65

 

H ennessy hatte so lange von nichts anderem als dem Gespinst geträumt, dass ihr vollkommen entfallen war, wie Träume auch sein konnten.

Lindenmere war ein Traum.

Es lagen Welten zwischen diesem Ort und dem Café, in dem sie sich mit Ronan getroffen hatte, sowohl rein faktisch als auch vom Gefühl her. Nach zwei Stunden Autofahrt hatten sie die ersten Ausläufer der Blue Ridge Mountains erreicht, von wo aus Ronan über immer schmaler werdende Sträßchen bergauf navigierte und schließlich in einer Brandschneise parkte. Von hier aus, eröffnete er ihr, müssten sie zu Fuß weiter.

Sie gingen zu Fuß weiter.

Keiner von ihnen war sonderlich gut für eine Wanderung gerüstet – Hennessy in ihrem Outfit aus Leder und Spitze und Ronan mit schwarzen Springerstiefeln und einem zerzausten Raben auf der Schulter. Das Ganze war so absurd, dass es schon wieder etwas Tröstliches hatte, sagte sich Hennessy.

Denn langsam machte sich wieder die Angst in ihr breit.

Lindenmere ist ein Traumwald, hatte Ronan ihr im Auto erklärt. Also halt deine Gedanken unter Kontrolle, wenn wir da sind.

Kontrolle war noch nie eine von Hennessys Stärken gewesen.

Sie sah auf ihren Handytimer. Sie hatte ihn gerade neu gestartet. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie ausrutschen und sich so stark den Kopf anschlagen würde, dass sie das Bewusstsein verlor, war zwar eher gering, aber sie konnte schlicht nicht mehr ohne die beruhigende Gewissheit leben, dass irgendetwas im Hintergrund die Minuten herunterzählte, um sie nötigenfalls zu wecken, bevor der Traum einsetzte.

Ronan schrieb im Gehen eine Nachricht an jemanden. Hennessy sah, dass der Name des Kontakts GESCHÄFTSFÜHRUNG lautete.

»Wer ist das denn?«

»Adam«, antwortete Ronan. »Ich schreibe ihm, dass ich reingehe, damit er weiß, wo er mich findet, falls ich in ein paar Tagen nicht zurück bin.«

In ein paar Tagen?

»Da sind wir«, sagte Ronan.

Sie hätte nicht damit gerechnet, dass der Unterschied so offensichtlich sein würde, doch das war er. Hier oben in den Bergen wuchsen die normalen Bäume schlanker und schräger, klammerten sich Halt suchend an die Granitfelsen und reckten sich nach dem Sonnenlicht. Lindenmeres übernatürliche Bäume dagegen gehorchten anderen Regeln. Sie waren kräftig und ausladend, aufmerksam und freundlich, vollkommen unbeeinträchtigt durch die spärlichen Ressourcen in dieser rauen Gipfelwelt. Die Nordseiten ihrer Stämme waren von Flechten und grünem Moos bewachsen, an dessen zarten Stängeln winzige Blüten im Wind zitterten.

Auch der Himmel war anders. Er hatte sich grau verfärbt. Nicht das fahle Grau eines bewölkten Herbsttages, sondern ein wogendes, dickflüssiges Grau, das in Wirklichkeit eher blau und violett und olivgrün war und zu kriechen, zu changieren, sich wie eine Schlange zu winden schien. Er hatte keine Augen, keinen Pulsschlag, keinen Körper, und doch hatte man das Gefühl, er wäre ein lebendiges Wesen, selbst wenn er sich ihrer Anwesenheit unter ihm nicht bewusst war.

»Warte«, sagte Hennessy. »Ich hab’s mir anders überlegt.«

Ronan drehte sich zu ihr um. »Lindenmere tut dir nichts, es sei denn, du willst es so. Nicht, solange ich bei dir bin. Es schützt bloß sich selbst, und ansonsten lässt es Dinge erscheinen, um die du es bittest.«

»Aber«, sagte Hennessy. Ich traue mir nicht.

Sie versuchte, das Zittern zu unterdrücken. Da hatte sie es zehn Jahre lang geschafft, sich zusammenzureißen, und jetzt war sie so ein Häufchen Elend.

Aber die Vorstellung, das Gespinst schon bald wiederzusehen, war einfach zu viel.

Ronan musterte sie.

Dann formte er mit den Händen einen Trichter um den Mund und rief: »Opal!« Er wartete kurz, lauschte. »Wo bist du, du kleine Kröte?«

»Wer ist Opal?«, wollte Hennessy wissen.

Irgendwo über ihnen schrie ein unsichtbarer Vogel. Als Hennessy sich umdrehte, sah sie gerade noch, wie sich etwas Dunkles zwischen den Bäumen bewegte. Oder eigentlich fühlte sie sich eher, als hätte sie gerade etwas Dunkles zwischen den Bäumen gesehen.

»Halt deine Gedanken unter Kontrolle, hab ich gesagt«, ermahnte Ronan sie. »Wenn Lindenmere denkt, du willst etwas haben, dann kriegst du es auch.«

»Entspann dich, ich hab alles im Griff.« Gar nichts hatte sie im Griff.

»Chainsaw, geh Opal suchen«, wandte Ronan sich an seinen Raben. »Hennessy braucht sie.«

Wenn es anatomisch nicht unmöglich gewesen wäre, hätte Hennessy geschworen, dass der Rabe einen Flunsch zog. Trotzig legte er den Kopf schief und trat von einem Fuß auf den anderen, die Nackenfedern gesträubt.

Ronan wühlte in seiner Jackentasche und zog eine Schachtel Erdnusskräcker hervor. Zwei davon packte er aus, woraufhin der Rabe sich merklich kooperativer zeigte.

»Kräcker«, sagte Ronan.

»Krek«, antwortete der Vogel.

»Kräcker«, wiederholte Ronan.

»Krek .«

»Kräcker.«

»Kre-ka .«

Er gab ihn ihr. »Den zweiten kriegst du, wenn du Opal herholst.«

Der Rabe flatterte hoch und seine Flügel schaufelten hörbar die Luft beiseite. Hennessy sah staunend zu. Auf der Wanderung hierher hatten Ronan und sie gleichermaßen deplatziert in ihrer Umgebung gewirkt. Hier jedoch wirkte er kein bisschen deplatziert mehr; er schien genauso perfekt in diesen dichten dunklen Wald zu passen wie sein rätselhafter Vogel.

»Du hast das alles hier geträumt, oder?«, fragte Hennessy.

»Mehr oder weniger.«

»Mehr oder weniger?«

»Ich hab geträumt und danach war Lindenmere hier«, erklärte Ronan. »Aber ich glaube, es hat vorher schon existiert, als etwas anderes, und mein Traum hat ihm bloß die Tür geöffnet. Es ist ein Wald, weil das die einzige Form ist, die mein Vorstellungsvermögen ihm geben konnte. Sein Erscheinungsbild wurde durch die Form meiner Gedanken bestimmt. Darum Bäume. Falls das irgendwie Sinn ergibt.«

Hennessy erschauderte, zum einen, weil es ziemlich kühl in diesem verrückten Wald war und zum anderen, weil Ronans Erklärung sie an das Gespinst erinnerte. Daran, was es von ihr wollte. »Und das macht dir keine Sorgen?«

Nein, das sah sie ihm an. Er liebte diesen Ort.

Aus dem Unterholz ertönte ein weiterer Schrei, gefolgt von einer Art Brummen, das genauso gut von einem Tier wie auch von einem Motor hätte stammen können.

»Ganz ruhig«, sagte Ronan. Hennessy war sich nicht ganz sicher, ob er mit ihr oder sich selbst redete.

»Wenn du diesen Ort geschaffen hast, warum hast du dann nicht dafür gesorgt, dass dir hier nichts gefährlich werden kann?«, fragte sie.

Er hob den Arm und ließ die Finger über einen tief hängenden Zweig gleiten. »Ich hatte vor Lindenmere schon mal einen anderen Wald.« Es schien, als wäre er kurz davor, ihr ein Geheimnis anzuvertrauen, aber dann sagte er bloß: »Hat ein ziemlich übles Ende genommen damals. Weil ich Schisser ihn zu harmlos gemacht hatte. Zu gewöhnlich. Er war darauf angewiesen, dass ich ihn beschütze, und darum …« Er beendete den Satz nicht, aber das war auch nicht nötig. Die Mädchen verließen sich genauso darauf, dass Hennessy sie am Leben hielt, und sie kannte das Gefühl, sie im Stich zu lassen, nur zu gut. »Ich hab Lindenmere mehr wie das sein lassen, was es vorher war.«

»Und was es vorher war, ist gefährlich.«

»Was gefährlich ist, kann sich wenigstens verteidigen«, konterte Ronan.

Er schien es Lindenmere tatsächlich nicht zu verübeln. Gefährlich war Ronan Lynch schließlich selbst.

»Außerdem kann es ja auch ganz anders sein«, fügte er dann hinzu. »Guck.«

Er streckte die Hände aus und sagte ein paar Worte in einer angemessen altertümlich klingenden Sprache. In den herbstlichen Baumkronen erwachten zwinkernde Lichtpunkte zum Leben, die dann auf sie herabrieselten. Ronan machte ein paar Schritte rückwärts und begutachtete zufrieden sein Werk, während die Lichter sachte auf seinen Handflächen landeten und darin versickerten.

Hennessy zuckte zusammen, als eins der Pünktchen unter ihre eigene Haut drang und dort ein diffuses Gefühl von Wärme verbreitete. Doch nicht alle Lichter lösten sich auf. Manche blieben in ihrer Kleidung hängen, ihrem Haar. Eins verfing sich in ihren Wimpern, und als sie blinzelte, einmal, zweimal, dreimal, sah sie geradewegs hinein. Anders als erwartet, brannte ihr das Licht nicht in den Augen, und je länger sie daraufstarrte, desto mehr fühlte sie die Helligkeit in sich, anstatt sie nur zu sehen. Es war ein Gefühl von Freude, von Zuversicht. Als blickte sie in eine Sonne aus purer Glückseligkeit.

Ronan raunte mit einer Ehrfurcht, die sie noch nicht von ihm kannte: »Gratias tibi ago.«

»Was hast du gesagt?«, wollte Hennessy wissen, nachdem das Licht in ihren Wimpern sich vollends aufgelöst hatte und sie ihre Stimme wiederfand.

»Das war Latein und hieß ›Danke‹«, antwortete Ronan, »ist ja wohl verdammt noch mal nur höflich, sich zu bedanken, wenn einem was gefällt. Opal! Komm. Hier, komm und guck.«

Es war wie ein Pakt mit dem Teufel, ein Feentanz. Ronan Lynch stand da, in seinen dunklen Klamotten, das einzig hell Schimmernde an ihm seine Augen und die funkelnden Lichtpunkte, die ihn umschwirrten, und streckte ihr die Hand hin. Komm mit . Er sprach es nicht laut aus, aber Lindenmere erinnerte sich für sie an die Worte, sodass es war, als hätte er es getan.

»Nicht denken, Hennessy«, sagte er. »Einfach sein.«

Und sie ließ sich von ihm führen.

Sie gelangten an ein grausames Feld aus Schwertern, die mit den Klingen nach unten wuchsen, die Hefte fünf oder zwanzig oder fünfzig Zentimeter über dem Boden. Sie gelangten an einen Höhleneingang, bewacht von einem riesigen weißen Hirsch mit blutverschmiertem Geweih. Sie gelangten an eine Wiese, die sich als See entpuppte, an einen Teich, der sich als Blütenblätter entpuppte.

Lindenmere war wunderschön und vielschichtig auf eine Art, wie die wirkliche Welt es nicht war. Luft und Musik zum Beispiel waren in der wirklichen Welt zwei vollkommen verschiedene Dinge; in Lindenmere nicht unbedingt. Auch die Grenze zwischen Wasser und Blumen verlief fließend in diesem Wald. Das alles konnte Hennessy spüren . Hier lebten Wesen, denen man besser nicht begegnete, es sei denn, man hatte Ronan Lynch an seiner Seite. Hier gab es Winkel, die einen womöglich für immer gefangen hielten, es sei denn, man hatte Ronan Lynch an seiner Seite. Dieser Ort war ungezähmt, verwirrend, aber am Ende folgte alles einer einzigen Logik: Ronan Lynch. Seiner Vorstellung von Sicherheit, seinen Wünschen, seinen Gedanken. Ronan Lynch war Lindenmeres einziger Leitstern.

Auch das konnte Hennessy spüren: Lindenmere liebte Ronan Lynch.

»Kerah!«

»Opal, na endlich, du kleine Rotzgöre«, sagte Ronan.

Eine Kreatur kam aus dem Unterholz gehüpft, ein dürres, hohläugiges Mädchen. Es trug einen viel zu großen Zopfpullover und sein kurzes, hellblondes Haar war größtenteils unter einer tief in die Stirn gezogenen Mütze verborgen. Man hätte es für ein Menschenkind halten können, wären da nicht seine Beine gewesen, die mit dichtem Fell bewachsen waren und in einem Paar Hufe endeten.

»Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass das Chainsaws Wort ist?«, wies Ronan sie zurecht. »Du hast Lippen. Also nenn mich gefälligst Ronan.« Das Mädchen schlang die Arme um seine Knie und tanzte übermütig um ihn herum. Seine Hufe hinterließen kleine Kuhlen im Boden und Ronan hob vorwurfsvoll den Fuß. »Der untere war meiner.«

Hennessys Knie wurden weich und sie plumpste unsanft auf den Hintern. Ungläubig starrte sie Opals fellüberzogene Beine an, die funkelnden Lichter, die noch immer um sie herabrieselten. All ihr Zynismus war wie weggeblasen.

Opal schreckte zusammen über die Bewegung und versteckte sich hastig hinter Ronan.

»Stell dich nicht so an, du Doofnuss.« Ronan wischte ihr mit dem Daumen ein wenig Schmutz von der Wange. »Das ist bloß Hennessy.«

»Kruk?«, fragte Opal.

»Ich hab doch gerade gesagt, du sollst nicht immer Chainsaws Wörter benutzen, du sprichst schließlich unsere Sprache. Sie ist eine Träumerin, so wie ich.«

Nein, dachte Hennessy, die sich wie berauscht fühlte. So eine Träumerin war sie nicht. Nicht mal annähernd.

Zögerlich stakste Opal auf sie zu. Hennessy hielt ganz still, als sie neben ihr in die Hocke ging, nur dass ihre Ziegenbeine nach hinten knickten statt nach vorne. Sie roch wild, nach Tier, und brabbelte in einer Sprache auf Hennessy ein, die sie nicht verstand.

»Wie wär’s zum Beispiel mit ›Hallo‹?«, schlug Ronan vor.

»Isst du Fleisch?«, fragte Opal Hennessy.

Ronan verdrehte die Augen. »Sie wird dich nicht fressen. Jetzt sei nicht so feige.«

»Ich hab keine Angst«, beteuerte Opal, doch ihr aufmüpfiger Tonfall ließ auf das Gegenteil schließen.

Hennessy war ebenfalls nicht ganz wohl gewesen und sie schnappte scherzhaft mit den Zähnen nach Opal.

Opal fiel hintenüber. Sie fing sich mit den Händen ab und richtete sich wieder auf, als Hennessy sie angrinste.

»Das ist gut«, befand Opal unerklärlicherweise. Mit einem verschlagenen Funkeln in den Augen streckte sie die Hand aus, wie um eins von Hennessys Blumentattoos von ihrem Hals zu pflücken. Sie schien auf Zank aus zu sein.

»Knall ihr eine«, wies Ronan Hennessy an. Was Hennessy nicht vorhatte, aber Opal krabbelte so hektisch von ihr weg, als wäre sie sich da nicht so sicher. »Sie ist eine Seelengeleiterin, wie Chainsaw. Sie macht die Dinge schärfer, sorgt dafür, dass das Ganze nicht kippt.«

»Kippt?«

»Der übliche Traumscheiß eben«, winkte Ronan ab, als würde das irgendwas erklären. »Opal, wir haben was Wichtiges vor, hilfst du uns dabei oder muss ich Chainsaw fragen?«

Opal warf einen argwöhnischen Blick nach oben und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Nee, nee, nee!«

»Okay«, sagte Ronan. »Bist du so weit, Hennessy?«

Hennessy blinzelte zu ihm hoch. Sie war überwältigt auf eine Art, die sich nicht in Worte fassen ließ. »Wofür?«

»Zum Träumen.«