A dam Parrish hatte einen übersinnlichen Zug.
Neben Ronan Lynch, dem großen Träumer, mochte er vielleicht einigermaßen gewöhnlich wirken, aber das lag nur daran, dass alles Übersinnliche an ihm nach innen gewandt war. Auch er stand in Verbindung zu der sonderbaren Ley-Linie, die Ronans Träume mit Energie zu versorgen schien, mit dem Unterschied, dass Adam diese Verbindung spürte, während er wach war, und sie keine Objekte hervorbrachte, sondern Informationen. Man könnte ihn wohl als Wahrsager bezeichnen, wenn es denn eine Art von Wahrsagern gab, deren seherische Kräfte sich auf die Zukunft der Welt bezogen, nicht auf die Zukunft einzelner Menschen. In ihrem idyllischen gemeinsamen Sommer in den Schobern hatte er nahezu jeden Tag mit der Energie experimentiert. Manchmal hatte er in eine Schale mit dunkler Flüssigkeit gestarrt, bis er sich selbst in dem unergründlichen Pulsschlag verlor, der alle Lebewesen einte. Am Telefon mit Gansey oder Blue hatte er sein geerbtes Tarotkartendeck genommen und ihnen ein paar Karten gelegt. Nachts hatte er an Ronans schmalem Bett gesessen und ihn in seiner Traumwelt besucht – Ronan schlafend, in einen Traum versunken, Adam, wach, in tiefe Trance versunken.
Das alles hatte er hinter sich lassen müssen, um nach Harvard zu gehen.
»Wenn ich aufhöre zu atmen, hol mich zurück«, sagte Adam jetzt. Er hockte am Fußende von Ronans Bett, in den Händen eins von dessen Traumlichtern. Es gab alle möglichen erträumten Lichtquellen in den Schobern: Glühwürmchen draußen auf den Feldern, zwischen Zweigen verfangene Sterne, glühende Kugeln, die Ronans Arbeitsplatz im Stall erleuchteten, kleine, niemals verlöschende Kerzen in jedem Fenster Richtung Garten. Das Licht in Adams Händen war so gleißend hell, dass man nicht direkt hineinsehen konnte; es war eine Sonne. Gansey hatte Ronan gebeten, sich um seine Minze zu kümmern, während er auf Reisen war, woraufhin Ronan, der keine Ahnung hatte, wie man eine Topfpflanze am Leben hielt, kurzerhand das Draußen nach drinnen geträumt hatte. Und so erhellte nun die Sonne den ansonsten dunklen Raum, in dem er und Adam Knie an Knie auf der Bettkante saßen.
»Und wenn es länger als fünfzehn Minuten dauert, hol mich auch zurück«, fügte Adam hinzu, dachte kurz nach und korrigierte dann: »Länger als zehn. Ich kann ja jederzeit noch mal hin.«
Adams Fähigkeit war nicht ungefährlich. Sie hatte viel mit Ronans Träumen gemeinsam, nur dass Adam dabei auf die Vorstellungskraft der ganzen Welt zurückgriff anstatt bloß auf seine eigene. Es gab keine Beschränkungen. Keine Erinnerungen, die die Träume eingrenzten, keine Identität, die ihn auf vertrautem Gebiet hielt. Ohne jemanden, der ihn in dieser unendlichen Weite erdete, bestand die Gefahr, dass Adams Geist in den Äther entschwand und nicht zurückkehrte, wie die dem Himmel entgegenschwebende Kuh. Auf diese Weise war er auch an sein Tarotdeck gekommen. Er hatte es von einer Frau geerbt, die niemals zurückgekehrt war.
»Zehn, okay«, sagte Ronan. Er legte Adam die Hand auf den Arm und drehte die Uhr daran so, dass das Zifferblatt zu ihm zeigte.
Adam legte den Kopf in den Nacken und Ronan wurde klar, dass er sich wappnete, versuchte, Mut zu fassen. Das war neu. Adam war zwar immer vorsichtig gewesen, aber nicht ängstlich.
»Was ist?«, fragte Ronan.
»In letzter Zeit war es seltsam da draußen.«
Eine beunruhigende Vorstellung. Wie lange hätte es gedauert, bis Ronan davon erfahren hätte, wenn Adam tot in seinem Wohnheimzimmer gefunden worden wäre, sein Geist unwiederbringlich in der Unendlichkeit verloren, nur weil niemand auf ihn aufgepasst hatte? »Ich wusste gar nicht, dass du das auch in Harvard machst.«
»Nur zweimal«, schränkte Adam ein. »In der ersten Woche. Ich weiß. War blöd. Ich hab’s auch nicht noch mal versucht. Will ich auch nicht.«
»Aber warum denn überhaupt?«
»Warum bist du dieser Frau hinterhergefahren, die aussah wie deine Mutter?«
Guter Punkt.
»Ich brauche nur … Ich muss mich einfach nur überwinden, bin gleich so weit.«
Es war verstörend, ihn so ängstlich zu erleben. »Woran liegt’s?«
»Irgendwas ist anders. Da ist irgendwas Riesiges, und es fühlt sich an, als würde es uns beobachten.«
»Dich und mich?«
»Alle. Vielleicht ist es … Das heißt, wer weiß, ob es ein Etwas ist? Könnte genauso gut ein Jemand sein. Keine Ahnung. Hab mich auch nicht getraut, der Sache tiefer auf den Grund zu gehen. Da draußen bin ich ja völlig ungeschützt, mein Geist flattert halt einfach so durch die Gegend.«
Das klang ja immer besorgniserregender. »Wir müssen das jetzt nicht machen.«
»Doch«, murmelte Adam. »Das Monster geht nicht weg, nur weil ich die Augen davor verschließe. Außerdem wüsste ich lieber Bescheid. Ich traue es nun mal niemand anderem als dir zu, mich dabei abzusichern. Du weißt, wie ich aussehe, wenn was nicht stimmt. Und vielleicht begegnet mir in der Nähe von dem Etwas ja auch dieser Typ von dir. Wenn er nicht sogar das Etwas ist .«
Ronans Augen wurden schmal.
»Guck nicht so. Ich weiß, dass er dir erzählt hat, er wäre ein Träumer«, fuhr Adam fort. »Aber das heißt nicht, dass ich ihm auch glauben muss. Du hast vorhin eine Pistole auf mich gerichtet. Wäre nett, wenn du dem Typen mit derselben Skepsis begegnen könntest.«
Wie zuvor, als Ronan ihm mit vorgehaltener Waffe gegenübergestanden hatte, schwang in Adams Stimme keinerlei Vorwurf mit, keine Wut. Adam würde nie jemanden dafür verurteilen, dass er vorsichtig war. Er war selbst auf Misstrauen programmiert.
»Okay«, sagte Ronan.
Adam fing an.
Er senkte den Blick auf die Sonne in seinen Händen. Zuerst blinzelte, blinzelte, blinzelte er nur. Er konnte nicht anders. Das Licht war blendend grell; auch Ronan vermochte nicht länger als einen Sekundenbruchteil hinzusehen und selbst dann hinterließ es grüne Kondensstreifen auf seinen Netzhäuten.
Mit der Zeit wurden die Abstände zwischen Adams Geblinzel länger. Länger.
Dann blieben seine Augen offen.
Seine Iris funkelten, als wären darin zwei Miniaturversionen der Sonne eingeschlossen.
Adam saß komplett reglos da.
Er bot ein gespenstisches Bild, dieser hagere junge Mann mit dem starren Blick und den gekrümmten Schultern, die von einer inneren Leere zeugten.
Ronan beobachtete, wie der Uhrzeiger die Zeit herunterzählte. Beobachtete, wie Adams Brust sich hob und senkte.
Fünf Minuten. Ein Mensch, der eine komplette Minute lang still saß, war schon ungewöhnlich, ganz zu schweigen von zwei. Bei fünf wurde es ernsthaft unheimlich.
Sechs Minuten. Das dunkle Zimmer war inzwischen voller grüner Punkte, so oft sah Ronan zwischen der Sonne und Adams Uhr hin und her.
Sieben Minuten.
Acht.
Nach neun Minuten wurde Ronan unruhig. Er begann, die Sekunden mitzuzählen.
Nach neuneinhalb Minuten fing Adam an zu schreien.
Der Laut war so grauenhaft, dass Ronan erstarrte.
Es war kein Schrei, wie ein zurechnungsfähiger Adam ihn jemals ausgestoßen hätte, nicht mal unter Schmerzen. Sondern ein hohes, dünnes, raues Geräusch, als würde irgendetwas entzweigerissen. Und es hielt an. Es warf Adams Kopf zurück, ließ seine Schultern krampfen und die Sonne über die Bettdecke rollen.
Es war der Schrei eines Wesens, dem klar war, dass es sterben würde.
Die dunklen Wände des Zimmers schienen den Laut aufzusaugen. Dieser Schrei würde für immer und ewig im Mauerwerk gespeichert sein, eingenagelt in sämtliche Stützbalken, verspachtelt in Winkeln, die nie jemand zu sehen bekam. Von diesem Tag an würde immer etwas hier sein, das niemals wieder glücklich und zufrieden sein konnte.
»Adam«, sagte Ronan.
Adam hörte auf zu atmen.
»Adam .«
Ronan packte Adam bei den Schultern und schüttelte ihn. Als er ihn wieder losließ, sackte Adam in sich zusammen. Ein ohnmächtiger Körper hat etwas Kompromissloses an sich, durch und durch unempfänglich für Vernunft oder Gefühl.
»Parrish«, knurrte Ronan. »Ich hab dir nicht erlaubt …«
Er zog Adam hoch und drückte ihn an sich, horchte auf Atem, einen Pulsschlag. Nichts, nichts.
Die Sekunden schlingerten vorbei.
Adams Körper atmete nicht. Adams Geist driftete haltlos durch die Traumwelt. Wo auch immer er war, er erinnerte sich nicht mehr an Adam Parrish, den Harvard-Studenten; an Adam Parrish, geboren in Henrietta; an Adam Parrish, Ronan Lynchs Freund. Denn dieser andere Adam Parrish, losgelöst von seiner Physis, stand unter dem Bann von Dingen, die so überirdisch gewaltig waren, dass derart unwichtige menschliche Belange nicht mehr zu ihm durchdrangen.
Ronan tastete nach seinem Krallenmesser.
»Tut mir leid«, sagte er und ließ es aufschnappen.
Die Krallen schossen heraus und arbeiteten sich fauchend, hackend, beißend Adams Arm hoch.
Blut floss.
Ronan ließ das Messer wieder zuschnappen. Die Krallen zogen sich zurück und raspelten dabei noch ein letztes substanzielles Stück Haut von Adams Brust.
»Oh, Gott, oh, Gott, oh, Gott …« Adam rollte sich zu einer Kugel zusammen, die Augen fest zugekniffen, und wiegte sich vor und zurück.
Ronan ließ sich erleichtert aufs Bett fallen. Er schleuderte das Krallenmesser durchs Zimmer und legte die Hand auf sein rasendes Herz.
»Was ist passiert?«, fragte er.
Adam rang noch immer nach Luft. Sein gesamter Körper bebte. »Oh, Gott, oh, Gott …«
»Adam.«
Adam drückte sich den Handrücken zwischen die Augenbrauen – eine seltsame, ganz und gar unadamhafte Geste, und rieb sich die Stirn wie ein kleines Kind, das müde war oder Angst hatte. Ronan ergriff seine Finger und hielt sie fest. Adams Haut war eiskalt, als wäre er soeben aus dem Weltraum zurückgekehrt. Er schien nicht einmal zu bemerken, dass sein Arm blutete, als wäre er sich seines Körpers noch immer nicht wieder ganz bewusst. Ronan massierte Adams Finger, bis sie langsam wärmer wurden, und küsste sie.
»Parrish, was war das denn für ’n Scheiß?« Ronan legte die Hand an Adams bleiche Wange. Auch sie war eiskalt. Adam schmiegte sein Gesicht hinein, den Blick verschlossen.
»Es hat mich gesehen«, sagte Adam. »Oh, Gott.«
»Was ist es denn?«
Adam antwortete nicht.
Ronan zog ihn an sich und ein paar Minuten lang saßen sie einfach so da, eng verschlungen, im Schein der vergessenen Traumsonne, Adams Haut kalt wie der Mond.
»Es ist nicht Bryde«, sagte Adam schließlich. »Dieses Etwas, es ist nicht Bryde.«
»Woher weißt du das?«
»Weil es Angst vor ihm hat.«