele im Windfang knarrte.
Ronan stand auf. Lautlos. Auf leisen Sohlen huschte er durchs Haus und mied dabei die Dielen, von denen er wusste, dass sie ihn verraten würden. Er hatte sein Messer in der Hand. Machte kurz halt, um die Pistole zu holen.
Bomm, bomm.
Doch das war bloß sein Herz, frustrierend laut in seinen Ohren.
Das vordere Wohnzimmer im Erdgeschoss war leer. Das hintere auch. Genau wie das Esszimmer.
Wieder ein Geräusch. Diesmal aus der Küche.
Ronan hob die Pistole.
»Mann, Ronan, ich bin’s!« Das Küchenlicht ging an und erleuchtete Adam Parrish, der sich einen Motorradhelm vom Kopf zog. Er beäugte die Pistole. »Na, die Überraschung ist mir wohl gelungen.«
Ronan rührte sich nicht. Das Problem war nicht, dass an Adam irgendwas falsch wirkte, im Gegenteil, Adam war unübertroffen er selbst. Das Haar leicht platt gedrückt durch den Helm, die schmalen Schultern ansprechend konturiert durch eine Lederjacke, die Ronan noch nie an ihm gesehen hatte, die Wangen leicht gerötet. Doch nach den letzten zwei Tagen brauchte Ronan mehr als ein Gesicht als Beweis für jemandes Identität.
»Wie hast du es durch die Zufahrt geschafft?«, fragte er misstrauisch.
»Unter Qualen«, stöhnte Adam, der nun den Helm auf den Tisch legte und sich aus Jacke und Handschuhen schälte. Er warf beides neben den Helm und schnüffelte an seinen nackten Armen. »Ist das beim Wegfahren genauso schlimm wie beim Kommen? Wenn ja, bleibe ich nämlich einfach hier.«
Dann wandte er sich wieder Ronan zu und sah, dass dieser noch immer die Pistole umklammerte. Seine Brauen zogen sich zusammen. Er wirkte nicht besorgt, sondern schien einfach nur begreifen zu wollen, was los war.
Dabei begriff Ronan das ja selbst nicht. Ein Teil seines Bewusstseins versicherte ihm: Natürlich ist das Adam, leg die Knarre weg, während ein anderer zu bedenken gab: Woher willst du wissen, was real ist? Ronan leuchtete ein, woher diese vollkommen gegensätzlichen Eingebungen rührten. Was ihm jedoch zu schaffen machte, war, wie vollkommen gleich sie gewichtet waren. Die Gesichter seiner Eltern auf den Körpern lebendiger Personen zu sehen musste ihn stärker erschüttert haben als gedacht, wenn er nicht mal mehr überzeugt von der Echtheit des Mannes war, den er liebte.
»Sag mir, was ich machen soll, damit du mir glaubst«, forderte Adam. Er hatte Ronans Gedanken erraten. Was Ronan ja schon fast überzeugte; Adam war der klügste Mensch, den er kannte. »Wie kann ich dir beweisen, dass ich es bin?«
Ronan hatte keine Ahnung. »Was machst du hier?«
»Die Idee ist mir gestern Abend gekommen. Und dann bin ich heute Morgen aufgewacht und dachte, was soll’s. Ich fahre einfach. Die Jacke hat Gillian mir in einem Secondhandladen besorgt. Der Helm gehört Fletcher – kannst du dir Fletcher auf ’nem Roller vorstellen? Und das sind die Gartenhandschuhe von unserem Hauswart. Ich hab meine Mitschriften aus Soziologie aufs Handy gesprochen und sie mir die ganze Fahrt über angehört, für meine Klausur morgen. Tja, und jetzt bin ich hier.« Er warf Ronan einen durchdringenden Blick zu. »Ronan, ich kenne dich.«
Er sagte es genauso wie in der Nacht zuvor am Telefon. Das Adrenalin in Ronans Körper ebbte ab. Er deponierte sämtliche Waffen auf einem Beistelltisch. »Jetzt glaub ich dir. Keiner außer dir würde sich auf dem Motorrad Soziologiemitschriften reinziehen.«
Sie fielen sich um den Hals, heftig. Es war ein Schock, Adam so dicht bei sich zu spüren. Die Wahrheit war direkt hier in seinen Armen und erschien dennoch unmöglich. Adam roch nach dem Leder seiner Secondhandjacke und dem Holzrauch draußen in der Luft. Eine Ewigkeit lang war immer alles gleich gewesen, und plötzlich war alles anders, und dabei nicht den Anschluss zu verlieren war schwerer, als Ronan erwartet hatte.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Adam.
»Ich hab erst morgen Geburtstag.«
»Ich muss morgen ein Referat halten, darum kann ich nur« – Adam löste sich von ihm, um einen Blick auf seine Traumuhr zu werfen – »drei Stunden bleiben. Tut mir leid, dass ich kein Geschenk für dich habe.«
Adam Parrish auf einem Motorrad war das beste Geburtstagsgeschenk, das Ronan sich hätte wünschen können. Die Vorstellung turnte ihn unfassbar an. Und weil ihm schlicht nichts anderes einfiel, sagte er: »Fuck, Alter.« Normalerweise war doch er der Impulsive von ihnen, derjenige, der Zeit verschwendete, der Adam brauchte . »Fuck, Alter.«
»Dieses kranke Motorrad, das du geträumt hast, braucht übrigens gar kein Benzin«, sagte Adam. »Der Tank ist von innen aus Holz; ich hab ’ne Kamera reingeschoben, um nachzugucken. Aber umso besser, dass ich nicht zwischendurch tanken musste, meistens fliegt man nämlich hin, sobald man bremst. Du musst dir mal die blauen Flecken an meinen Beinen angucken. Als hätte ich mit ’nem Bären gekämpft.«
Wieder umarmten sie sich, glücklich, tanzten schwankend durch die Küche, küssten sich, glücklich, tanzten schwankend weiter.
»Und, was willst du mit den drei Stunden anfangen?«, fragte Ronan.
Adam blickte sich in der Küche um. Er wirkte immer, als gehörte er hierher. Alles hier sah aus wie er, irgendwie verwaschen, ausgeblichen, vertraut. »Als Erstes muss ich was essen, ich hab einen Riesenhunger. Und dann muss ich dich von deinen Klamotten befreien. Aber davor will ich Bryde sehen.«