W eiter«, drängte Liliana. »Da sind immer noch Häuser.«
Farooq-Lane und Liliana rasten über den Highway. Liliana sah aus dem Fenster, erst auf erleuchtete Vorstadtsiedlungen, dann zunehmend auf verstreute, von Feldern umgebene Gehöfte. Sie waren nicht mal in der Nähe des Hotels. Nach der Sache mit Ramsay hatte Farooq-Lane Liliana versprochen, ihr eine ruhige Suite zu buchen, bis sie irgendein einsam gelegenes Ferienhäuschen für sie fanden. Konnten sie ihr nicht bitte Zeit bis morgen geben? Bis dahin hätte sie sicher alles geregelt.
Nein.
Konnten sie nicht.
Liliana hatte noch nicht gelernt, ihre Visionen nach innen zu kehren, damit niemand zu Schaden kam, aber sie hatte Farooq-Lane zugesichert, dass dieser Schub brauchbare Ergebnisse liefern würde, solange nur keine anderen Menschen in der Nähe seien.
Also trat Farooq-Lane aufs Gas. Ihr Handy klingelte, aber sie ging nicht dran. Ein Ping ertönte für jede neue Mailboxnachricht. Farooq-Lane musste sie nicht abhören, um zu wissen, was im Gange war, schließlich hatte ihr Job bis vor Kurzem genauso ausgesehen. Jetzt jedoch hatte sie eine neue Visionärin ausfindig gemacht, und überall auf der Welt stiegen Regulatoren in Flugzeuge, um sich für die frischen Visionen bereit zu machen.
Farooq-Lane brauchte nicht ans Telefon zu gehen, um ihnen grünes Licht zu geben oder zu erklären, wo sie war. Das wussten sie auch so. Und sie waren längst unterwegs.
Liliana wirkte erstaunlich ruhig. Und das, obwohl sie genauso übernächtigt und gestresst sein musste wie Farooq-Lane, obwohl sie die Begegnung mit Ramsay zu verarbeiten hatte, obwohl ihr Weg, in der Vergangenheit wie vermutlich auch in der Zukunft, mit Leichen gepflastert war. Obwohl sie drauf und dran war, in ein neues Lebensalter zu explodieren und dabei vermutlich Farooq-Lane töten würde.
Farooq-Lane war sich nicht sicher, ob es ihr lieber gewesen wäre, Liliana in Panik zu sehen. Aber sie hatte das Gefühl, irgendjemand musste in Panik geraten, und wenn es nicht Liliana war, dann fiel die Aufgabe eben ihr zu.
»Warten Sie nicht zu lange«, sagte Farooq-Lane.
»Bald«, erwiderte Liliana.
»Bald können wir irgendwo anhalten oder bald müssen wir irgendwo anhalten?«
Liliana lächelte, als fände sie Farooq-Lanes Sorge nachvollziehbar und gleichzeitig amüsant. »Beides.«
Nicht gerade beruhigend. »Wonach suchen Sie denn?«
»Etwas, woran ich mich erinnere«, antwortete Liliana. Nachdenklich trommelte sie sich mit den Fingerkuppen der einen Hand auf die Nägel der anderen.
Die Meilen flogen dahin. Die Bebauung wurde spärlicher. Die Nacht wurde schwärzer. Farooq-Lane überlegte, ob sie dieser Fremden wirklich vertrauen sollte.
»Oh«, sagte Liliana. »Da vorne.«
Da vorne war eine unbefestigte Zufahrt, die zu einem eisernen Tor führte und sich dahinter auf einer Weide verlor. Jenseits des angrenzenden Holzzauns grasten ein paar schläfrig wirkende Kühe.
Bei ihrem Anblick schnalzte Liliana bedauernd mit der Zunge.
»Zu schade«, murmelte sie und öffnete ihre Tür. Steif schwang sie die Füße nach draußen und stemmte sich hoch.
Farooq-Lane sah von ihr zu den Kühen. Langsam dämmerte es ihr. »Soll das heißen, die …«
»Kommen Sie mir nicht hinterher«, wies Liliana sie an.
Im Licht der Frontscheinwerfer stapfte sie los. Farooq-Lane sah zu, wie sie kurz mit dem Riegel des Tors kämpfte und dann die Weide betrat. Sie machte sich nicht mal die Mühe, es hinter sich zu schließen, was für Farooq-Lane die vielleicht beunruhigendste Entwicklung innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden darstellte, dieser Verstoß gegen alles, was gut und richtig war.
Liliana verschwand im Dunkeln.
Farooq-Lane blieb reglos sitzen und überlegte, ob sie lieber ein Stück zurücksetzen und mehr Abstand zwischen sich und die Weide bringen sollte. Dann überlegte sie, woher sie eigentlich wissen sollte, wann Lilianas Schub vorüber war. Dann überlegte sie, wie sie eigentlich zu all dem stand, was sich gerade abspielte. Sie hatte Ramsay geschlagen und ihre Hand schmerzte noch immer, Parsifal war tot und ihr Herz schmerzte noch immer, aber das Leben ging trotzdem einfach weiter.
Die Windschutzscheibe erbebte, begleitet von einem eigentümlichen Laut. Kaum hörbar, mehr Gefühl als Geräusch. Ein bisschen wie ein heftiger Windstoß oder das Rauschen, das man hörte, wenn man sich eine Muschel ans Ohr hielt. Der Wagen geriet ins Schaukeln, aber nur ganz leicht.
Farooq-Lane fiel auf, dass die Kühe nicht mehr standen. Durch die Lücken zwischen den Zaunlatten sah sie sie als dunkle Haufen im Gras liegen. Eine war gegen einen der Pfosten gekippt, die Zunge hing ihr aus dem Maul. Etwas Dunkles rann den Pfosten hinunter.
Hastig schlug sie sich die Hände über die Ohren.
Sie wusste, dass die Reaktion reichlich verspätet kam und ohnehin nichts ändern würde, aber wenn nicht über die Ohren, würde sie sich die Hände vor den Mund oder die Augen schlagen, und keine dieser Gesten war sinnvoller als die andere.
Die Kühe waren tot. Liliana hatte sie getötet. Farooq-Lane befand sich keine fünfzig Meter von ihr entfernt. War der Visionärin das klar gewesen? Hatte sie die Lage tatsächlich so gut einschätzen können oder Farooq-Lanes Leben fahrlässig aufs Spiel gesetzt?
Farooq-Lane hatte mehr als genug Tote für einen Tag gesehen.
Da, eine Bewegung. Jemand trat durch das offene Tor und schloss es sorgfältig hinter sich. Die Autoscheinwerfer erfassten kurz Lilianas Kleid, ehe sie den Lichtkegel wieder verließ und an der Beifahrertür erschien. Sie stieg ein.
Farooq-Lanes Mund klappte auf.
Liliana war schön. Sie war eindeutig dieselbe Frau wie zuvor, aber gleichzeitig auch nicht. Ihre bleichen Zöpfe hatten sich in langes rotes Haar verwandelt, und in ihren Augen, die vorher so gefasst dreingeblickt hatten, standen Tränen.
»Ich hasse es zu töten«, stieß sie mit erstickter Stimme hervor.
Diese jüngere Version von ihr hatte offensichtlich noch nicht herausgefunden, wie man sich mit einem Leben wie dem ihren abfinden konnte.
»Ich auch«, entgegnete Farooq-Lane.
Liliana seufzte. »Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.«