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D ie Lynch-Brüder, die Brüder Lynch. Auf gewisse Weise waren diese drei schon immer die wichtigste und wahrste Definition der Familie Lynch gewesen. Niall war so oft fort und Aurora zwar da, aber nie ganz greifbar. Ihre Kindheit verbrachten die Jungen in den Wäldern und Feldern rings um die Schober, zündelten, buddelten Löcher und rauften miteinander. Ihre Geheimnisse verbanden sie enger, als eine Freundschaft es je vermocht hätte, und so blieben sie eine Einheit – die Lynch-Brüder, die Brüder Lynch –, selbst als sie in die Schule kamen. Selbst nachdem Niall gestorben war und Ronan und Declan ein Jahr lang zerstritten gewesen waren, denn Hass verbindet Menschen ebenso stark wie Liebe. Die Lynch-Brüder, die Brüder Lynch.

Ronan wusste nicht, wer er ohne die beiden wäre.

Er fuhr wie der Teufel.

Nicht nur in Lindenmere schlug die Zeit seltsame Kapriolen. Nach einer Stunde und achtunddreißig Minuten erreichten Ronan und Hennessy Alexandria, was nur möglich war, wenn man sehr oft die Geschwindigkeitsbegrenzung überschritt und sich sehr wenig Gedanken um eventuelle Konsequenzen machte. Dennoch schien es, als hätten eine Stunde und achtunddreißig Minuten noch nie so lange gedauert. Jede Sekunde war eine Minute, ein Tag, eine Woche, ein Monat, ein Jahr. Jede Meile dehnte sich zu einem Menschenleben aus. Und erst ganz am Ende würde Ronan erfahren, ob die Sonnenhunde es rechtzeitig geschafft hatten.

Er rief seine Brüder an. Keiner nahm ab.

»Geht dran«, murmelte Hennessy auf dem Beifahrersitz.

Immer war es Ronan, der die toten Mitglieder seiner Familie fand. Es war einfach nicht fair. Natürlich wollte er auch nicht, dass einer seiner Brüder mit der emotionalen Wunde weiterleben musste, die ein solcher Fund unweigerlich riss. Aber warum immer er? Er hatte seinen toten Vater in der Auffahrt gefunden, ein Wagenheber, ein zertrümmerter Schädel. Er hatte seine tote Mutter in den sterbenden Überresten von Cabeswater gefunden, ein Traum, ausgeträumt. Diese Bilder würden ihn bis in alle Ewigkeit verfolgen; dem Sieger der Preis, dem Finder die bleibende Erinnerung.

Er rief Adam an. Adam nahm nicht ab.

»Geh dran «, knurrte Hennessy.

Die Zeit zog sich in die Länge, in die Seltsamkeit, in die Unendlichkeit, eine Nacht ohne Morgen, eine Stadt, die einfach nicht näher kam.

Wieder versuchte er es bei seinen Brüdern.

Keiner nahm ab.

»Irgendwer muss doch mal drangehen.« Hennessy vergrub das Gesicht in den Händen.

Endlich bogen sie in das sterile, wie ausgestorben daliegende Wohngebiet ein, in dem Declan und Matthew lebten. Alles wirkte ruhig und normal. Autos schlummerten in Auffahrten, Straßenlaternen summten gemächlich vor sich hin, laublose Ziersträucher zitterten im Halbschlaf.

Die Tür zu Declans Haus stand einen Spalt offen.

Ronan spürte keine Sorge, keine Traurigkeit, keinen Adrenalinstoß, sondern allenfalls die stumpfe Abwesenheit jeglichen Gefühls. War ja klar, dachte er. Er warf einen Blick über die dunkle Straße hinter ihnen, doch sie war noch immer verlassen. Vorsichtig schob er die Tür auf. Hennessy humpelte hinterher.

Das Haus war komplett verwüstet. Nein, mehr als das, es war systematisch zerstört. Er stieg über die Mikrowelle hinweg, die mitten im Eingangsbereich auf dem Boden lag. Die Treppe war voller herabgefallener Bilder, die dalagen, als hätte jemand ihnen auf der Flucht in den Rücken geschossen. Die Schubladen der Flurkommode waren herausgerissen und gegen die Wand geschleudert. Sämtliche Lampen brannten.

Wieder spürte Ronan in sich hinein. Nichts. Er wandte den Kopf. »Such sie«, sagte er zu Chainsaw.

Der Rabe erhob sich lautlos in die Luft, schlug einen Bogen um die Deckenlampe und flog die Treppe hoch.

Das Letzte, was Matthew zu Ronan gesagt hatte, war, dass er ein Lügner sei.

Ronan schloss die Haustür und bahnte sich einen Weg durchs Erdgeschoss. Hennessy folgte ihm wie in Trance. Die Zimmer waren nicht wiederzuerkennen. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass verschiedene Sachen fehlten: Lampen, Statuen, Möbelstücke. Andere waren geendet wie die Mikrowelle: von ihrem angestammten Platz gerissen und zu Boden geschleudert.

Im Sofa waren Einschusslöcher.

Ronan

fühlte

nichts.

»Matthew?«, rief er leise. »Declan?«

Im Erdgeschoss war niemand. Ronan wollte nicht nach oben. Noch immer herrschte in ihm diese watteartige Stille, dieser vollständige Mangel an Emotionen. Da war nichts als der Gedanke, dass ihm vermutlich nur noch wenige Minuten blieben, bis seine Erinnerungen um den Anblick zweier Leichen reicher sein würden.

»Kerah«, rief Chainsaw aus einem der oberen Stockwerke.

Okay. Dann mal los.

Ronan ging die Treppe hoch. Oben, wo zuvor die Familienfotos gehangen hatten, waren Worte an die Wand geschmiert.

AUS DER TRAUM

Mitten auf dem Teppich lag absurderweise ein Paar von Matthews Motivsocken. Die Beagles darauf spähten zu Ronan hoch, er zu ihnen runter.

Ein Rascheln aus Declans Schlafzimmer. Unmöglich einzuordnen. Irgendwie geschäftig.

»Ronan?«, flüsterte Hennessy. Sie klang nicht nach sich selbst.

»Bleib unten«, flüsterte er zurück. Auch er klang nicht nach sich selbst.

»Kerah«, drängte Chainsaw vom Schlafzimmer aus.

Ronan riskierte es. »Declan? Matthew?«

»Ronan! Wir sind hier oben!« Das war Matthew. Sämtliche Gefühle, die Ronan in den letzten Minuten nicht empfunden hatte, stürzten jäh auf ihn ein. Kurz musste er sich neben den Beagle-Socken auf den Boden kauern, die Finger in Declans Teppich gekrallt, der für gewöhnlich makellos sauber, jetzt jedoch mit getrockneten Farbspritzern verkrustet war. Oh, Gott, oh, Gott, oh, Gott . Es war Dankesgebet und Flehen zugleich.

»Hast du diese verdammten Monster geschickt?«, rief Declan.

Ja. Er hatte diese verdammten Monster geschickt.

Der Nebel in seinem Kopf verzog sich. Ronan richtete sich auf und ging weiter Richtung Schlafzimmer.

Überall Sonnenhunde. Die Allgegenwärtigkeit der Kreaturen ergab keinerlei Sinn, wenn man sie als Hunderudel betrachtete, als Rauchwolke dagegen schon. Sie waren wie ein Gas, das sich auf die Größe seines Behälters ausdehnte. Vor Ronan stoben sie auseinander, die glühenden Fänge aufgerissen, während er Raum für Raum inspizierte.

»Wo seid ihr denn?«

»Hier oben«, antwortete Declan säuerlich.

Ronan hob den Blick. Die Dachbodenluke. »Warum kommt ihr denn nicht runter?«

»Weil deine Monster uns auch allemachen wollen«, ertönte nun wieder Matthews Stimme, der jedoch äußerst vergnügt dabei klang.

Die Luke öffnete sich einen Spalt. Beinahe in derselben Sekunde rotteten sich sämtliche Sonnenhunde zu Ronans Füßen zusammen, stapelten sich aufeinander, versuchten, nach oben zu gelangen. Für die kurze Zeit schafften sie es beachtlich weit.

»Nee, nee, nee, nichts da«, sagte Ronan. »Sitz!«

Doch die Sonnenhunde gehorchten nicht.

»Ronan«, sagte Declan, milde warnend.

»Moment noch.« Ronan suchte fieberhaft nach einer Lösung.

Stille ihre Gier mit Wasser, fielen ihm Lindenmeres Worte wieder ein. Er machte sich auf die Suche, bis er Matthews Sport-Trinkflasche unter dem Bett entdeckte. Natürlich würde das Wasser niemals reichen, um alle Hunde zu erwischen, aber einen Versuch war es wert.

Doch zu seiner Überraschung kam es vollkommen anders.

Er schraubte die Flasche auf.

Und sofort strömten die Sonnenhunde hinein.

Im einen Moment war der Raum noch voll von ihnen gewesen, der Boden kaum zu erkennen unter ihren verschwommenen, sich windenden Leibern. Und im nächsten verfärbte sich das Wasser in der Flasche dunkel, sprudelte kurz auf und wurde wieder klar. Alles, was darauf hinwies, dass die Sonnenhunde jemals existiert hatten, war eine zarte dunkle Schliere, die sich nicht vollständig auflöste, wie Öl in Wasser.

Ronan schraubte die Flasche zu. »Alles gut. Alles gut, Hennessy, Entwarnung!«

Die Dachbodenluke spuckte seine Brüder aus, erst Matthew, dann Declan, gefolgt von Jordan.

Jordan rannte durchs Zimmer und riss Hennessy so stürmisch an sich, dass diese das Gleichgewicht verlor und sich am Türrahmen festhalten musste.

»Ich dachte, du wärst tot«, sagte Hennessy tonlos.

»Die anderen sind tot«, flüsterte Jordan. »Alle.«

Matthew ging zu Ronan, um wie früher als Kind den Kopf an seiner Schulter zu vergraben, und Ronan zog ihn fest an sich.

»Tut mir leid, dass ich dich angelogen hab«, sagte er zu Matthew. Declan und Ronan wechselten über Matthews goldene Locken hinweg einen Blick. Und Ronan las in den Augen seines Bruders, was das zerstörte Haus ihn bereits hatte ahnen lassen: Es war schlimm gewesen.

»Ohne deine Monster wären wir jetzt tot«, sagte Declan. »Sind sie …«

Ronan schüttelte die Wasserflasche. »Sie sind hier drin.« Er hielt Matthew die Flasche hin, der sich daraufhin von ihm löste und aufs Bett setzte, um die Flüssigkeit zu studieren. »Na bitte, und du behauptest immer, ich würde dir nie was Schönes mitbringen.«

Declan schnappte Matthew die Flasche weg. »Da kannst du auch gleich einem Kleinkind eine Pistole in die Hand drücken. Weißt du, wozu diese Biester in der Lage sind? Hast du dir davon vielleicht mal ein Bild gemacht, bevor du sie losgeschickt hast?«

Ronan schüttelte den Kopf.

Declan reichte ihm mit einem vielsagenden Blick die Flasche. »Dann bewahr die besser ganz oben im Regal auf. Und guck auf die andere Seite vom Bett.«

Ein kurzer Erkundungsgang offenbarte einen menschlichen Arm nebst einer größeren Menge Blut, von der Ronan vermutete, dass sie sich zuvor in dem Arm befunden hatte. Er warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass weder Matthew noch Declan einer fehlte. Es schien ihm nicht so. Einen Moment lang lauschte er in sich hinein, suchte nach Anzeichen von Reue und fand keine. Dann nach Anzeichen von Furcht, aber alles, was er fand, war unbändige Wut.

»Wir müssen reden«, verfügte Declan und riss seine Aufmerksamkeit mit sichtlicher Mühe von Jordan und Hennessy los. »Die kommen nämlich mit Sicherheit wieder.«