S t. Eithne war eine merkwürdige kleine Kirche, fand Ronan. Alles an ihr war winzig und grün. Winzige grüne Läden vor den winzigen Fenstern im Eingangsbereich, eine winzige grüne Tür zum Kirchenschiff. Winzige grüne Teppiche auf dem ausgetretenen Boden. Winzige grüne Wandbehänge mit dem Schriftzug ST . EITHNE 1924 . Winzige Sitzreihen mit tiefgrün gepolsterten Kniebänken. Winzige Buntglasfenster zeichneten wässrig grüne Stationen des Kreuzwegs Jesu auf den Boden. Eine winzige Marienstatue, ebenfalls ins Grün der Fenster getaucht, ein winziger Jesus hinter dem Altar, farblos und fröhlich, wenn man mal von der grünen Dornenkrone absah. Eine winzige, grün gestrichene Decke, die von oben auf sie herabzudrücken schien.
Ronan tauchte gerade die Finger in ein winziges Becken voll grünlich schimmernden Weihwassers, als Declan ihn beim Arm packte.
»Wo warst du?«, fuhr er ihn an.
»Hey, mal langsam, du Psycho.« Ronan erhaschte einen Blick auf Matthews goldene Locken in der vordersten Sitzreihe, bevor Declan ihn zurück in den Eingangsbereich schleifte. »Hat da jemand vergessen, seine Pillen einzuwerfen? Dir auch alles Gute zum Geburtstag.«
»Alles«, knurrte Declan, »Gute.«
Auf Declans Tonfall hin sah Ronan sich um, doch die Kirche schien leer zu sein. Ein Gotteshaus für winzige grüne Meerjungfrauen war nachmittags unter der Woche offenbar nicht gerade ein Hotspot. Wenn die Brüder sonntags herkamen, war die Kirche immer zum Bersten voll mit alten Leuten, das Haar von den Buntglasfenstern grün getönt, hinter der Kanzel der greisenhafte Pater O’Hanlon in seinem dunkelgrünen Ornat, das so speckig war, dass es die Predigt vermutlich allein hätte halten können. Wenn Ronan im Beichtstuhl saß, dachte er den Großteil der Zeit darüber nach, ob es wohl eine Sünde war, den Pater nicht auf seinen überwältigenden Körpergeruch hinzuweisen.
»Wo zum Teufel warst du?«, fragte Declan erneut.
Ronan wollte nicht lügen, also lieferte er Declan einen Teil der Wahrheit. »Adam hat mich besucht.«
»Heute?«
»Zumindest ist er heute wieder gefahren.«
»Ich hätte dich gebraucht«, sagte Declan. »Es gab einen Notfall.«
»Einen Zoo-Notfall.«
»Hast du die Nachrichten überhaupt gelesen, die ich dir geschickt habe? Hast du deine Mailbox abgehört?«
Ronan hatte die Nachrichten gelesen. »War ja nicht direkt schwer zu erraten, wo er zu finden sein würde. Er geht doch immer zu den Wasserfällen, immer an genau denselben Platz. Overlook eins – warum mit alten Gewohnheiten brechen? Ich hatte mein Handy halt im Auto liegen, also stress nicht so rum, Mann.«
»Ich war bei der Arbeit«, schimpfte Declan. »Ich hatte Termine. Diese ganze Angelegenheit hat mich in eine denkbar unangenehme Lage gebracht.«
Ein Declanismus erster Güte.
»Eine denkbar unangenehme Lage«, echote Ronan.
»Jetzt sag schon, wo warst du wirklich?«, verlangte Declan zu wissen. Als Ronan bloß eine Augenbraue hob, winkte er ab. »Okay, dann behalt’s eben für dich. Ich gehe davon aus, dass du sowieso alle meine Warnungen über Bryde und diese Jagd in den Wind schlägst. Ist ja schließlich immer so, stimmt’s? Ich versuche, mich unauffällig zu verhalten, und du träumst ein verdammtes Flugzeug, das ›Bring mich um!‹ an den Himmel schreibt.«
»Womit mal wieder bewiesen wäre, dass man keinen Priester braucht, um eine Predigt zu kriegen«, schnaubte Ronan. »Und, gehen wir jetzt in den Zoo?«
Zu Ronans Überraschung packte Declan ihn unsanft bei den Oberarmen und rotierte ihn Richtung Altar. Es war lange her, dass eine ihrer Fäuste im Gesicht des jeweils anderen gelandet war, aber der Druck von Declans Fingerspitzen rief Ronan das Gefühl lebhaft in Erinnerung.
»Siehst du den Jungen da?«, zischte Declan ihm ins Ohr. »Der den Kopf so hängen lässt? Kommt dir bekannt vor, oder? Dein kleiner Bruder? Keine Ahnung, wo du warst, aber während du dich anderweitig vergnügt hast, hat er eins und eins zusammengezählt. Während du mal wieder der ganzen Welt den Mittelfinger gezeigt hast, hat er rausgefunden, dass du ihn geträumt hast. Also nein, wir gehen nicht in den Zoo.«
Declan ließ ihn so ruckartig los, dass Ronan sich eher geschubst fühlte. »Ich gehe jetzt telefonieren und versuche ein bisschen Schadensbegrenzung zu betreiben. Und währenddessen kannst du gern Matthew in die Augen gucken und weiter den Klugscheißer spielen, wenn du willst.«
Ronan blieb allein in dem winzigen grünen Kirchenschiff zurück und spähte zu seinem Bruder hinüber. Plötzlich fiel ihm auf, wie unmatthewhaft dessen Körperhaltung wirkte. Der gesenkte Kopf. Die im Nacken verschränkten Hände.
Er sah sich um, aber Declan war bereits nach draußen verschwunden.
Leise ging er nach vorne, bekreuzigte sich und setzte sich neben Matthew.
»Hey, Kleiner«, sagte er.
Matthew rührte sich nicht.
Ronan vergrub eine Hand in Matthews dicken goldenen Locken und zerstrubbelte sie. »Willst du drüber reden oder nicht?«
Matthew sagte nichts. Ronan lehnte die Schulter an Matthews, so, wie er es schon viele Male zuvor getan hatte, und versuchte, sich auszumalen, was sein Bruder jetzt am dringendsten von ihm brauchte. Vermutlich eine Umarmung. Matthew wollte fast immer umarmt werden.
Matthew saß reglos da. Er weinte nicht. Er machte gar nichts. Normalerweise machte Matthew immer irgendwas. Rumzappeln. Reden. Lachen. Hinfallen. Wieder aufstehen. Singen.
Aber jetzt machte er gar nichts.
In der Kirche war es still, abgesehen von einem gelegentlichen Rülpser der alten Heizung. Das Geräusch veränderte immer wieder die Tonlage, wie ein lautstark schnarchender Mensch, was bei den zwei jüngeren Lynch-Brüdern während des Gottesdienstes oft zu Erheiterung geführt hatte.
Mit einem Mal roch Ronan Weihrauch und Salzwasser, als neigte sich die Messe für winzige grüne Meerjungfrauen dem Ende zu. Gehet hin in Frieden . Aber Matthew war von Frieden weit entfernt.
»Was würdest du jetzt gern von mir hören, kleiner Mann?«, fragte er.
»Ich will …«, begann Matthew und schwieg dann eine Weile, ehe er fortfuhr: »Überhaupt nichts von dir hören …« Er schien seine Worte sorgsam zu dosieren, sie nur tröpfchenweise auszuschenken und sich immer wieder zu vergewissern, dass in seinem Krug noch genug übrig war. »… weil ich jetzt weiß …« Er klang kein bisschen wie er selbst. »… dass du genauso ein Lügner bist wie Declan.«
Hitze stieg Ronan ins Gesicht. Prickelnde Hitze.
»Oh«, sagte er.
Scham.
Ronan lehnte sich zurück.
Lange saßen sie noch so nebeneinander, während das Licht, das zu den winzigen grünen Fenstern hereinfiel, langsam durchs Kirchenschiff wanderte.
Mehr sagten sie nicht.