N ett hast du’s hier«, sagte Jordan. Nur ein Scherz, denn sie waren nicht bei Declan zu Hause. Sondern in einem vierundzwanzig Stunden geöffneten Tankstellenshop, in dem Declan sich seit einer Viertelstunde herumdrückte, um nicht draußen in der Kälte stehen zu müssen.
Es war ein Uhr morgens. Und Declan war hellwach. Was an der Schlaftablette lag, die er nicht genommen hatte. An Jordan Hennessys mitternächtlichem Anruf. An der Tatsache, dass er ein Vollidiot war. In dem Laden herrschte diese ganz bestimmte Ein-Uhr-morgens-Atmosphäre, wenn alle einem Club beitraten, dem Club von Menschen, die nicht im Bett waren. Einem Club, der sich nicht durch das definierte, was man mit den anderen Mitgliedern gemeinsam hatte, sondern durch das, was einen vom Rest der Welt trennte. Jordan Hennessy war mit ihrem roten Toyota Supra vorgefahren, hatte einen Blick auf den hell erleuchteten Tankstellenshop hinter Declan geworfen und zufrieden genickt. Es schien sie nicht zu stören, dass er ihr, als sie ihn eine halbe Stunde zuvor angerufen hatte, diese Adresse genannt hatte statt seiner eigenen. Sie war eben eine Kunstfälscherin. Sie war Misstrauen gewohnt, Heimlichtuerei, das Bedürfnis, die eigenen Spuren zu beseitigen.
Was machst du hier, Declan?
»Ja, hab ewig für die Renovierung gebraucht«, witzelte er zurück.
Jordan wirkte fröhlicher als bei ihrem letzten Treffen im Museum, lebendiger im Neonlicht dieser Nachtwelt, hinter dem Steuer eines Autos, hier, wo keine Wände sie einengten, keine Ladenschlusszeiten oder die Erwartungen anderer Menschen.
»Sieht man«, sagte sie und entriegelte den Wagen. »Bereit?«
Was machst du hier?
Zu einem Mädchen vom Feenmarkt ins Auto steigen.
Nur für heute Nacht, versicherte er sich. Sobald die Sonne aufging, würde er wieder so langweilig sein wie eh und je.
Als er die Beifahrertür öffnete, spähte ihm Die dunkle Dame entgegen. Das Gemälde war quer auf dem Sitz positioniert, sodass es ihm direkt ins Auge fiel; es hatte ihn schockieren sollen . Declan stand da, eine Hand auf dem Türgriff. Die Miene der Dunklen Dame war verbittert, argwöhnisch, eindringlich.
Er wusste sofort, dass dies das echte Gemälde war. Die brodelnde Sehnsucht schien aus jedem Pinselstrich zu sickern, anders als bei der Version, die zu Hause in seinem Küchenschrank versteckt war. Darum hatte er in den vergangenen Nächten nicht vom Meer geträumt.
»Wann?«, fragte er schlicht und schüttelte dann den Kopf. Das konnte er sich doch selbst ausrechnen, schließlich wusste er, wann er zum letzten Mal den Traum der Dunklen Dame geträumt hatte.
»Wir haben beide Geheimnisse«, erwiderte Jordan. »Das macht uns nun mal aus, findest du nicht? Auch wenn das hier das einzige ist, das mir je ein schlechtes Gewissen verursacht hat.«
Declan stellte die Frage, die ihm wirklich Kopfzerbrechen bereitete. »Was wolltest du damit?«
Jordan sah ihm offen ins Gesicht. »Was hältst du davon: Du fragst mich nicht, warum ich sie habe, und ich frage dich nicht nach dem Mann, der sie geschaffen hat. Was anderes kann ich dir im Moment nicht anbieten. Zu mehr bin ich freitagnachts um« – sie warf einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett, die eindeutig falsch ging – »sechzehn Uhr einfach nicht in der Lage.«
Declan spürte, wie sich sein Mund verzog, so absurd war das alles. Beinahe hätte er gelacht. Er wusste selbst nicht, warum. Weil sie so lustig war? Weil er selbst ein kompletter Idiot war? Oder weil ihr breites Grinsen einfach ansteckend war?
»Also ist das bei mir zu Hause eine Fälschung«, vermutete er.
»Fälschung ist so ein unschönes Wort. Nennen wir es ein Replikat, okay? Echte Handarbeit, limitierte Auflage«, schlug Jordan vor. Sie wirkte längst nicht so zerknirscht, wie man hätte erwarten können. »Du kannst es einfach nehmen und gehen und alles ist wieder in Butter. Oder du schmeißt die Tussi in den Kofferraum und wir machen einen kleinen Ausflug.«
Wenn das hier das echte Gemälde war, dann konnte man noch immer einen Blick hinter das Papier auf der Rückseite werfen, noch immer ein Schwert aus dem Stein ziehen. Darüber wollte Declan jetzt nicht nachdenken. Unschlüssig stand er in der offenen Autotür und ein Schauder überlief ihn. Er fragte sich, ob es an der Kälte lag, der späten Uhrzeit, dem anstrengenden Tag, den er hinter sich hatte, dem Gesicht der Dunklen Dame oder Jordan Hennessys Grinsen.
Was machst du hier, Declan?
»Welche Option wäre dir denn lieber?«, fragte er.
»Das hier ist ein Zweisitzer, Mr Lynch«, antwortete Jordan schlicht.
Ab morgen würde er wieder langweilig sein.
Er verfrachtete Die dunkle Dame auf den Rücksitz und nahm ihren Platz ein.
»Wo soll’s denn hingehen?«
Jordan legte den Gang ein, mit der gedankenlosen Selbstverständlichkeit von jemandem, der so oft hinter dem Steuer saß, dass das Auto zu einem zusätzlichen Körperteil geworden zu sein schien. »Wie würde es dir gefallen, das erste Jordan-Hennessy-Original zu werden?«
Sie fuhren nach Georgetown, womit Declan nicht gerechnet hatte. Ausgerechnet dieser Wildfang fuhr mit ihm in eine der schönsten, stilvollsten Gegenden von Washington, D.C. Hier standen historische Stadthäuser im Schatten alter Bäume beisammen wie langjährige Freunde; alles wirkte zivilisiert und gepflegt. Declan sehnte sich genauso nach einem Haus in Georgetown wie nach dem Zusatz Senator vor seinem Namen – er sehnte sich danach, weil er die Häuser mochte, aber auch weil er die Blicke der Leute mochte, wenn sie hörten, dass man Kongressabgeordneter war oder in Georgetown residierte.
Jordan parkte in einer dunklen Seitenstraße und holte eine Tasche aus dem Kofferraum. »Tut mir leid, ein Stück müssen wir noch laufen. Ich hoffe, du hast deine Wander-Crocs an.«
Sie spazierten in ein ruhiges Wohngebiet, das selbst bei Nacht malerisch wirkte: warmer Laternenschein, hübsche Backsteinhäuser, Schmiedeeisen, Efeu. Jordan schob sich zwischen zwei hohen Gebäuden hindurch, vorbei an Mülltonnen und geparkten Fahrrädern, bis vor ein niedriges Gartentor. Es war mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert. Jordan stellte ihre Tasche auf den Torpfosten, kletterte hinüber und wartete darauf, dass Declan ihr folgte.
Das unerlaubte Betreten von Privatgrundstücken stand nicht gerade auf Declans täglicher Agenda.
Er tat es trotzdem.
An der Hintertür tippte Jordan ein paar Ziffern in ein Tastenfeld und die Tür entriegelte sich summend. Jordan ging vor, winkte Declan durch und schloss die Tür hinter ihm.
Sie standen in einem dunklen Flur, so dunkel, wie ein Flur in der nächtlichen Großstadt eben sein konnte. Durch die Fenster zur Straße fiel Licht herein und zeichnete rotgoldene Quadrate auf den Holzboden. Es roch nach Zitronenverbene und altem Haus.
»Steht das leer?«, fragte Declan.
»Es wird manchmal vermietet«, antwortete Jordan. »Man muss bloß den Buchungskalender im Internet im Auge behalten, damit man weiß, wann jemand kommt. Ist aber ziemlich teuer für die Lage, darum hat man meistens seine Ruhe.«
Er fragte nicht, wie sie an den Türcode gekommen war, und sie erzählte es auch nicht. Stattdessen bedeutete sie ihm, ihr die Treppe hoch zu folgen.
»Also wohnst du gar nicht hier.«
»Nein«, sagte sie, »aber wir – ich hab mir das Haus mal angeguckt, nachdem ich frisch nach D.C. gezogen war. Und jetzt komme ich hin und wieder noch zum Malen her. Aber nicht mehr so oft wie früher.«
Der erste Stock schien aus einem einzigen großen Zimmer zu bestehen, selbst bei Nacht so hell, dass er tagsüber vollkommen lichtdurchflutet sein musste. Es war, als würde die Straßenlaterne sie direkt durchs Fenster anstarren, und ihre Aufmerksamkeit war tatsächlich erhellend. Declan sah einen wunderschön gemusterten Perserteppich und ein Schreibpult mit Klauenfüßen, bei dem es ihn nicht gewundert hätte, wenn es jeden Moment angetrottet gekommen wäre, um sich eine Streicheleinheit und ein Leckerli abzuholen. Überall standen Staffeleien. Ein Windhund aus Beton schnüffelte in die Luft. Alles war auf eine sehr individuelle Art schick.
»Keine Ahnung, wer hier normalerweise wohnt«, gestand Jordan schließlich, »aber es muss jemand Großartiges sein. Ich stelle mir immer vor, dass es ein altes Liebespaar ist, das nicht mit-, aber auch nicht ohneeinander leben kann und sich darum ein paarmal im Jahr für eine Woche hier trifft.«
Während sie anfing, ihre Tasche auszupacken, schlenderte Declan von einer Staffelei zur anderen und besah sich die Bilder darauf. Hauptsächlich Landschaften und ein paar kleinteilige Ansichten verschiedener lokaler Sehenswürdigkeiten. An den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotos von berühmten Orten auf der ganzen Welt. Er suchte nach Hinweisen auf ein altes Liebespaar, das weder mit- noch ohneeinander leben konnte, entdeckte jedoch bloß eine ältere Frau, die in die Kamera lächelte. Sie wirkte eher, als wäre sie in ihre Umgebung verliebt, nicht in den Fotografen.
»Ich arbeite im Dunkeln«, informierte Jordan ihn. »Nicht mal ich will wissen, was dabei rauskommt, wenn ich meiner Kreativität freien Lauf lasse.«
Als Declan sich umdrehte, war sie bereits an eine der Staffeleien getreten, auf der eine noch leere Leinwand stand. Neben ihr, auf einem zierlichen Tischchen in Pinselreichweite, lag eine kleine Malerpalette mit acht verschiedenen Farbhäufchen. Auch der Purpur-Tiegel war da, ungeöffnet. Einen Moment lang sah er sie einfach an, wie sie inmitten ihrer Malutensilien vor der Leinwand stand und auf sein Gesicht wartete, und mit einem Mal musste er an seine Brüder in seinem Haus in Alexandria denken.
»Du willst doch nicht ernsthaft behaupten, dass du noch nie ein Original gemalt hast«, sagte er. »Das kann ja wohl nicht sein.« Dann fiel ihm ein, wie unfassbar schnell sie auf dem Feenmarkt den Sargent kopiert hatte. Wie erfolgreich ihn ihre Version der Dunklen Dame hinters Licht geführt hatte. Ein Mensch, der sich so überzeugend als jemand anderer ausgeben konnte, musste sehr, sehr viel Übung darin haben.
Jordan tunkte ihren Pinsel in die Farbe. »Zuerst hab ich nur zu Übungszwecken kopiert. Und irgendwann hab ich angefangen, mein Geld damit zu verdienen. Manche Fälscher bezeichnen ihre ›im Stil von‹-Gemälde als Originale, aber die machen sich bloß was vor. Also ja, du bist meine Premiere. Setz dich«, fügte sie hinzu und deutete auf den Sessel ihr gegenüber.
»Wie denn?«
»Ich würde vorschlagen, auf den Hintern.«
Ein Lachen platzte aus ihm heraus, während er tat wie geheißen, und Jordan fiel mit ein.
Er setzte sich.
»Wie still muss ich denn halten?«
»Reden darfst du.« Sie wandte sich der Staffelei zu, atmete tief durch und lockerte ihre Finger.
»Wie großzügig.«
Sie fing an. Declan hatte zwar keinen Blick auf das, was unter Jordans Händen entstand, aber es machte ihm nichts aus, einfach dazusitzen und sie bei der Arbeit zu beobachten. Ihre Aufmerksamkeit wechselte stetig zwischen ihm und der Leinwand hin und her, während sie immer wieder die Realität mit ihrer Schöpfung verglich und umgekehrt. Derart aufmerksam studiert zu werden war seltsam, nachdem er jahrelang genau das vermieden hatte, und Declan war sich nicht sicher, wie er damit umgehen sollte. Es war wie der Versuch, in die kriminellen Fußstapfen seines Vaters zu treten; ob er wollte oder nicht, ein großer Teil von ihm fand eindeutig Gefallen daran.
»Es gibt Briefe von Sargents Modellen«, sagte er nach einer Weile.
Jordans Mundwinkel hoben sich, ihr Blick jedoch blieb auf die Leinwand gerichtet. »Erzähl.«
Und das tat er. Er erzählte, wie die Modelle von Sargents zukünftigen Gemälden zu ihren Sitzungen erschienen seien, nur um den Künstler untätig vor der leeren Leinwand hocken zu sehen. Wie sie Stunden um Stunden in der Gesellschaft eines Malers hätten verbringen müssen, der nicht malte. Sondern bloß die Leinwand anstarrte. Dann wieder sie. Ein Zauberer, dem die Magie ausgegangen war. Ein stummes Symphonieorchester. Er erzählte, wie Sargent sich irgendwann, von einer Sekunde auf die andere, auf die Leinwand gestürzt habe, sie fieberhaft mit Pinsel und Farbe bearbeitet, ja förmlich attackiert habe, ehe er ein paar Schritte zurückgetreten sei, um sein Werk zu begutachten und dann in die nächste Runde zu gehen. Er erzählte, dass Sargent beim Malen wüst geflucht und die Leinwand beschimpft habe, dass er wie vom Teufel besessen gewesen sei und seine Modelle sich regelrecht gefürchtet hätten vor diesem wahnsinnigen Genie. Er erzählte, dass Sargent, sobald ihm ein einziges Detail im Gesicht seines Motivs nicht gefiel, die Farbe komplett weggekratzt und ganz von vorne angefangen habe. Dass für ihn der einzig erhaltenswerte Pinselstrich ein spontaner gewesen sei.
»Die Frage ist: Kann man noch von spontan reden, wenn man vorher schon zehn andere spontane Striche gesetzt und sie alle wieder weggekratzt hat?«, wandte Jordan ein. »Jedenfalls wird den Menschen durch so eine Vorgehensweise gar nicht vermittelt, wie viel Feinarbeit in einem Gemälde steckt. Man täuscht die Spontaneität doch nur vor, um durch den kühnen Pinselstrich eine Reaktion hervorzurufen, selbst wenn daran gar nichts Kühnes ist. Dadurch lenkt Sargent den Fokus von sich selbst auf den Betrachter. Die Performance wird zum Kunstwerk. Ein wahrer Meister.«
Womit sie Declan etwas über sich selbst verriet.
»Niemand kannte ihn wirklich«, fuhr Declan fort. Womit er Jordan etwas über sich selbst verriet. »Es gibt so viele Briefe, so viele Dokumente über ihn. Er war eine Person des öffentlichen Lebens und ist noch gar nicht so lange tot, aber trotzdem weiß man absolut nichts über sein Privatleben. Wen er geliebt hat, wer ihn geliebt hat. Überhaupt jemand?«
Jordan tauchte ihren Pinsel in ihr Terpentinglas und drückte sorgfältig die Borsten aus, bis die Farbe dunkle Wolken in der Flüssigkeit bildete.
»Eine liebt ihn auf jeden Fall«, sagte sie. »Ich. So. Du kannst gucken.«
Declan stand auf, doch bevor er hinter die Leinwand treten konnte, hielt Jordan ihn auf, indem sie ihm die flache Hand auf den Bauch legte. Er blieb reglos stehen. Der ganze Raum roch nach Terpentin und der warmen Produktivität der Farben; wahrscheinlich hätten sie dringend mal ein Fenster öffnen sollen. Der Betonwindhund schnüffelte weiter in die Luft, das heimelige Licht der nächtlichen Stadt stahl sich weiter durch die Vorhangritzen und Jordans Hand lag weiter auf seinem Hemd, seiner Haut.
Ein greller Energiestoß jagte durch seinen Körper, etwas, was er schon sehr lange nicht mehr erlebt hatte. Sein Magen war ein Schlachtfeld. Sein Leben ein Schwarz-Weiß-Film, nur dieser Moment in Farbe.
Sein Handy vibrierte.
Declan seufzte.
Jordan trat einen Schritt zurück und erteilte ihm mit einer kleinen Verbeugung die Erlaubnis zum Weitergehen, der Moment im Keim erstickt von der Erkenntnis, wie schnell das Handy ihr Declans Aufmerksamkeit entzogen hatte. Er holte es aus der Tasche und warf einen Blick darauf.
Matthew hatte geschrieben: bitte komm nach hause
Es war die weinerliche Nachricht eines Kindes an einen Elternteil, die Declan deswegen erhielt, weil Matthew nun mal keine Eltern hatte und weil es mitten in der Nacht war und er vermutlich aufgewacht war, wenn er denn überhaupt geschlafen hatte, und sich daran erinnert hatte, dass er ein Traum war.
»Ich …«, setzte Declan an.
Doch Jordan kam ihm elegant zuvor. Sie trat einen Schritt zurück und kratzte mit der Kante ihres Pinsels alles von der Leinwand, was sie bisher gemalt hatte.
»Was …«
Wieder breitete sich ein träges Grinsen auf Jordans Gesicht aus. »Dann brauchen wir wohl noch eine zweite Sitzung.«
Declan hatte sich geschworen, dass es nur für heute Nacht sein würde, und das hatte er ernst gemeint, wirklich. Aber er war nun mal ein Lügner, er belog sogar sich selbst, und darum sagte er: »Okay.«