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I ch nehme keine Drogen, hatte Salvador Dalí einmal gesagt. Ich bin eine Droge.

Ronan Lynch ließ Jordans Gehirn detonieren. In exakt dem Moment, als er in der Villa aus seinem Traum erwachte, wurde ihr klar, dass sie nie ernsthaft geglaubt hatte, dass Hennessy irgendwas anderes träumen konnte als sich selbst. Wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie möglicherweise nicht mal ernsthaft geglaubt, dass Hennessy überhaupt irgendwas träumen konnte. Was natürlich Blödsinn war. Jordan wusste, dass Hennessy für all die Mädchen mit ihrem Gesicht verantwortlich war. Selbst wenn niemand sie auch nur einmal dabei beobachtet hatte. Alles, was sie und die anderen Mädchen je persönlich erlebt hatten, war ihre eigene Schöpfung gewesen: zum Leben erwacht neben einer versteinerten, Qualen leidenden Hennessy. Nie hatte eine von ihnen sie einschlafen und mit irgendetwas Neuem aufwachen sehen.

Dennoch war die Erkenntnis schockierend gewesen.

Mittlerweile war es Morgen und strahlendes, farbloses Licht fiel zu den großen, blütenstaubbedeckten Fenstern herein, löschte sämtliche Schatten aus und verwandelte das Zimmer in ein Museum für moderne Kunst und urbanen Verfall. Ein Flugzeug im Landeanflug zog über das Haus hinweg, und sein geschäftiges Dröhnen rief ihnen allen in Erinnerung, dass trotz der verrückten Nacht, die sie hinter sich hatten, für die meisten Menschen im Großraum D.C. das ganz normale Leben weiterging. Sämtliche Mädchen hatten sich um den gelben Lexus versammelt wie um ein wärmendes Feuer und starrten mehr oder weniger unverhohlen Ronan Lynch an, der auf dem glänzenden Brokatsofa mit den Einschusslöchern in der Lehne lag. Er war so groß, dass sein rasierter Schädel in eine Ecke gequetscht war und seine Füße am anderen Ende über die Armlehne hingen. Jordan, die sich noch immer nicht ganz von ihrer Traumepisode erholt hatte, musterte ihn und stellte sich vor, wie sie ihn malen würde. Die dunklen, klaren Konturen seiner Kleidung, die blassen, klaren Konturen seiner Haut, die Rastlosigkeit, die seinen Körper selbst im Schlaf unter Spannung hielt. Was für ein Porträt er und sein Bruder abgeben würden, dachte sie.

Dann erwachte Ronan und brachte seinen Traum mit.

Und Jordans Gehirn detonierte.

Es war nicht so, dass er einfach die Augen aufschlug und plötzlich irgendwelche Dinge aus dem Nichts erschienen. Sie nahmen auch nicht allmählich neben ihm Gestalt an. So simpel war es bei Weitem nicht. Eher schien sich während seines Erwachens etwas an der Zeitstruktur um ihn zu verändern, etwas an der Art, wie die Menschen in seiner Nähe die Zeit wahrnahmen. Denn Jordan wusste – wusste auf einer logischen, intellektuellen, von Grund auf unanzweifelbaren Ebene –, dass Ronan einen Moment zuvor noch mit leeren Händen auf dem Sofa gelegen hatte, während er nun ein großes Paket darin hielt, sosehr ihr Gehirn sich auch bemühte, sie davon zu überzeugen, dass dieses Paket schon von vornherein dort gewesen war. Es war, als hätte jemand die Realität dahingehend umgeschrieben, dass nun etwas Neues darin vorhanden war, ohne Jordan das Recht zuzugestehen, es erscheinen zu sehen.

»Ach herrjemine«, hauchte Trinity, was die Situation ziemlich gut zusammenfasste.

Ronans Knie waren sandig. Waren sie schon die ganze Zeit sandig gewesen? Ein Teil von Jordans Gehirn sagte: Ja, das war schon vorher so, während ein anderer Teil widersprach: Quatsch, denk doch mal nach, bis vor ein paar Minuten hat er noch klitschnass mit euch allen im Flur gehockt.

Magie.

Jordan hatte Hennessys Zustand stets wie eine unheilbare Krankheit betrachtet, jetzt jedoch sah sie zum ersten Mal die Magie darin.

»Was meint ihr, wie lange er noch so bleibt?«, fragte Trinity und beugte sich dicht über ihn.

Ronan lag wie versteinert da, genau wie Hennessy nach jedem ihrer Träume, also schienen sie zumindest das gemeinsam zu haben. Madox wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht hin und her.

»Lass den Mist«, wies Jordan sie zurecht.

»Meine Güte!«, rief June. »Jordan, meinst du, so müsste das sein? Also bei ihr? Guck mal.« Sie drückte den Finger auf Ronans Handrücken und zog ihn wieder weg, um zu demonstrieren, wie seine Haut zurück an ihren Platz schnellte, ganz normal und unversehrt.

Jordan hatte keine Ahnung. Sie hatten nur zwei Studienobjekte, die nicht mal genug Material für selbst die unhaltbarsten Thesen lieferten.

»Vielleicht kann er es ihr ja beibringen«, sagte Trinity.

»Genau, weil Hennessy sich nämlich so gern belehren lässt«, schnaubte Madox.

»Aber vielleicht kann er ihr ja was träumen«, überlegte Jordan. »Nicht so was wie Die dunkle Dame . Sondern irgendwas, was wirklich hilft.«

June griff ganz vorsichtig nach dem Paket auf Ronans Brust, als Ronan unvermittelt ihre Hand beiseiteschlug.

»Pfoten weg«, sagte er und streckte sich.

Die Mädchen lachten, überrascht, aber da war auch noch etwas anderes, schwerer zu Definierendes, das hörte Jordan ihnen an. Alle waren aufgeregt. Optimistisch. Heute ähnelten sie eher ihr selbst als Hennessy.

Allein für diese Tatsache war Jordan Ronan dankbarer als dafür, dass er die Tür des überfluteten Badezimmers geöffnet hatte. Hoffnung war etwas, was in diesem Haus derzeit leider meist zuerst starb.

»Willkommen zurück«, sagte sie zu ihm. »Und, was hast du für uns? Krieg ich einen Preis, wenn ich’s errate?«

Ronan hievte Jordan das Paket in die Arme. Jordan warf ihm einen Blick zu – sie hatte tatsächlich eine Ahnung – und begann, das braune Papier aufzureißen.

Zum Vorschein kam ein Gemälde in einem ihr wohlbekannten Goldrahmen.

Es zeigte eine Frau in einem lavendelblauen Kleid, die trotzig die Hände in die Hüften stemmte und ein Herrenjackett über den Schultern trug. Sie starrte dem Betrachter herausfordernd entgegen.

Genau wie Jordans tätowierte Mona Lisa war auch dieses Gemälde ein nahezu perfektes Abbild des Originals. Es war Die dunkle Dame, das Gemälde, dessen Fälschung sie selbst Stunden um Stunden um Stunden gekostet hatte. Mit dem Unterschied, dass die Frau auf diesem Bild nicht nur Hennessys Gesicht hatte, sondern auch ihre Tattoos an Hals und Fingerknöcheln.

Die Kopie war meisterhaft, raffiniert, so gut wie ihre eigene. Nein. Besser. Denn dieses Gemälde strahlte genau dasselbe magnetisch-gespenstische Verlangen aus wie das Original, etwas, was ihrer Fälschung vollkommen abging. Dies hier war keine bloße Echtwelt-Version eines Traums. Dies hier war der Traum eines Traums. Es war vollkommen. Mehr als das.

Und Ronan hatte nur eine halbe Stunde dafür gebraucht.

Jordan wusste, dass die anderen Mädchen dasselbe dachten, spätestens als Trinity sagte: »Da hat Jordan eine Ewigkeit drangesessen.«

Ronan zuckte mit den Schultern.

»Du könntest alles, woran wir hier arbeiten, innerhalb einer Nacht fertigstellen.«

Ronan zuckte mit den Schultern.

»Was machst du denn den ganzen restlichen Tag?«, wollte Brooklyn wissen.

Er schenkte ihr ein Grinsen. Diese Arroganz. Diese unverhohlene Selbstgefälligkeit. Aber wen wunderte es auch? Wie sollte man nicht arrogant werden, wenn man ein solches Leben führte? Gab es irgendwas, was dieser Typ nicht konnte?

Vielleicht konnte er ihnen sogar das Leben retten.

Es gibt Tage, hatte Dalí einmal gesagt, an denen ich fürchte, dass ich an einer Überdosis Zufriedenheit sterben werde.

»Wir müssen dir eine Geschichte erzählen«, sagte Jordan.