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N iemand bemerkte das junge Mädchen, das wenige Minuten vor der Veranstaltung die Galerie betrat. Die Galerie war ein großes, modernes Gebäude in Arlington und trug den Namen 10 Fox. Nur fünf Meilen außerhalb von Washington, D.C.! Besuchen Sie unseren Showroom und lassen Sie uns auch Ihr Anwesen in ein Kunstwerk verwandeln! Im Moment wurde der Eingangsbereich von einer Schar Kinder okkupiert. Schätzungsweise vierhundert, dachte die Presseagentin, die Eltern nicht mitgezählt. Ein Glück, dass wir so früh angefangen haben, super Team, super Arbeit! Das wird toll, ermutigte sie ihren Autor. Vier Stunden Bücher signieren, alle sind zufrieden und zum Mittagessen wieder zu Hause.

Jason Morgenthaler konnte der Situation nichts Zufriedenstellendes abgewinnen. Er war der Inhaber von 10Fox. Und zudem ein berühmter Bilderbuchautor. Seine Bücher waren so allgegenwärtig, dass die meisten seiner jungen Leser vermutlich glaubten, er wäre längst tot. Sein beliebtestes Werk, Henderson!, wurde jede Weihnachten von Zehntausenden Großeltern an Zehntausende von Enkelkindern verschenkt und seine Skunkboy-Reihe war zu einer TV-Serie mit extrem nervigem Titelsong adaptiert worden. Morgenthaler lebte getrennt von seiner Frau, einer bekannten Stand-up-Comedian. Er selbst betrachtete sich als seriösen Künstler und seriösen Kunstsammler und in einem dieser Punkte hatte er weitgehend recht.

Wie gern wäre er einfach im Hinterzimmer sitzen geblieben.

Morgenthaler hatte Kinder noch nie gemocht und in letzter Zeit einen regelrechten Ekel vor ihnen entwickelt. Kinder waren kleine Anarchisten, triebgesteuerte Minimonster aus der Hölle. Sie machten, was sie wollten, ob es eine gute Idee war oder nicht, ob sie die Erlaubnis dazu hatten oder nicht. Wenn sie essen wollten, dann aßen sie, wenn sie kacken wollten, dann kackten sie. Sie bissen und brüllten und lachten, bis sie kotzen mussten.

Morgenthaler spähte um die Ecke.

»Ach herrje«, stöhnte er. Die Erwachsenen im Raum waren eindeutig in der Minderzahl. Zwei von ihnen waren Buchhändlerinnen, die hinter einem Tisch voller Bilderbücher Wache hielten. Weitere zwei steckten in Ganzkörperkostümen, das eine ein Stinktier, das andere ein kleines Mädchen mit so riesigem Kopf, dass einen beim Anblick der Proportionen das kalte Grausen überkam.

Die Presseagentin tätschelte ihm den Arm. Sie hatte seine chronische Gestresstheit, die er stets zur Schau trug, schon immer possierlich gefunden. Dann gab sie ihren Leuten hinter ihm ein Zeichen.

»Los geht’s«, sagte sie.

Morgenthaler fuhr sich ein letztes Mal mit den Fingern durch das stumpfbraune Haar und verließ das Hinterzimmer, flankiert von vier weiteren Maskottchen: einem grünen Hund, einem Ohrensessel, einem ebenfalls beunruhigend großköpfigen alten Mann und einer vage krakenartigen Kreatur. Ein Kind in der ersten Reihe fing an zu weinen, ob vor Angst oder Freude, war schwer zu sagen.

Ganz am anderen Ende des Raums stand Lin Draper, dreifache Mutter, und verfolgte Morgenthalers Auftritt. Was für einen Eierkopf er hatte, dachte sie. Wie von jemandem gezeichnet, der schon seit einer Weile keinen echten Menschenkopf mehr gesehen hatte. Irgendwie hatte sie ihn sich anders vorgestellt, als sie an diesem Morgen ihre Tochter India ins Auto verfrachtet hatte. Familienfreundlicher. Er war verschwitzt und hatte bereits zwei Kraftausdrücke verwendet. Er trug ein schwarzes Sakko über einem weißen T-Shirt mit V-Ausschnitt und rote Chucks, eine Kombination, die dem Betrachter geradezu entgegenschrie, dass dieser Mann nicht nur Sammler, sondern auch Künstler war und somit nicht nur der mit dem Geld, sondern auch der mit dem Talent. Morgenthaler sprach mit übertrieben fröhlicher Stimme, wie Erwachsene es oft Kindern gegenüber taten: »Könnt ihr euch vorstellen, dass ich ursprünglich mal Bücher für Erwachsene schreiben wollte? Ich wollte ein richtig ernst zu nehmender Künstler werden und abstrakte Bilder malen. Aber nein, meinte meine Agentin, ich sei doch viel besser für Kinder geeignet, und tja, jetzt sitze ich hier, immer noch, seit zehn Jahren  …«

»Nimmst du mich an die Hand?«, flüsterte India.

Mit einem Anflug von Schamgefühl, das nur die eigenen Kinder in einem auslösen konnten, registrierte Lin, dass ihre kleine Tochter gar nicht mit ihr redete, sondern mit einem rothaarigen Mädchen im Teenageralter.

Leise wies sie India zurecht, bevor sie dem Mädchen zumurmelte: »Entschuldigung.«

»Ist schon in Ordnung«, erwiderte das Mädchen und hielt India, ohne zu zögern, die Hand hin. India schob ihre pummeligen Finger hinein und drückte der Rothaarigen, wie aus einem Reflex heraus, ein Küsschen auf den Handrücken.

»India«, zischte Lin entsetzt. »Du kommst jetzt sofort mit raus!«

»Sei gesegnet«, flüsterte das Mädchen India zu, auf deren Gesicht sich ein glückseliger Ausdruck ausbreitete, bevor ihre Mutter sie davonschleifte.

»Wie wär’s, wenn wir direkt zu unserer Fragerunde übergehen?«, verkündete eine der Buchhändlerinnen in einem Tonfall, der wohl nahelegen sollte, dass alles in Butter war, aber vielmehr das Gegenteil erahnen ließ.

Während die Kinder ihre Fragen stellten (»Wie alt sind Sie?« – »Kennen Sie jemand, der in echt ist wie Clancy?« – »Haben Sie einen Hund?« – »Und wie heißt der?«), näherten sich immer mehr der kleinen Zuschauer dem rothaarigen Mädchen. Sie schmiegten sich an sie, berührten sie am Bein oder umklammerten ihre Hand, wie India. Sie wirkten wesentlich interessierter an ihr als an Morgenthaler.

Morgenthalers Stimme wurde unterdessen immer lauter und weniger jovial. »Wenn du’s genau wissen willst – wie war dein Name? Maria? –, dass man Henderson-Puppen kaufen kann, aber keine Skunkboy-Puppen, liegt daran, dass ich schon seit Ewigkeiten einen Krieg um die Merchandising-Rechte führe. Ist nämlich gar nicht mal so einfach, einen Anwalt zu finden, der nicht mit deiner Frau ins Bett geht, aber dummerweise braucht man den, wenn man eine gute Rechtsvertr… Was denn, wollen Sie mir jetzt auch noch vorschreiben, wie ich meine Auftritte gestalte?«

Die letzte Frage richtete sich an den großköpfigen alten Mann.

Im nächsten Moment holte Morgenthaler aus und schlug dem Maskottchen den Kopf vom Kostüm.

Schweigen trat ein, während der Kopf durch die Luft segelte und kurz darauf, begleitet von einem ebenso vielsagenden Maß an Geräuschen, im Publikum landete.

Morgenthaler blickte ihm leicht derangiert nach, ehe er sich auf den enthaupteten Altmännerkörper stürzte.

Chaos brach aus. Ein Maskottchen nach dem anderen ging zu Boden. Der Ohrensessel konnte sich in letzter Sekunde in die vorderste Reihe der Kinder retten. Ein Vater bekam einen Faustschlag ins Gesicht. Bilderbücher flatterten auf wie verletzte Vögel. An Morgenthalers Sakko pappte ein Büschel Kunstfell von einem der Kostüme. Sein inneres Kind – der kleine Anarchist, das triebgesteuerte Monster – verlangte brüllend nach Freiheit.

Die Anarchie erfasste alles und jeden, außer dem rothaarigen Mädchen ganz am hinteren Ende der Menge.

»Tötet eure Träume, Kinder!«, kreischte Morgenthaler. »Tötet sie, bevor New York sie in die Finger kriegt und sie in etwas verwandelt, das … das …«

Der Krake zerrte ihn ins Hinterzimmer.

 

Nachdem alle weg waren – die Kinder, die Eltern, die Buchhändlerinnen, die Presseagentin, die Maskottchen –, schlurfte Morgenthaler zurück in seine Galerie und blieb in der Nachmittagssonne stehen. Jetzt, da er allein darin war, war das Gebäude nichts als ein riesiger Klotz aus Glas und Beton. Sein Handy brummte. Das musste seine Agentin sein. Und mit seiner Agentin wollte er jetzt nicht sprechen.

Als er jedoch hochsah, merkte er, dass er gar nicht allein im Gebäude war. Ein junges Mädchen stand neben einer strudelartigen 3 -D-Installation, die er in die Ausstellung mit aufgenommen hatte, weil er sie nicht verstand. Das Mädchen hatte rote Haare und keinerlei Ähnlichkeit mit seiner abtrünnigen Ehefrau, aber aus irgendeinem Grund musste Morgenthaler auf einmal daran denken, wie es war, eins ihrer Haare an seiner Kleidung zu finden. Kein angenehmes Gefühl.

Er war sich sicher, die Tür abgeschlossen zu haben.

»Die Veranstaltung ist vorbei«, sagte er. »Alles vorbei.«

»Ich suche Hennessy«, antwortete das Mädchen.

»Was?«

Sie wiederholte ihre Äußerung nicht. »Und ich glaube, Sie können mir helfen.«

Morgenthaler wusste im Augenblick nicht mal sich selbst zu helfen. Vor fünf Minuten hatte er sich eine Flasche Mineralwasser genommen, um seine Trauer darin zu ertränken, aber er hatte es nicht geschafft, den Deckel aufzuschrauben.

»Ich kenne keine Hennessy«, sagte er.

Das Mädchen zeigte auf ein Gemälde an der Wand. »Doch, bestimmt. Sie hat das da gemalt.«

Das Bild trug den Titel Flussszene . In der unteren Ecke stand der Name des Malers – Joe Jones –, zusammen mit einem Datum: 1941 .

»Kleine«, wandte Morgenthaler sich wieder an das Mädchen, »das Gemälde da ist sechzigtausend Dollar wert und uralt. Joe ist tot. Ich kenne keine Hennessy. Also frag mich was anderes.«

Sie studierte seine Miene und rieb sich gedankenverloren den Ellbogen. »Kann ich … hierbleiben?«

»Was?«

»Nur für heute Nacht.« Sie deutete auf die elegante Couch gleich neben Flussszene. »Bitte.«

Okay, anscheinend hatte sie kein Zuhause. Langsam begann Morgenthaler zu begreifen. Seine Presseagentin hatte gerade vor ein paar Tagen noch irgendwas über Obdachlose erzählt, aber was genau, wusste er nicht mehr. Er fragte sich, ob er eigentlich jemals irgendwem zuhörte.

»Dafür gibt es doch Unterkünfte«, sagte er zu dem Mädchen. Zumindest glaubte er, dass es in der Gegend so was gab. Obdachlosigkeit war schließlich in jeder Stadt ein Thema und das hier war eine Stadt.

»Ich brauche einen Platz ohne andere Leute.«

Sie weinte nicht, aber sie rang auf eine ganz bestimmte Art die Hände, die, wie Morgenthaler wusste, allzu oft Gefühlsausbrüche zur Folge hatte. Er konnte nur hoffen, dass sie nicht zu weinen anfing, denn dann müsste er mitweinen. Er war schon immer so verflucht empathisch gewesen, besonders wenn Tränen oder Erbrochenes im Spiel waren.

»Tut mir leid«, sagte er. »Aber das geht nicht. Dafür sind hier zu viele wertvolle Sachen.«

Er hatte erwartet, dass sie erneut protestieren würde, stattdessen aber bewegte sie sich langsam und ohne ein weiteres Wort auf den Ausgang zu. Als sie die Tür öffnete, spürte Morgenthaler eine warme Brise hereinwehen, die ihm nicht so recht zur aktuellen Wetterlage zu passen schien. Die Tür fiel hinter ihr zu. Er schloss ab.

Sie wird schon zurechtkommen, dachte er. Ganz bestimmt. Oder?

Mit einem Mal, während die Sekunden dahintickten, fühlte er sich wie von einer seltsamen Leere erfüllt. Nicht wegen dem, worum sie ihn gebeten hatte, sondern wegen dem, worum sie ihn nicht gebeten hatte. Nicht weil sie ihn an seine Frau erinnerte, sondern weil sie es nicht tat. Nicht weil sie ihn all den Frust des heutigen Tages hatte vergessen lassen, sondern weil er ihn durch sie umso deutlicher spürte.

Kurz entschlossen schob er den Riegel wieder zurück, stieß die Tür auf und joggte ein paar Schritte über den Kiesweg.

»Hey!«, rief er. »Hey!«

Sie war schon ein ganzes Stück weit weg. Jetzt jedoch blieb sie stehen.

»Ich kann dich fahren«, bot er an. »Zu einer Unterkunft. Da kriegst du was zu essen.«

Sie lächelte sehr liebenswürdig und sehr traurig zugleich und schüttelte den Kopf, während ihre Füße bereits ihren Weg den Bürgersteig hinunter fortsetzten. »Ich will nicht, dass Ihnen was passiert.«

Dann ging sie und beide weinten.