59

 

V or zehn Jahren hatte J. H. Hennessy sich erschossen.

Ein Schuss, .45 er Kaliber. Die Waffe habe einem Freund der Familie gehört, so stand es hinterher in den Berichten. Sie war registriert, alles hatte seine Ordnung gehabt, außer dass dadurch jemand getötet worden war. Aber vielleicht ließ sich selbst dagegen nichts einwenden, denn war es nicht genau das, wovon jeder Mann heimlich träumte? Als es passierte, lief Musik, durchsetzt von Rauschen und Knacken, eine alte Jazzplatte; eine Sängerin trällerte und gurrte zu den blechernen Klängen. Jay hockte in einem großen Wandschrank. Die Lampen waren ausgeschaltet. Das einzige Licht drang durch ein kleines, hohes Fenster herein und tauchte alles, was es berührte, in Grau. Sie trug Unterwäsche und einen Morgenmantel. Ihre Mascara rann ihr übers Gesicht. Sie hielt sich eine Pistole an die Schläfe und wartete darauf, dass die Tür aufging.

Das hatte nicht in den Berichten gestanden, aber Hennessy wusste es, weil sie diejenige gewesen war, die die Tür öffnete.

»Mum?«

»Du wirst mich nicht vermissen«, sagte Hennessys Mutter.

»Warte«, sagte Hennessy.

Ein Lichtblitz zuckte aus dem Lauf der Waffe.

Ebenfalls nicht in den Berichten stand, dass Jay enttäuscht gestorben war. Denn nicht ihre Tochter, Jordan Hennessy, hätte die Schranktür öffnen sollen. Sondern Bill Dower. Die ganze Woche lang hatte sie versucht, durch den gezielten Einsatz von passiver Aggression, Gefühlsausbrüchen und Schweigephasen seine Aufmerksamkeit zu erregen, und sich schließlich als Krönung dieser emotionalen Achterbahnfahrt mit der Waffe im Wandschrank positioniert. Heute wusste Hennessy, wie es gedacht gewesen war: Bill Dower hätte ein schlechtes Gewissen bekommen und sich auf die Suche nach Jay machen sollen; Bill Dower hätte ihr die Pistole aus der Hand reißen sollen. Heute wusste Hennessy, dass das Ganze von Anfang an eine Gleichung mit nur zwei Variablen gewesen war: Jay und Bill Dower. Sie selbst war bloß eins der unwichtigen Elemente dazwischen gewesen, die erst dann eine Funktion bekamen, wenn sie mit einer der Variablen interagierten.

Nicht sie hätte die Schranktür öffnen sollen.

Sondern Bill Dower.

Sondern Bill Dower.

Sondern Bill Dower.

Hennessy hatte die Inszenierung ihrer Mutter gleich auf zweifache Art torpediert – nicht nur hatte sie ihr die Überraschung mit der Pistole verdorben, sondern ihr außerdem vor Augen geführt, dass Bill Dower nicht kommen würde und ihr Plan gescheitert war.

Und alles, was ihr dazu eingefallen war?

Warte.

Später sagten ihre Therapeuten gern, dass sie die Sache besser verkraftete als erwartet.

Kein Wunder, dachte Hennessy. Sie hatte ja auch schon seit Jahren damit gerechnet, dass ihre Mutter entweder sich selbst oder Hennessy umbrachte.

Sie war ein Wrack, sagte Bill Dower. Ein wunderschönes Wrack.

Tja, wie die Mutter, so die Tochter.

Wenigstens Jordan war kein Wrack, dachte Hennessy. Und wenn doch, dann nur, weil sie mit Hennessy zusammenleben musste. Hennessy, die ihr auf dem Parkplatz bei Senko das denkbar Schlimmste an den Kopf geworfen hatte, was sie überhaupt hätte sagen können. Woher rührte diese Bosheit? Wer war die Person, die geblafft hatte, sie sei die Träumerin und Jordan nur der Traum, als wäre Jordan nicht in jeglicher Hinsicht lebensfähiger als sie selbst?

Die Antwort war: eine Hennessy.

Hennessy wusste, dass die Mädchen enttäuscht von ihr waren. Das hatte sie ihnen angesehen, als sie am Abend zuvor nach Hause gekommen war. Jordan hatte recht gehabt. Ronan Lynch, der zweite Träumer, hatte den Mädchen neue Hoffnung gegeben. Sie hatten gesehen, zu was er fähig war, und glaubten wohl, Hennessy könnte mit ein bisschen Hilfe dasselbe erreichen. Weil sie nun mal keine Ahnung hatten.

»Wo ist denn Jordan?«, wollte June wissen.

»Wir haben uns gestritten«, antwortete Hennessy. »Die beruhigt sich schon wieder.«

Sie sah den Mädchen an, dass sie stolz auf Jordan waren.

Sie verzog sich in ihr Atelier und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Sie hasste es, dass die Mädchen sich Hoffnungen machten, und noch mehr hasste sie die Rolle, die sie dabei spielte. Sie würde sie nur wieder im Stich lassen. Sie ließ sie immer im Stich. Ihre armen Mädchen. Was für ein Schlamassel.

Früh an diesem Morgen weckte sie ihr Timer, und anstatt die Schlummertaste zu drücken, rief sie Ronan Lynch an.

 

Sie trafen sich in der Nähe von Gainesville, ein Stück westlich von D.C. Das Shenandoah Café hatte den Vorteil, entgegen dem Berufsverkehr zu liegen und zu dieser absurd frühen Stunde schon geöffnet zu haben. Dennoch war es nicht so leer, wie man hätte vermuten können; ganz offensichtlich war das Lokal bei Lkw-Fahrern beliebt, vielleicht weil es wesentlich gemütlicher eingerichtet war als die meisten Truckstops an der Interstate. Verzogene Bodendielen, rustikale Holzregale vom Boden bis zur Decke, Sitznischen mit niedrigen Vitrinentischen: Jede verfügbare – und nicht verfügbare – Oberfläche war mit irgendwelchem Krimskrams vollgestellt. Laut einem Schild an der Kasse handelte es sich dabei um Geschenke von Kunden aus der ganzen Welt. Einige Sachen, etwa eine Sammlung pergamentdünner Porzellantassen, wirkten tatsächlich wertvoll, während andere (wie beispielsweise ein Set Dracula-Gummienten) eher nach billigem Ramsch aussahen. Das gesamte Arrangement schien weniger auf Qualität als vielmehr auf schrillstmögliche Quantität abzuzielen.

Sie setzten sich an einen freien Tisch, unter dessen Glasoberfläche Metallrosen, goldene Glöckchen und verzierte Okarina-Flöten präsentiert wurden. Das Regal daneben enthielt ausgehöhlte Bücher, Buddelschiffe und Excalibur-Brieföffner.

»Ich war früher oft mit meiner Familie hier«, erklärte Ronan.

»Du und der Große. Declan «, wiederholte sie genüsslich den Namen und griff nach der laminierten Speisekarte. Die Auswahl ließ keine Wünsche offen, solange sich die Wünsche auf Frühstück beschränkten. »Wie schaffst du es, nicht den ganzen Tag seinen Namen zu sagen? Der zergeht einem doch auf der Zunge wie Schokolade, findest du nicht?«

Ronan starrte sie wortlos an. Irgendwie vermochte er mit seinem Schweigen die nuanciertesten Aussagen zu treffen. Das aktuelle Schweigen etwa bekundete seine Genervtheit darüber, dass sie Witze machte, während er vollkommen ernst war; warum verschwendete sie seine verdammte Zeit?

Hennessy hob eine Augenbraue und antwortete selbst mit Schweigen, das in seiner Bedeutung allerdings nicht ganz so nuanciert war. Es besagte irgendwas Richtung Sorry, ich markier hier bloß den Clown, weil ich sterbe und eine Scheißangst davor hab.

Oooch, eine Runde Mitleid, erwiderte Ronans Schweigen.

Verarschen kann ich mich selbst, fauchte Hennessys.

»Morgen, ihr zwei.« Eine Bedienung tauchte auf und goss ungefragt Kaffee aus einer alten Blechkanne in die bereitstehenden Tassen. Es war eine ältere, etwas dickliche Dame mit strahlenden Augen. Auf ihrem Namensschild stand Wendy in Anführungsstrichen, als handelte es sich dabei um ein Pseudonym, das ihre wahre Identität vor den Stammgästen des Shenandoah Cafés verborgen hielt. Verschwörerisch wie zu einer geheimen Einsatzbesprechung beugte sie sich vor, um die Bestellung aufzunehmen, tippte abschließend zweimal mit dem Bleistift auf ihren Block und ging wieder.

Ronan wartete.

Hennessy seufzte und machte es sich mit einer der Kaffeetassen auf ihrer Seite der Sitznische bequem. Sie sehnte sich nach einer Zigarette. Wünschte, ihre Hände hätten etwas zu tun. »Okay, also was willst du wissen? Ich hab immer denselben Traum, seit meine Mom gestorben ist. Jedes Mal, wenn ich lange genug die Augen zumache, fängt er von vorne an. Immer derselbe Scheiß, immer schlimm.«

»Worum geht’s in dem Traum?«

»Ich hab mal gelesen, der am häufigsten wiederkehrende Traum in Amerika handelt vom Fallen. Ich hätte ja auf Prüfungssituationen getippt. Aber wie es scheint, sind davon hauptsächlich Perfektionisten betroffen.«

»Worum geht’s in dem Traum?«

»Angeblich kann ein Liebespaar denselben Traum haben, wenn die Partner mit den Köpfen nah genug beieinanderliegen«, fuhr Hennessy etwas verzweifelt fort und verdeutlichte die nötige Nähe mithilfe zweier Finger. »Die These ist aber nicht ausreichend belegt. Oder zumindest stand das in dem Blog-Post, den ich gelesen hab.«

»Worum geht’s in dem Traum?«

Wendy brachte das Essen. Verschwörerisch beugte sie sich vor, um in Erfahrung zu bringen, ob sie irgendwelche Soßen wünschten. Ronan antwortete mit Schweigen. Es besagte: Hauen Sie ab, wir unterhalten uns hier gerade.

Sie tätschelte ihm die Hand. »Du erinnerst mich an meinen Jungen zu Hause«, sagte sie gutmütig und ging.

Ronan richtete sein Schweigen quer über die Waffel, die Wendy mit einem Schlagsahnesmiley verziert hatte, auf Hennessy.

Hennessy sah auf ihren eigenen Teller hinunter. Darauf lagen vier French-Toast-Ecken, die alle in dieselbe Richtung zeigten: zur Tür. Sie schluckte.

»Da ist …«, begann sie.

Normalerweise versuchte sie nicht mal an den Traum zu denken, während sie wach war. Als könnte er auf ihren Wachzustand übergreifen. So bewusst wie jetzt war er ihr seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr gewesen und das Gefühl war schrecklich. Einfach nur schrecklich.

Mehr sagte sie nicht. Es ging einfach nicht. Ihr blieb keine andere Wahl, als Jordan und die anderen im Stich zu lassen. Jordan hatte ja keine Ahnung, was sie durchmachte.

Ronan drehte seine Arme um, sodass seine Handflächen zwischen ihnen auf dem Tisch nach oben zeigten, und einen Moment lang dachte Hennessy, das wäre eine besonders elaborierte Geste für »Stell dich nicht so an«. Aber dann sagte er: »Die hier sind aus meinen Albträumen.«

Sie musste sich ein Stück nach vorne lehnen, um etwas zu erkennen. Ein Gewirr von weißen Narben, das sich seine Unterarme emporschlängelte, verursacht durch eine Waffe von nicht unbeträchtlicher Größe.

»Traummonster«, erklärte er. »Mit solchen Krallen.« Er formte seine Finger zu Klauen und fuhr damit über die Lederbänder an seinem Handgelenk, die das Schlimmste zu verdecken schienen, bis hoch zum Ellbogen, als wollte er die gesamte Haut aufschlitzen. »Zwei Tage Krankenhaus.«

Er fügte kein theatralisches Wir kriegen das schon hin oder Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst hinzu. Stattdessen zog er die Arme zurück und zermatschte mit der Rückseite seiner Gabel den Sahnesmiley auf seinem Teller. »Alle haben bloß an den naheliegenden Scheiß gedacht, Rasierklingen oder so. Und nicht mal dafür hätten sie Verständnis gehabt.«

Ronan war nicht Jordan. Kein Traum. Er wusste, was sie durchmachte.

»So eine Art … Gespinst«, flüsterte Hennessy.

Ein Klingeln erhob sich in ihren Ohren. Winzige Lichtblitze zuckten an den Rändern ihres Blickfelds. Sie musste ihre Tasse abstellen, weil sie plötzlich keine Kraft mehr hatte. Sie hatte solche Angst, dass sie fürchtete, ohnmächtig zu werden. Sie brauchte ihren Timer …

Schnipp.

Ronan hatte vor ihrer Nase mit den Fingern geschnippt. Sie konzentrierte sich mit aller Kraft auf seine Hand.

»Du bist wach«, beschwor er sie. Als sie nicht antwortete, drehte er eine der unbenutzten Tassen um und reichte sie ihr. »Atme hier rein.«

Während Hennessy in die kühle Tasse atmete, schnitt er seine Waffel in vier riesige Stücke und stopfte sich zwei davon in den Mund.

»In dem Traum bin nur ich«, sagte Hennessy. Ihre Stimme war sehr leise. Er musste sich auf die Ellbogen stützen, um sie zu hören. »Und es

In ihr entfaltete sich das Szenario, so klar wie der Traum selbst. Hennessy, klein, unbedeutend, fragil, jede ihrer Fähigkeiten und Stärken lächerlich menschlich. Es dagegen war gewaltig auf eine Weise, die ihr Menschenhirn gar nicht fassen konnte. Es war dunkel, aber auch das war eine unzureichende Beschreibung. Form und Farbe waren dreidimensionale Konzepte und dieses Ding bewegte sich jenseits davon. Dort, wo es ihr am nächsten war, glich es einem Scherenschnitt. Hinter den geometrisch genauen Ausschnitten – oder darin? – konnte sie Licht erkennen. Ein riesiges, verworrenes Geflecht.

»Es sieht mich«, fuhr Hennessy noch leiser fort. Ihre Hände zitterten. Verdammt, es sah sie sogar jetzt, da war sie sich ganz sicher. Weil sie über es geredet hatte, denn das war wie eine Einladung in die Welt der Wachen. »Der Traum fängt an und es ist da. Und dann sieht es mich und …«

Ihre Schultern begannen zu beben. Tränen brannten in ihren Augen und ließen sich nicht wegblinzeln.

Ronan musterte sie eingehend, nachdenklich.

»Wie sieht es aus?«, fragte er.

»Es ist ein Gespinst«, flüsterte Hennessy. »Ein bisschen wie aus Spitze. Riesig. Ich kann’s nicht erklären. Es ist …«

Wendy tauchte wieder auf. Sie hatte ihre Kaffeekanne dabei, doch sie ließ sie unschlüssig über dem Tisch schweben und sah Hennessy an. Registrierte die Tränen in ihren Wimpern, ihre zitternden Hände, ihr unangetastetes Essen.

Ronan bedachte sie abermals mit Schweigen, doch dieses war nicht komplex genug, um Hennessys Zustand zu erklären.

»Alles in Ordnung, Schätzchen?«, erkundigte Wendy sich besorgt.

Unterbrochen von einer Salve tränenerstickter Schluchzer antwortete Hennessy: »Ich bekomme ein Baby von ihm. Kann ich einen Orangensaft haben?«

Mit einem weitaus weniger mütterlichen Blick auf Ronan zog Wendy von dannen.

Ronan schüttelte den Kopf, gleichermaßen überrascht wie anerkennend. »Oh, Mann, einmal Miststück, immer Miststück, was? Sogar noch im Sterben. Krass. Du hast echt ’nen Lattenschuss.«

Hennessy stieß ein zittriges Lachen aus und schaufelte sich French Toast in den Mund. Sie blutete nicht. Sie hatte über das Gespinst geredet und blutete nicht. Sie hatte auch kein neues Tattoo, das ihr die Luft abschnürte. Ronan hatte recht. Sie war wach. Sie war wach. Sie war wach.

Ihr Timer piepste. Sie startete ihn neu.

»Mein Freund hat was ganz Ähnliches gesehen«, fuhr Ronan fort. »Keine Ahnung, ob es dasselbe war wie das aus deinem Traum. Aber er ist so eine Art Hellseher und es klang genau wie bei dir. Hat ihm auch ’ne Scheißangst eingejagt.«

»Wie hat er es denn beschrieben?«

Ronan spießte sein drittes Waffelviertel auf die Gabel. »Gar nicht. Er hat geschrien. Als würde er sterben. Als ich wissen wollte, warum, hat er gesagt, es hätte ihn gesehen. Das schien das Schlimmste zu sein, was er sich in dem Moment vorstellen konnte.«

»Klingt nach ’nem Volltreffer«, pflichtete Hennessy ihm bei. Sie zitterte noch immer, aber wenigstens bekam sie ein paar Schlucke Kaffee runter. Wendy brachte ihren Orangensaft, tätschelte ihr die Hand und ging wieder. »Gefällt mir irgendwie, die Gute«, kommentierte Hennessy. »Durch nichts zu erschüttern.«

»Wie greift es dich an? Dieses Gespinst?«

Auch diese Frage war schwierig zu beantworten, nicht weil der Prozess noch Furcht einflößender gewesen wäre, sondern weil er nicht den Regeln der Wirklichkeit folgte. Er folgte der Traumlogik, weswegen es in der Sprache der Wachen schlicht keine Worte dafür gab. »Es will … es will nach draußen. Es will, dass ich es mitnehme. Es weiß, dass ich das kann. Darum … versuche ich mich zu widersetzen. Mich irgendwie zu wehren. Und dann greift es mich an. Es sagt, wenn ich es nicht mitnehme, bringt es mich um.«

»Es kann sprechen?«

»Nicht so richtig. Ist mehr so was wie … Traumsprache? Es soll wirken, als würde ich es hören, aber so ist es nicht.«

Ronan nickte. Er wusste, was sie meinte.

»Es sagt, es hätte meine Mum umgebracht und mich würde es auch umbringen.«

Ronans Augen wurden schmal, sein Blick raubvogelartig scharf. »Und, hat es sie umgebracht?«, fragte er.

»Sie hat sich ’ne Kugel in den Kopf gejagt«, sagte Hennessy.

»Also lügt es. Oder besser gesagt, dein Unterbewusstsein lügt.«

»Was?«

Ronan sah hoch und das Waffelstück fiel von seiner Gabel. »Dieses Gespinst könnte real sein, aber vielleicht steckt auch dein Unterbewusstsein dahinter, wie bei meinen Traummonstern.« Dann hielt er inne und runzelte die Stirn, als hätte etwas an seinen eigenen Worten ihn stutzen lassen.

»Also ist Bryde die Stimme deines Unterbewusstseins?«

»Bryde weiß Dinge, die ich nicht wissen kann, wie zum Beispiel, dass du kurz vor dem Ertrinken standst«, merkte Ronan an. »Was weiß denn das Gespinst?«

Hennessy überlegte kurz, dann sagte sie: »Es kennt immerhin deinen Freund.«

Der Pfeil traf satt ins Schwarze.

»Bryde hat gesagt, ich soll damit aufhören«, murmelte Ronan. »Zu fragen, ob irgendwas aus meinen Träumen real ist. Er meinte, für Träumer wäre alles real, weil wir nun mal in beide Welten gehören. Die der Wachen und die der Schlafenden. Die eine ist nicht realer als die andere.«

»Und, glaubst du das? Wenn du also träumst, nackt vor der ganzen Schule zu stehen, dann ist das real?«

Anstatt zu antworten, fuhr Ronan fort: »Da ist noch ganz viel, was ich an deiner Geschichte nicht kapiere. Wo kommen denn deine Kopien ins Spiel?«

»Irgendwas muss ich ja mit zurücknehmen«, erklärte Hennessy. »Und ansonsten bliebe nur das Gespinst.«

Ronans Handy brummte. Eine Nachricht von D.UMMBROT LYNCH . Er ignorierte sie. »Moment mal. Wieso musst du denn was mit zurücknehmen?«

Hennessy begriff nicht, was er meinte.

»Soll das etwa heißen, du weißt nicht, wie du deine Träume in deinem Kopf lässt?«

Hennessy hob entnervt ihr Handy. »Was glaubst du denn, warum ich mir seit zehn Jahren einen Timer stelle? Aus Spaß?«

»Aber vor dem Gespinst«, beharrte Ronan. »Da hast du doch bestimmt auch nicht jedes Mal was mitgebracht.« Er konnte ihr die Antwort vom Gesicht ablesen. »Scheiße. Willst du mir echt erzählen, du konntest das noch nie verhindern?«

»Verarschst du mich schon wieder?«

»Ich mein’s ernst. Du kannst die Träume nicht in deinem Kopf lassen?«

»Ich wusste ja gar nicht, dass das geht«, entgegnete Hennessy. »Darum hab ich nach ’ner anderen Lösung gesucht. Und die Mädchen sind eben die beste, die mir eingefallen ist. Außer mir und ihm ist ja nichts in dem Traum, und da ich es nicht mitnehmen will, nehme ich eben mich selbst – also eine Kopie. Und wenn ich dann aufwachen will, greift es mich an und verpasst mir jedes Mal noch ein hübsches kleines Andenken.«

Sie deutete auf das Tattoo an ihrem Hals.

»Und das hast du noch nie irgendwem erzählt, nehme ich mal an«, sagte Ronan. »Darum denken die Mädchen, es wären die Kopien, die dich umbringen. Weil sie nicht wissen, dass du dich weigerst, einen Dämon hier rüberzuholen.«

»So könnte man’s ausdrücken.«

Ronan stieß geräuschvoll die Luft aus. »Ach, leck mich doch, Bryde. Wie soll ich das denn hinbiegen?«

Er zog seine Geldbörse aus der Tasche, nahm ein paar Scheine heraus und legte sie ans Tischende. Dann rieb er sich gequält mit der Hand übers Gesicht.

»Ich hab doch gesagt, du kannst mir nicht helfen«, seufzte Hennessy. Dabei stimmte das nicht ganz. Denn jetzt, nachdem sie jemandem davon erzählt hatte, kam ihr das Ganze schon ein winziges bisschen weniger schlimm vor.

»Kann ich auch nicht«, stimmte Ronan ihr zu. »Zumindest nicht allein. Wie stehst du zu Bäumen?«