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R onan ging neben Adam her bis zum oberen Ende der Zufahrt, Chainsaw auf der Schulter, die Traumsonne in der Kapuze seines Hoodies, damit sie etwas sehen konnten. Die drei Stunden waren um, die Kutsche würde sich zurück in einen Kürbis verwandeln, die Pferde würden wieder zu Mäusen. Adam, bemüht, sich mit dem Traummotorrad Ronans Schrittgeschwindigkeit anzupassen, drehte ständig den Lenker hin und her, was aussah, als würde der Scheinwerfer unsicher den Kopf schütteln. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis Adam stürzte, aber noch hielt er sich wacker. Ronan fragte sich, wann er überhaupt Motorrad fahren gelernt hatte. Vielleicht hatte der Automechaniker, bei dem er neben der Schule gearbeitet hatte, es ihm beigebracht. Oder jemand in dem Warenlager, wo er seinen zweiten Job gehabt hatte. Adam eignete sich Fähigkeiten an, wie andere Leute Kleidung oder Lebensmittel kauften. Im Vorbeigehen.

Sein vom Helm beschattetes Gesicht war hoch konzentriert. Eine Hand ruhte locker auf dem Schalthebel, die andere auf der Bremse. Die an der Bremse war mit einem frischen Verband versehen, das einzig sichtbare Überbleibsel seiner Hellsehsitzung. Was für seelische Folgen sie haben würde, ließ sich noch nicht abschätzen. Ronan wusste jedoch, dass er Adams Schrei und sein eigenes Entsetzen darüber lange nicht vergessen würde.

Irgendetwas war da draußen, und es war so grauenhaft, dass Adam seinen bloßen Blick nicht ertrug.

Aber was immer ihm diesen Schrei entlockt hatte – es fürchtete sich vor Bryde.

Ronan drehte und wendete, drehte und wendete diese Information in seinem Kopf.

Kurz vor der Mündung der Zufahrt wollte Adam das Motorrad anhalten, dessen Vorderrad sich jedoch quer stellte, und Adam stürzte. Er stieß einen gedämpften Schrei aus, einen völlig gewöhnlichen Laut des Schmerzes und der Frustration. Chainsaw flatterte davon, als fühlte sie sich persönlich gekränkt, während Ronan und Adam das Rad wieder aufrichteten.

»Ich vergesse immer …«, begann Adam, führte jedoch nicht aus, was er immer vergaß.

Jetzt schwang Ronan das Bein über den Sattel und hielt den Lenker gerade, um nicht denselben Fehler zu machen wie Adam. Die Maschine unter ihm fühlte sich gut an, solide, handfest. »Nächstes Mal kannst du mir zeigen, wie man so ein Ding richtig fährt.«

»Eine Hand wäscht die andere«, entgegnete Adam und es dauerte einen Moment, ehe Ronan kapierte, dass er darauf anspielte, wie Ronan ihm vor langer Zeit beigebracht hatte, einen Schaltwagen zu fahren. »Du musst das echt nicht für mich machen«, fügte Adam dann hinzu.

Ronan spähte Richtung Zufahrt, wo das geträumte Sicherheitssystem unsichtbar in der Dunkelheit lauerte. »Ist kein Problem. Ich fahre hier doch andauernd durch.«

Adam schnaubte zweifelnd. Doch er wies den Gefallen nicht zurück.

»Schnapp dir das Sonnending.« Ronan wartete, bis Adam die Sonne aus seiner Kapuze genommen hatte. »Siehst du den Baum da vorne? Die Eiche mit dem tief hängenden Ast? Wenn du außen um die rumläufst und dann zurück auf die Straße, bist du sicher. Ich bring dir die Maschine.«

In dem Moment traf Ronan die Erkenntnis, dass er Adam nicht gehen lassen wollte. Aus mehreren Gründen: Da waren Adams Schrei, der ihn zutiefst erschüttert hatte, und Adams Körper, den der seine schmerzlich vermissen würde, wenn er sich später allein im Bett zusammenrollte. Und schließlich das Wissen, dass irgendwo dort draußen etwas Riesiges, Unbekanntes lauerte, unsichtbar für Ronans Träumeraugen, aber sichtbar für Adams Wahrsagerblick. Es schien absurd, dass seine Einsamkeit sich durch Adams Besuch verschlimmert haben sollte, aber Ronan vermisste ihn schon jetzt, noch während er ihm gegenüberstand.

Nichts davon sprach Ronan laut aus und trotzdem sagte Adam jetzt: »Ich darf meine Kurse morgen nicht verpassen.« Es war tröstlich, dass er den Moment genauso hinauszögerte wie Ronan, wie er von einem Fuß auf den anderen trat, mit dem Finger erst über einen Kratzer auf dem Tankbehälter strich, dann über einen Kratzer an Ronans Handgelenk, noch von den Killerkrebsen. Wie er ruckartig den Kopf drehte, als der Schrei irgendeines Nachtvogels an sein heiles Ohr drang, und schließlich den Reißverschluss seiner Jacke hochzog. »Sag was auf Latein.«

Ronan überlegte. »Inuisus natalis adest, qui rure molesto et sine Adam tristis agendus erit .«

Was hätte besser gepasst als ein bisschen antikes Gemecker von jemandem, der seinen Geburtstag ohne einen geliebten Menschen verbringen musste?

Adam dachte kurz nach und lachte dann. »Propertius? Nein. Sulpicia?«

»Sulpicia. Sicher, dass ich dich nicht fahren soll?« Acht Stunden zurück nach Harvard, im Dunkeln, auf einem Motorrad. Ronan war immer noch erschöpft nach seiner Nachtschwarz-Attacke und zu wenig Schlaf, aber für Adam würde er jederzeit wach bleiben.

»Wenn Matthew sich dich zu deinem Geburtstag wünscht, solltest du ihn nicht enttäuschen. Und ich bin nicht müde, ehrlich nicht. Im Gegenteil. Ich hab schließlich ’ne Menge, worüber ich nachdenken kann.«

Das hatten sie wohl beide.

Ronan stieß geräuschvoll den Atem aus und schob das Motorrad auf das Sicherheitssystem zu. Adam klopfte zweimal aufmunternd auf den Tank und verschwand im Unterholz.

Ronan wappnete sich wie für einen Traum, konzentrierte sich auf die Gegenwart, in der sich sein Körper befand. Darauf, dass alles, was er gleich sehen würde, lange hinter ihm lag.

Das Sicherheitssystem umfing ihn wie ein hauchdünnes Netz.

Erinnerungen stiegen auf. Ronan machte sich auf den gewohnten Horror gefasst. Blut und Gedärme. Knochen und Haare. Trauerfeiern am geschlossenen Sarg. Adams Schrei.

Stattdessen aber durchlebte er jeden Tag erneut, den er allein verbracht hatte.

Kein Blut. Keine gellende Todesangst.

Bloß Stille. Die Stille, die nach alldem einsetzte. Die Stille, die einsetzte, wenn man als Einziger übrig war. Die Stille, die einsetzte, wenn man so fremd auf dieser Welt war, dass einem die Dinge, die alle anderen vertrieben hatten, nichts anhaben konnten.

Und dann war es vorbei. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, ehe Adam mit der Traumsonne in den Händen aus dem Dickicht trat.

»Nur noch ein paar Wochen bis zu den Ferien«, sagte Adam. Er küsste Ronan auf die Wange, ganz sanft, dann auf den Mund. »Ich komme bald wieder. Warte auf mich, ja?«

»Tamquam «, sagte Ronan.

»… alter idem .«

Sie umarmten sich. Adam setzte seinen Helm auf.

Noch lange, nachdem Adams Rücklicht verschwunden war, stand Ronan in der Dunkelheit. Allein.

Dann ging er nach Hause, um von Bryde zu träumen.