F arooq-Lane war keine Sekunde lang auf die Idee gekommen, dass Parsifal Bauer gelogen haben könnte, als er behauptet hatte, sich auf den Weg zurück ins Hotel zu machen. So viele unschöne Charakterzüge der Junge auch an den Tag legte, Unaufrichtigkeit schien bislang nicht dazugehört zu haben. Und trotzdem kam er nicht zurück ins Hotel, ging weder an sein Handy, noch antwortete er auf Nachrichten, mit Ausnahme der allerersten, die sie ihm geschickt hatte: Sie reden ja immer noch. Farooq-Lane wartete stundenlang auf ihn.
Lock rief an, aber sie ging nicht ran, als hätte sie sich bereits mit Parsifals Parsifalitis angesteckt. Sie wollte Lock jetzt nicht erzählen müssen, dass sie ihren Visionär verloren hatte. Dass sie noch immer nichts weiter als die alte Zed-Frau aufgespürt hatte. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Bastelauftrag erhalten, aber nicht das nötige Material dafür, ein Puzzle, bei dem die meisten Teile fehlten. Sie befand sich auf einer Schatzsuche und Parsifal Bauer war ihr einziger Hinweis. Das Unterfangen war von vornherein zum Scheitern verurteilt und dennoch würde man ihr die Schuld daran geben.
Ein paar Stunden lang durchforstete sie das Internet nach Bryde, in der Hoffnung auf Informationen, die über das, was sie bereits aus den Visionen wusste, hinausgingen. Sie machte sich einen widerlichen Kaffee. Aß ein paar von den Äpfeln, die Parsifal für zu fade befunden hatte.
Dann durchwühlte sie Parsifals Sachen.
Sie wusste, dass man so was nicht machte, aber man stieg schließlich auch nicht einfach aus dem Auto und verdünnisierte sich, wenn man der Einzige war, der den Weltuntergang verhindern konnte.
Parsifals Koffer war – kaum überraschend – sehr penibel gepackt. Drei Garnituren Kleidung, jede davon so geschickt ineinandergefaltet, dass er das Bündel jeweils im Ganzen herausnehmen und auf seinen Körper übertragen konnte. Ein makellos sauberer Leinenkulturbeutel mit Toilettenartikeln. Zwei Nicolas-Mahler-Comics. Ein Notizbuch mit einem einzigen angefangenen Tagebucheintrag darin. 14 . März: Ich habe versucht, so zu t
In die untere Ecke hatte er einen auffallend hässlichen Hund gezeichnet, jeder Strich hart, unfreundlich. Ein Stil, der Farooq-Lane nicht zusagte.
In der Netztasche im Deckel des Koffers fand sie eine alte vermackte CD -Hülle. Opernmusik. Richard Wagners Parsifal . Gerade als sie die Hülle zurückschieben wollte, fiel ihr Blick auf die Namen der Interpreten auf dem Cover. JOHANNA BAUER . Schwester? Mutter? Sie drehte die Hülle um und suchte nach dem Veröffentlichungsdatum. Alles war auf Deutsch. Als sie sie öffnete, fiel ihr ein Foto entgegen. Das Bild war gestellt, und obwohl niemand darauf lachte, war den Gesichtern deutlich anzusehen, dass alle sich köstlich amüsierten. Auf der einen Seite standen eine rundliche Frau (Mutter?) und drei Mädchen (Schwestern?) und deuteten übertrieben theatralisch auf die andere Seite, wo ein wesentlich jüngerer Parsifal ein übertrieben entnervtes Gesicht zog – derart übertrieben, dass er sich offensichtlich selbst aufs Korn nahm. Die Bildkomposition hatte etwas Künstlerisches an sich, die Art, wie die ausgestreckten Arme der vier Frauen die Aufmerksamkeit des Betrachters von der vorgeschützten Betroffenheit auf ihren Gesichtern zu der vorgeschützten Verzweiflung auf seinem lenkten.
Ich hab sie alle umgebracht, hatte Parsifal gesagt.
Ungeschulte Visionäre konnten beängstigend zerstörerische Kräfte entwickeln, besonders sich selbst gegenüber. Lock hatte ihr einmal anvertraut, ihm sei noch nie einer untergekommen, der nicht seine ganz persönliche Tragödie im Gepäck gehabt hätte.
Das hier war Parsifals Tragödie.
Er kam nicht zurück.
Ein paar Stunden nach Einbruch der Dunkelheit wandelte sich Farooq-Lanes Wut in Sorge. Vielleicht hatte er sich ja verlaufen. Oder war entführt worden. Von einem Auto angefahren. Die Zahl der schlimmen Dinge, die einem schlecht sozialisierten und schlecht essenden Teenager widerfahren konnten, war schier unbegrenzt.
Er ging nicht an sein Handy.
Irgendwann stellte sie eine kleine Tüte mit Essen für ihn zusammen und machte sich auf die Suche, nicht ohne sich zu vergewissern, dass das »BITTE NICHT STÖREN «-Schild gut sichtbar am Türgriff hing.
Sie fuhr los. Sie fuhr die ganze Nacht. Zu der Stelle, an der er ausgestiegen war, hielt an jedem Café, jedem noch geöffneten Laden, klapperte sämtliche in erreichbarer Nähe liegende Hotels ab. Dann die Krankenhäuser.
Ihr graute es davor, Lock erzählen zu müssen, dass sie ihn verloren hatte. Sie konnte es ja selbst kaum fassen. Was machte jemand wie Parsifal, wenn er ganz auf sich gestellt war, in einem fremden Land, ohne Familie, ohne Freunde? Farooq-Lane machte sich Vorwürfe, dass sie nicht nett genug zu ihm gewesen war. Warum hatte der Junge es ihr denn auch so schwer machen müssen?
Die Nacht schlich dahin und verging dann wieder wie im Zeitraffer: Minuten fühlten sich an wie Stunden, während sie durch immer dieselben Wohngebiete kurvte, und Stunden flogen dahin wie Minuten, während sie an eine Hotelrezeption nach der anderen trat und fragte: Haben Sie diesen Jungen gesehen, nur älter?
Das Ganze erinnerte sie an die Nacht, in der sie Lock zum ersten Mal begegnet war, die Nacht, nachdem sie erfahren hatte, dass Nathan ein Mörder war. Auch damals war sie in ihr Auto gestiegen – was hätte sie auch sonst tun sollen? An schlafen, fernsehen oder lesen war nicht zu denken gewesen, schließlich konnte man nach einem Mord – im Gegensatz zu einem Unfall oder Ähnlichem – nicht im Krankenhaus Wache sitzen. Es gab nichts als die Nacht, die Nacht, die Nacht. Sie war einfach nur drauflosgefahren und hatte überall gehalten, wo im selig schlummernden Chicago noch jemand wach zu sein schien. Hatte alles mitgenommen, was die späte Stunde bot: Lotterielose, Kaffee, labbrige Hotdogs, eine billige Sonnenbrille, wie Parsifal sie in der Badewanne aufgehabt hatte. Irgendwo da draußen in der Dunkelheit, hatte sie damals gedacht, ist Nathan, auch wenn sie nicht gewusst hatte, was sie hätte tun sollen, wenn sie ihm begegnet wäre. Als sie schließlich nach Hause – neuerdings ein Tatort – zurückgekehrt war, hatte Lock auf den Stufen vor dem Reihenhaus gesessen und auf sie gewartet. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich gerade ziemlich verloren fühlen, hatte er gebrummt.
Sie würde Parsifal finden. Was sie nicht würde, war Lock anrufen und ihm gestehen, dass sie ihren einzigen Visionär verloren hatte.
Und so fuhr sie weiter.