D a Hennessy sich jetzt schon vor Angst in die Hose machte, ließ Ronan seine eigenen Bedenken lieber nicht durchblicken. Nachher schnappte Lindenmere, das so empfänglich war, noch das Falsche auf und manifestierte irgendetwas, was sie absolut nicht gebrauchen konnten.
Aber gefährlich blieb der Plan trotzdem.
Opal und Hennessy hockten auf einer Lichtung inmitten von Grasbüscheln mit haarfeinen Halmen, wie sie nur an äußerst schattigen Orten wuchsen. Sie waren von einem Feenring aus mattweißen Pilzen umschlossen. Am Rand der Lichtung murmelte ein Bächlein vor sich hin, das die Gerbstoffe des herabgefallenen Laubs rostbraun gefärbt hatten. Die beiden saßen im Schneidersitz, Rücken an Rücken, und Opal hatte eine feierliche Miene aufgesetzt. Ronan baute stark auf ihre Rolle als Vermittlerin zwischen ihm und Lindenmere.
Da er die allermeisten seiner Traumgeschäfte von den Schobern aus erledigen konnte und es außerdem vorzog, dass etwaige Konsequenzen sich fernab seiner physischen Existenz vollzogen, benutzte er Lindenmere selten auf diese Weise. Wenn er hierherkam, dann um sich verstanden zu fühlen, um sich von der Kraft der Ley-Linie durchströmen zu lassen, um die Verbindung zu etwas Größerem zu spüren und sich zu vergewissern, dass Lindenmere genauso gut ohne ihn zurechtkam wie umgekehrt.
Aber nie zum Träumen.
In Lindenmere zu träumen bedeutete, seine Gedanken unmittelbar in die Wirklichkeit zu holen. Die Monster tauchten im selben Moment auf, in dem man sie rief. Der Ozean zog den echten Körper in die Tiefe. Die eigenen Kopien waren real, bis man sie zerstörte oder Lindenmere bat, es zu tun.
Aber Ronan wusste nicht, wie er Hennessy sonst das Träumen beibringen sollte.
Die einzige andere Möglichkeit hätte darin bestanden, sich an einem gesonderten Traumort mit ihr zu treffen wie sonst mit Bryde, aber dort hätte er wesentlich weniger Kontrolle über das Geschehen gehabt. Und die Gefahr, dass Hennessy mit einem weiteren tödlichen Tattoo am Hals aufwachte, war einfach zu groß. Es half nichts, er musste schweres Geschütz auffahren.
»Lindenmere«, sagte Ronan laut. »Ich brauche deine ungeteilte Aufmerksamkeit.«
Hennessy begann zu träumen. Oder nein, das traf es nicht ganz, denn sie war weiterhin wach. Lindenmere träumte für sie.
Es war dunkel.
Zwielicht erfüllte die Lichtung.
Musik ertönte, durchsetzt von Rauschen und Knacken. Eine alte Jazzplatte; eine Sängerin trällerte und gurrte zu den blechernen Klängen. Davon hatte Hennessy nichts gesagt, als sie Ronan ihren Traum beschrieben hatte.
Eine Frau erschien auf der Lichtung – das heißt, plötzlich waren sie gar nicht mehr auf der Lichtung. Sondern in einem Wandschrank. Die Lampen waren ausgeschaltet. Das einzige Licht drang durch ein kleines, hohes Fenster und tauchte alles, was es berührte, in Grau. Die Frau trug Unterwäsche und einen Morgenmantel. Ihre Mascara rann ihr übers Gesicht. In der Hand hielt sie eine Pistole.
Die Frau hielt sich die Pistole an die Schläfe.
Die Tür ging auf (der Schrank hatte jetzt eine Tür). Und Hennessy stand da. Nicht die Hennessy, die gerade träumte, sondern eine andere. Ihre Körpersprache wirkte ein kleines bisschen anders als die der heutigen Hennessy. Ihre Haltung ein kleines bisschen weicher, die Schultern ein kleines bisschen hängender. Sie trug ein weißes T-Shirt und eine Jeans mit Blümchenstickereien auf den Gesäßtaschen.
»Mum?«, fragte Hennessy.
»Du wirst mich nicht vermissen«, sagte Hennessys Mutter.
»Warte«, sagte Hennessy.
Ein Lichtblitz zuckte aus dem Lauf der Waffe.
Der Traum verblasste mit dem Nachhall des Schusses, und als Hennessy wieder zu sich kam, stand eine zweite Hennessy am Rand des Feenrings inmitten zertrampelter Pilze.
Ronan warf einen Blick auf die neue Hennessy und sagte: »Lindenmere, schaff sie weg.«
Der Wald ließ die zweite Hennessy verschwinden. Sie verschmolz mit dem feinen Gras, als hätte es sie nie gegeben. Die echte Hennessy presste sich keuchend die Hand an den Hals.
»Das war nicht der Traum, den du mir beschrieben hast«, sagte Ronan.
Hennessys Atem ging langsam, mühevoll, ungleichmäßig.
Ronan trat neben sie und stupste mit der Schuhspitze ihre Schulter an. »Das war nicht der Traum, von dem du mir erzählt hast. War das eine Erinnerung? Ist das irgendwann so passiert?«
»Gib – mir – eine – Sekunde«, stieß Hennessy hervor.
»Nein«, antwortete Ronan schlicht. »Du brauchst keine Sekunde. Lindenmere träumt für dich. Du bist nicht diejenige, die sich hier anstrengen muss. Also, ist das so passiert oder nicht?«
Als Hennessy schwieg, krabbelte Opal behutsam auf ihren Schoß. Sie klaubte Hennessys Hand von ihrem Hals, gab ihr einen Kuss darauf und drückte sie an sich.
»Was ist nun?«, beharrte Ronan.
Hennessy reagierte genauso trotzig wie Opal, sobald diese nicht ihren Willen bekam. »Ich will nicht drüber reden.«
»Krieg verdammt noch mal deine Gedanken unter Kontrolle, sonst können wir uns auch gleich auf den Rückweg machen«, schnauzte Ronan und trat wieder an den Rand der Lichtung. »Noch mal von vorne.«
Noch mal.
Von vorne.
Zwielicht senkte sich über die Lichtung. Musik ertönte. Die Frau hob die Pistole.
»Lass die Tür nicht aufgehen«, sagte Ronan. »Lass es nicht weiterlaufen.«
Die Tür ging auf.
»Mum?«, fragte Hennessy.
»Du wirst mich nicht vermissen.«
»Warte …«
Eine weitere Hennessy erschien, löste sich so hastig von der ersten, als wollte sie eine unliebsame Erinnerung abschütteln.
»Lindenmere, weg damit«, blaffte Ronan.
Der Traum verflüchtigte sich; die zweite Hennessy versickerte in der Erde.
Hennessy presste sich die Handballen auf die Augen.
»Ist das so passiert?«, fragte Ronan. »Oder was soll das Theater?«
»Ich will nicht drüber reden«, fauchte Hennessy.
»Und wozu sind wir dann hier? Gibst du dir überhaupt Mühe?« Ronan stapfte in die Mitte der Lichtung und deckte die Hand über einen der zertretenen Pilze, bis er wieder stabil und aufrecht stand. »Noch mal von vorne. Und diesmal mit dem richtigen Traum.«
Noch mal.
Von vorne.
Zwielicht senkte sich. Jazzklänge. Die Pistole hob sich. Der Türknauf drehte sich.
»Nicht du machst auf«, befahl Ronan. »Irgendwer anders. Der Weihnachtsmann. Ein Hund. Oder einfach keiner, der Raum bleibt leer. Mann, du versuchst ja nicht mal, es zu steuern.«
Die Tür ging auf.
»Mum?«, fragte Hennessy.
»Fuck, du versuchst es nicht mal!«, schimpfte Ronan und erschoss die zweite Hennessy.
Die echte Hennessy kam wieder zu sich und krallte keuchend die Finger ins Gras. Sie starrte auf die Pistole in Ronans Hand.
»Wo kommt die denn her?«
»Lindenmere ist ein Traum«, knurrte er. »Hab ich doch erklärt. Du musst dich bloß endlich drauf einlassen. Es tut nur das, worum du es bittest, und du bittest es um das Falsche. Ich hab es um die Waffe gebeten. Und jetzt werde ich es darum bitten, sie wieder wegzuschaffen. Lindenmere, weg mit dem Scheiß.«
Die Pistole und Hennessys tote Kopie verschwanden.
»Was soll das alles? Was ist das für ein Traum?«
»Ich strenge mich ja an.«
»Das glaub ich dir nicht.«
Opal schmiegte sich an Hennessy und kaute an der Armbanduhr, die Adam ihr vor langer Zeit geschenkt hatte. »Sie strengt sich an«, mümmelte sie. Aber ihr konnte Ronan genauso wenig trauen. Sie hielt immer zu den Schwächeren, schließlich gehörte sie selbst dazu.
»Noch mal von vorne«, bestimmte Ronan. »Sei wenigstens nicht zu feige, diese Kopie von dir loszuwerden. Das hier kennt keine Grenzen, kapierst du das nicht? Wir haben unendlich viele Möglichkeiten, unendlich viel Macht. Aber genau darum müssen wir auch bereit sein, alles zu tun, um zu verhindern, dass wir ’ne verschissene Katastrophe auslösen. Und keiner versteht das. Damit müssen wir leben. Noch mal von vorne. «
Noch mal. Von vorne.
Zwielicht, Jazz, Pistole, Tür.
»Lass nicht zu, dass die Kopie überlebt«, ordnete Ronan an. »Wenn du schon sonst nichts änderst, dann …«
»Mum?«, fragte Hennessy.
»Du wirst mich nicht vermissen.«
»Warte …«
Hennessy krümmte sich keuchend zusammen. Ronan kniete sich neben sie. Drückte ihr die Pistole in die Hand und richtete sie auf die neue Kopie. »Ab jetzt machst du das hier im Traum. Keiner hilft dir mehr damit.«
Hennessy gab einen hilflosen Laut von sich, als er ihren Finger an den Abzug legte. Sie fing an zu weinen, eine Reihe trockener, hoffnungsloser Schluchzer.
»Lindenmere«, knurrte Ronan wütend, »weg damit.«
Die Kopie sickerte in den Boden.
»Ich kann nicht«, wimmerte Hennessy.
»Ist das so passiert oder nicht?«, fragte Ronan.
»Ich kann nicht.«
Ronan ließ sich nach hinten ins Gras fallen. »Fuck.«
Opal flüsterte: »Bryde.«
An einem Ort wie diesem schien der Name ungeheure Dimensionen anzunehmen. Das Wort blieb dasselbe wie zuvor, aber hier in Lindenmere erlangte es eine völlig andere Bedeutung. Hier in Lindenmere konnte Ronan Bryde sagen und damit den echten Bryde heraufbeschwören, aber er konnte auch Bryde sagen und eine Kopie von ihm schaffen, so, wie Ronan ihn sich vorstellte. So wie Hennessy und ihre Kopien.
Bryde selbst würde vermutlich behaupten, beide Versionen wären real.
Opal starrte noch immer eindringlich zu Ronan hoch.
»Okay«, sagte er. »Gut.«