E s weckte sie mitten in der Nacht.
Mags Harmonhouse teilte sich ein Zimmer mit ihrer Schwester Olly, genau wie früher als Kinder. Zwei schmale Betten, eine Bettbreite voneinander entfernt, nah genug, dass sie von einem zum anderen hatten springen können, ehe ihre Mutter dem Spaß ein Ende setzte. Zwischen damals und heute lagen viele, viele Jahre und drei Ehemänner, aber manchmal wachte Mags in der festen Überzeugung auf, dass sie wieder kleine Mädchen waren. Es war kein angenehmer Gedanke. Mags dachte jedes Mal: Oh, nein, jetzt muss ich noch mal ganz von vorne anfangen.
Jetzt wachte sie auf und grapschte nach ihrer Brille. Hörte Olly neben sich nach ihrer Brille grapschen.
Die Schwestern wechselten im Dunkeln einen Blick. Ollys Augen waren schimmernde Perlen im Licht der Straßenlaternen vor dem Fenster; es war kein beruhigender Anblick, nicht mal nach all der Zeit. In einer Nacht wie dieser, wenn dich etwas weckte und du nicht wusstest, was es gewesen war, schien alles möglich.
Vielleicht war es bloß ein Rumsen gewesen. Mitten in der Nacht von einem Rumsen aufzuwachen war in Ordnung, dachte Mags, harmlos, der Klassiker. Einmal, als Dabney sternhagelvoll gewesen war, hatte er nachts pinkeln gehen wollen und den Flurspiegel mit der Klotür verwechselt. Das hatte ordentlich gerumst.
Olly blinzelte. Mags sah ihr an, dass auch sie angestrengt lauschte. Zu entscheiden versuchte, ob sie es mit einem bloßen Rumsen oder etwas Ernsterem zu tun hatten. Ihre Wohngegend war nicht gerade die vornehmste und seit einiger Zeit trieben sich dort noch mehr zwielichtige Elemente (wie Olly es gern ausdrückte) herum als sonst. Im vergangenen Jahr hatten sie es tatsächlich mit etwas Ernsterem zu tun bekommen. Genauer gesagt, einem Einbruch. Drei junge Männer waren ins Haus eingestiegen, hatten sämtliche Schränke nach Bargeld durchsucht und die Mikrowelle aus der Küche geklaut. Außerdem waren sie Mags gegenüber handgreiflich geworden, als diese versucht hatte, die Gauner davon abzuhalten, sich auch noch Ollys kleinen Fernseher unter den Nagel zu reißen.
Vielleicht war es ja das Mädchen. Zuerst war Mags stinksauer auf Olly mit ihrem weichen Herzen gewesen. Wenn man eine Ausreißerin aufnahm, traten früher oder später doch bloß die Behörden auf den Plan. Aber mittlerweile hatte Liliana bereits das gesamte Haus verwandelt. Mags hatte keine Ahnung, wie sie so viel in so kurzer Zeit geschafft hatte. Gut, sie arbeitete wirklich ununterbrochen, aber trotzdem hätte eine einzelne Person schlicht nicht in der Lage sein dürfen, innerhalb nur eines Tages sämtlichen Schimmel zu entfernen, die kaputte Treppenstufe zu reparieren und den Holzdielen wieder zu ihrem alten Glanz zu verhelfen, der sich unter Staub und jahrealten Abnutzungserscheinungen verborgen hatte. Soweit Mags wusste, hatte sie dabei nichts als Wasser und Essig benutzt, aber es roch ganz anders, nach Blumen, nach Sommer. Mags hatte eingehend die Flurwände inspiziert, um sich zu vergewissern, dass das Mädchen sie nicht gestrichen hatte, so sehr schien plötzlich alles zu strahlen.
»Das Mädchen«, flüsterte Olly. »Ich glaube, sie weint.«
Nachdem sie es einmal ausgesprochen hatte, war es völlig eindeutig. Ein gedämpftes Wimmern drang von oben zu ihnen herunter. Leise, gequälte Laute wie von einem verletzten Tier. Und gedämpfte Schritte, als liefe das Mädchen dabei hin und her. Es klang traurig, aber aus irgendeinem Grund – die Dunkelheit, Ollys weiß schimmernde Augen hinter ihrer Brille, die Schatten der Bäume an den Wänden – auch unheimlich.
Die beiden Schwestern zögerten noch einen Moment, bis Mags schließlich mit einem Grunzen ihre Decke zurückschlug. Olly tat es ihr nach. Sie war stets zu allem bereit, solange Mags es vor ihr war. Schulter an Schulter standen die beiden alten Damen in ihrem Schlafzimmer und lauschten. Hatte es aufgehört?
Nein, da war es wieder.
Sie zogen ihre Morgenmäntel an und schlurften in den Flur.
Hier draußen war es lauter, das Weinen. Und herzzerreißend. Erst recht, wenn man sich vorstellte, dass es von so einem hübschen jungen Mädchen kam, ihr sanfter Blick tränenumwölkt, der weiche Mund vor Verzweiflung verzerrt.
Sie schalteten das Licht ein, aber es machte keinen großen Unterschied. Die einzelne Glühbirne vermochte den Flur kaum mehr zu erhellen als das orangerote Schummerlicht der Straßenlaternen.
Mags war alles andere als schnell im Treppensteigen, aber Olly war noch langsamer. Mags passte sich ihrem Tempo an. Sie hatte das Gefühl, als krabbelten ihr Scharen von Ameisen über die Arme, und der Gedanke, vor ihrer Schwester oben anzukommen, war nicht sonderlich verlockend.
Lilianas Tür stand ein Stück offen. Durch den Spalt sah Mags, wie sich etwas vor und zurück bewegte. Ein Lichtfleck, dann Dunkelheit. Licht. Dunkelheit. Das musste Lilianas Kleid sein, aber Mags dachte direkt an einen Geist. Ihre Mutter hatte einst behauptet, einen gesehen zu haben; er sei wie eine gleißend helle Fontäne vom Boden der Küche emporgeschossen, in der sie damals gearbeitet hatte, und habe ihr einen Schrecken eingejagt, der ihr noch Jahre später in den Knochen saß.
Sie hatten das Ende der Treppe erreicht. Die letzte Stufe gab ein ohrenbetäubendes Knarren von sich.
Der Lichtfleck im Türspalt erstarrte kurz und verschwand.
Stille.
Mags zögerte. Sie wollte einfach nur zurück nach unten.
»Kind?«, rief Olly und bewies damit zum ersten Mal in ihrem Leben mehr Mut als Mags.
»Bitte gehen Sie weg«, schluchzte Liliana.
Die beiden atmeten erleichtert auf, als sie ihre Stimme hörten.
Mags sagte: »…«
Doch ihre Worte waren nicht zu hören, weil es plötzlich keine Geräusche mehr gab.
Es war, als hätte jemand eine Pausentaste gedrückt. Als hätte es niemals so etwas wie Geräusche gegeben. Als wäre das, was sie unter diesem Begriff in Erinnerung hatten, bloß eine Illusion.
Olly ergriff fest die Hand ihrer Schwester.
Und dann kehrten die Geräusche zurück.