D eclan brachte selten Frauen mit nach Hause.
Es war nicht so, dass er nie Dates hatte oder jemanden aufriss – eine unangenehme Umschreibung für etwas, was sich bisweilen als eine durchaus angenehme Sache entpuppte. Doch er ließ ungern Nähe zu. Nur gerade so viel, dass dabei nichts Wahres ans Licht kam.
Was bedeutete: nicht gerade viel.
Er hatte nur wenige längere Beziehungen gehabt – drei Ashleys direkt nacheinander, sehr zur Erheiterung seiner Brüder – und sie gepflegt wie eher unliebsame Hobbys. Er wusste nicht, warum er immer noch zu seinem Filmkritikerclub ging, und genauso wenig wusste er, warum er immer noch was mit Ashleys anfing. Zumal Letzteres ganz schön viel Zeit in Anspruch nahm, dafür, dass es sowieso jedes Mal tränenreich endete, weil sie ihm überhaupt nichts bedeutete, sonst hätte er sich ja wohl erinnert, dass … hier erinnerungswürdigen Umstand einfügen. Es war anstrengend, so viele fremde Geheimnisse aufgeladen zu bekommen und dabei nicht seine eigenen preiszugeben.
Also brachte er selten Frauen mit nach Hause. Schon allein, weil er anderen nicht gern zeigte, wo er wohnte. Wo er seine Zahnbürste aufbewahrte.
Aber Jordan brachte er mit nach Hause.
Das eben war schließlich auch kein normales Date gewesen, das auf die klassische Art endete. Wie merkwürdig wäre es, wenn jetzt jeder seiner Wege ginge, nachdem ihnen kurz zuvor eine Kopie von Declans Vater dazu geraten hatte, alles zu vergessen, was sie je über ein rätselhaftes Verbrechersyndikat gewusst hatten.
Darum fuhren sie zu Declan.
Er schloss die Tür auf. »Nach dir.«
Jordan ging vor und guckte sich neugierig um. Declan versuchte, das Haus mit ihren Augen zu sehen: langweilig, vorhersehbar. Geschmackvoll, ja, teuer, keine Frage, aber genauso belanglos. Graues Sofa, weiße Teppiche, an den Wänden nichtssagende moderne Kunst in dunklen Rahmen. Das hier war kein Zuhause, sondern ein Möbelhauskatalog. Und der gut aussehende, gesichtslose Declan war bloß ein weiteres Stück Deko.
Er schloss die Tür hinter ihnen und warf einen Blick auf die Uhr. Zu seiner Erleichterung hatte Matthew sich so weit von seinem Schock erholt, dass er zum Fußballtraining gegangen war. »In ungefähr einer Stunde kommt mein Bruder Matthew nach Hause.«
»Wie viele Brüder hast du denn?« Doch sie hatte bereits ein Foto auf dem Flurtischchen entdeckt. Sie verglich Declan damit, musterte ihn ähnlich eindringlich wie in der Nacht, als sie sein Porträt angefangen hatte.
»Beide jünger«, erklärte Declan. »Und Matthew wohnt bei mir.«
»Süßer Junge«, befand sie. »Mann. Typ. Was auch immer er ist.«
Genau, dachte Declan. Was auch immer Matthew war.
»Und der da sieht aus wie der neue Fenier«, merkte Jordan dann an. »Aber hallo!«
»Ronan«, stellte Declan vor. »Ja. Er kommt ziemlich stark nach unserem Vater.« Er wollte jetzt nicht an seinen Vater denken. Oder daran, wie der neue Fenier ihn umarmt und gesagt hatte, er sei stolz auf ihn. Das war alles nicht real. Und so typisch für Niall, Declan vor ein Rätsel zu stellen, das nur wieder zu einem weiteren seiner Träume führte. »Kaffee? Espresso? Cappuccino?«
Jordan akzeptierte den abrupten Themenwechsel. »Für einen anständigen Cappuccino würde ich jetzt, na ja, vielleicht nicht unbedingt einen Mord begehen, aber ein mittelschwerer Einbruch inklusive Körperverletzung wäre schon drin.«
In der Küche stemmte sie sich auf die Arbeitsplatte hoch und sah zu, wie Declan ihr einen vollendeten Cappuccino zubereitete. Nichts als spärliches Spätnachmittagslicht erhellte den Raum und entzog ihm sämtliche Farben, sodass er in elegantem Schwarz-Weiß-Grau erschien.
Als Declan ihr den Kaffee brachte, spreizte Jordan die Knie, damit er dicht an sie herantreten konnte, und schenkte ihm ein träges Grinsen. Sie nahm die Tasse und gestikulierte damit Richtung Esszimmer und Wohnbereich. »Was hat sich da drin denn für eine Einrichtungstragödie abgespielt?«
»So was nennt sich stylish und zeitgemäß.«
»Nein, so was nennt sich gesichtslos«, entgegnete sie und schob die Hand unter seinen Pullover. »An diesem Kram kann doch unmöglich dein Herz hängen.«
»Bisher hatte keiner von meinen Gästen was dran auszusetzen.«
»Dann hast du wohl oft Roboter zu Besuch.« Sie zog an seinem Hemd, um ein Stückchen Haut freizulegen. »Wo ist denn deine echte Persönlichkeit?«
Gut versteckt. »Woher willst du wissen, dass das nicht meine echte Persönlichkeit ist?«
»Das verraten mir deine Schuhe.«
Er musterte sie so lange und eindringlich, dass sie die Hand unter seinem Pullover hervornahm und sich scherzhaft in Pose warf, das Kinn leicht angehoben, die Kaffeetasse dicht neben dem Gesicht. Mädchen auf Arbeitsplatte. Stillleben mit Vergangenheit.
»Oben«, gab er sich schließlich geschlagen.
Jordan ließ sich von der Arbeitsplatte rutschen.
Er ging vor, die Treppe hoch. Sah das Haus erneut mit ihren Augen: noch mehr Teppichboden. Noch mehr belanglose Deko. Das bescheidene Schlafzimmer am Ende des Flurs wirkte geringfügig weniger anonym; an den Wänden hingen Schwarz-Weiß-Fotografien irischer Szenen, mit moderatem künstlerischen Anspruch und irgendwie nostalgisch. Das Bett war so sorgfältig gemacht wie in einem Hotel. Declan schleifte einen Stuhl in die Mitte des Zimmers und kletterte darauf. In der Decke war eine Dachbodenluke.
»Da hoch?«, fragte Jordan.
»Du hast doch gefragt.«
Während er die Leiter herunterzog, betrachtete Jordan die Fotos an den Wänden und massierte sich die Schläfe, als hätte sie Kopfschmerzen.
»Alles klar?«, fragte Declan.
Sie ließ die Hand sinken. »Und ob, beam mich rauf.«
»Komm, ich halte deinen Kaffee.«
Als sie beide oben waren, zupfte Declan an einer Schnur, woraufhin eine einzelne Glühbirne den Raum erleuchtete.
Die Decke war so niedrig, dass man nur direkt unter dem Giebel aufrecht stehen konnte. Auf dem Boden lag ein antiker Teppich und an den nackten Sperrholzplatten der Dachschrägen hingen Bilder.
Declan griff hinter sich, um eine Art-déco-Stehlampe in Form eines Furcht einflößenden Engels einzuschalten. Sie war so groß wie Jordan.
»Ist das ein …« Sie schien angestrengt zu überlegen. »Wie heißt der noch mal? Stubenrauch?«
»Reinhard Stubenrauch.« Dass sie den Namen des Künstlers kannte, stimmte ihn lächerlich froh. Allein dass sie mit ihm hier oben war, stimmte ihn lächerlich froh. Alles stimmte ihn lächerlich froh. Dieser Tag, die ganze Woche – was für eine heillose Aneinanderreihung von Katastrophen … und trotzdem war er lächerlich froh.
Jordan legte den Kopf schief und studierte eins der Bilder, die er mit kleinen Klebefilmröllchen an der Wand befestigt hatte, damit die Vorderseite keinen Schaden nahm. Links und rechts erblühten schwarze Silhouetten, während mehrere noch dunklere Pinselstriche das Bild resolut und sanft zugleich in zwei Hälften teilten, wie Bambusblätter, Schriftzeichen oder Wunden. »Mein Gott, Declan, das ist ja ein Original. Ich dachte, das wäre bloß ein Druck. Von wem ist das?«
»Chu Teh-Chun«, antwortete Declan. »Ich weiß, es hat eigentlich einen besseren Ausstellungsort verdient. Das brauchst du mir nicht zu sagen.«
»Hatte ich auch nicht vor«, entgegnete Jordan. »Und das hier?«
Noch mehr Schwarz, das, in Spritzern oder mit der Farbrolle aufgetragen, an architektonische Formen erinnerte, eine fliegende Kreatur, einen Satz, der sich nicht vollends entziffern ließ. Wieder rieb Jordan rieb sich die Schläfe.
»Robert Motherwell.«
Sie wandte sich dem nächsten Gemälde zu. Dieses, ebenfalls abstrakt, zeigte rote und schwarze gezackte Strukturen, wie Aufschreie, wie an der Leinwand emporzüngelnde Flammen. »Still?«, tippte sie. »Clyfford Still?«
Scheiße, dachte Declan. Wehe, du verliebst dich in dieses Mädchen.
»Warum hängt das nicht alles unten?«, wollte sie wissen. »Warum hast du dir da ein Hotel eingerichtet und sperrst den echten Declan hier oben auf den Dachboden?«
Erneut hob sie die Hand an den Kopf. Dann die Kehle. Eine Weile lang starrte sie auf den Still, schien ihn jedoch kaum wahrzunehmen. Sie stellte ihren Cappuccino ab, wie beiläufig, doch Declan sah ihre zitternden Finger und begriff, dass sie es tat, um ihn nicht zu verschütten.
Beklommenheit machte sich in ihm breit, in schwarzen Flecken und scharfen Zacken, genau wie die Gemälde um ihn.
»Warum habt ihr Die dunkle Dame geklaut?«, fragte er.
Jordan schloss die Augen. Ihre Stimme klang abwesend, benommen. »Wir haben doch gesagt … wir wollten doch nicht darüber reden und auch … nicht über deinen Vater, den Träumer.«
Nein, dachte er. Bitte, nein.
»Ich bin mir ziemlich sicher«, entgegnete Declan, »dass ich nie das Wort Träumer benutzt habe.«
Jordans Augen blieben geschlossen. Sie wehrte sich nach Kräften. Kämpfte verbissener als Matthew. Doch Declan wusste, was er vor sich hatte. »Nein«, murmelte sie. »Wahrscheinlich … Ach, Scheibenkleister … reiß dich zusammen.«
Letzteres war an sie selbst gerichtet, nicht an Declan.
Declan legte ihr die Hand an die Stirn. Nicht heiß. Damit hatte er auch nicht gerechnet. Da er sie nun ohnehin schon berührte, nutzte er die Gelegenheit, um ihr eine Haarsträhne hinters Ohr zu streichen. Sie öffnete die Augen.
»Du siehst traurig aus«, flüsterte sie.
»Du bist ein Traum.«
»Wenn ich ein Hundebaby bekommen würde für jedes Mal, wenn ein Mann diesen Satz zu mir sagt.«
Er lächelte nicht. »Wann?«
»Vor zehn Jahren. Ungefähr.«
»Wo ist dein Träumer?« Er hasste es, die Worte auszusprechen. Er hasste alles. Er ertrug den Gedanken nicht. Er hatte nicht die Kraft, noch einen Traum zu lieben. Es tat einfach zu weh. Zu lieben tat weh.
Es war nicht Nialls Schuld, aber im Stillen verfluchte Declan ihn trotzdem, aus reiner Gewohnheit.
»Hm, keine Ahnung. Besäuft sich irgendwo. Wie bist du draufgekommen?«
»Du bist nicht der erste Traum, den ich in diesem Zustand erlebe«, antwortete er. Und dann gab er ein großes Stück Wahrheit preis, einfach weil er zu unglücklich war, um es nicht laut auszusprechen. »Außerdem bin ich inmitten von Träumen groß geworden. Da fängt man irgendwann an … sie zu spüren.«
Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Egal, in welche Richtung ich laufe, meine Füße bringen mich immer wieder zurück«, fuhr er fort.
Jordan schwankte. Wie Matthew in seinen schlimmsten Momenten. Im Zimmer war genug Luft, aber nicht die, die sie zum Atmen brauchte.
»Ich fahre dich nach Hause«, entschied Declan. »Du kannst später wiederkommen und dein Auto holen. Okay? Ist das okay für dich?«
Es war schwer abzuschätzen, was in ihr vorging. Ihre Augen waren glasig. Sie schien weit weg, an irgendeinem Ort, der für Träumer oder ihre Träume gemacht war, nicht für jemanden wie Declan.
Sie nickte.