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D ie Visionäre wollten immer aussteigen, wenn sie einmal einen Zugriff miterlebt hatten. Daran hatte Lock sich mittlerweile gewöhnt. Anfangs waren sie noch Feuer und Flamme, aber wenn sie dann sahen, wie so etwas ablief, bekamen sie kalte Füße. Eine Zeit lang hatte Lock geglaubt, man müsse sie einfach so gut wie möglich davon abschirmen, bis ihm klar geworden war, dass auch das nicht half. Früher oder später sahen sie es ohnehin in ihren Visionen, daher würde der Moment der Wahrheit unweigerlich kommen.

Liliana bildete da keine Ausnahme. Lock war im selben Hotel abgestiegen wie Farooq-Lane und Ramsay, und als er die neue Visionärin zum ersten Mal zusammen mit Carmen in der Lobby sah, wusste er sofort, dass sie alles andere als hart im Nehmen war. Sie wirkte eher wie eine von diesen gefühlsduseligen Ökotanten. Leute, die aussahen wie sie, wollten in erster Linie die Welt verbessern, und Leute, die aussahen wie sie, verstanden nur selten, inwieweit es die Welt verbesserte, wenn man ein paar junge Frauen über den Haufen schoss.

Daher wusste er, noch bevor sie sich auf den Weg machten, dass er später jede Menge Überzeugungsarbeit würde leisten müssen.

Und als sie dann zurückkamen, wusste er, dass er sich dabei ordentlich ins Zeug legen musste, denn ihre Visionen waren schlichtweg Gold wert.

Zugegeben, das Ganze war ein verdammtes Desaster gewesen. Bellos hatte jetzt einen Arm weniger, Ramsay eine Kugel in denselben Arm kassiert, in den ihm vor noch nicht allzu langer Zeit ein Kruzifix gerammt worden war. Anscheinend war das einfach sein Pecharm, aber wenigstens hatte er ihn noch. Nikolenko wiederum hatte eine Bisswunde – jawohl, eine verschissene Bisswunde  – am Hals. Außerdem hatten sie nicht alle Träume erwischt und es ließ sich unmöglich sagen, ob eins der Mädchen die originale Jordan Hennessy gewesen war. Ronan Lynch dagegen blieb unauffindbar.

Aber das war nicht Lilianas Schuld. Ihre Vision war geradezu spektakulär gewesen. Saubere, detaillierte, absolut exakte Informationen über zwei Zeds an zwei völlig verschiedenen Orten. Auf so eine Visionärin hatten sie die ganze Zeit gewartet. Etwas Derartiges war ihm noch nie untergekommen.

Gut möglich, dass sie diese Sache tatsächlich bald in den Griff bekamen, und bei dieser Sache handelte es sich um nichts weniger als das Ende der Welt.

Wurde auch Zeit. Er hatte seinen Hund seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.

Nicht viele Leute würden Locks Job als Traumberuf bezeichnen. Ein mehr oder weniger geheimes Einsatzkommando zu leiten brachte einem nicht sonderlich viel Ruhm ein und die Bezahlung war auch schlechter als im Privatsektor. Aber auf so was war Lock ohnehin nicht aus, wichtiger war es ihm, etwas Sinnvolles zu tun und nach und nach eine Pyramide von Menschen aufzubauen, die darauf vertrauten, dass er an ihrer Spitze seinen Job gut machte. Er wiederum vertraute darauf, dass er – vorausgesetzt, es gelang ihnen tatsächlich, die Welt zu retten – eines Tages reich dafür entlohnt wurde.

Lock marschierte quer durch die Hotelbar zu Farooq-Lane. »Wie geht’s ihr?«

»Sie will hinschmeißen«, fauchte Farooq-Lane. Lock hatte sie noch nie so wütend erlebt. Das Ganze wirkte ebenso unschicklich wie die Trauer, nachdem ihr Bruder erschossen worden war. Am liebsten hätte er sie gebeten, ihr Gesicht zu bedecken, bis sie sich wieder im Griff hatte. »Und jetzt raten Sie mal, wem wir das zu verdanken haben. Vielleicht sollten Sie Ramsay einen Maulkorb verpassen oder ihn am besten direkt einschläfern lassen.«

»Glauben Sie, Ramsay auszuwechseln würde reichen, damit sie ihre Meinung ändert?«

»Ich weiß nicht mal, ob das reichen würde, damit ich meine Meinung ändere«, entgegnete Farooq-Lane.

Lock warf ihr einen Blick zu. Er sagte nichts, das überließ er ganz seinem Blick. Und sein Blick sagte: Darüber haben wir doch geredet. Sein Blick sagte: Vergessen Sie nicht, dass Sie uns nie beweisen konnten, dass Sie nichts von dem ganzen Scheiß mit Ihrem Bruder gewusst haben. Sein Blick sagte: Vergessen Sie nicht, dass wir immer noch Ermittlungen einleiten können, um rauszufinden, ob Sie seine Komplizin waren. Und so was kann sich hinziehen und ganz schöne Wellen in der Öffentlichkeit schlagen. Sehr unangenehm. Sein Blick sagte: Sie machen gefälligst so weiter wie bisher. Sein Blick sagte: Wie sähe das denn auch aus, wenn Sie uns nicht helfen würden, die Welt zu retten?

Sein Blick zwang Farooq-Lane zum Wegsehen. »Ich glaube nicht, dass es reicht«, sagte sie.

»In welchem Zimmer wohnt sie?«, fragte Lock.

»Nummer zweihundertfünfzehn«, antwortete Farooq-Lane. »Noch.«

»Schlafen Sie sich aus, Carmen«, sagte er. »Wir brauchen Ihr wundervolles Gehirn voll funktionstüchtig. Sie haben gute Arbeit geleistet diese Woche.«

Er nahm den Aufzug in den ersten Stock. Liliana war in einer Suite ganz am Ende des Flurs untergebracht, aber Lock wusste, dass sie dennoch die Bewohner mindestens zehn weiterer Zimmer in den Tod reißen würde, wenn sie es nicht schaffte, ihre Visionen nach innen zu kehren. Mein Gott, er konnte sich kaum ausmalen, wie präzise ihr Input sein könnte, wenn sie erst lernte, den Fokus richtig zu lenken. Dann wäre diese Mission erfüllt, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Die Zeds hätten nicht den Hauch einer Chance.

Lock klopfte an Lilianas Zimmertür. Drei fordernde Schläge: Machen. Sie. Auf.

Sie gehorchte.

»Darf ich reinkommen?«, fragte er.

Ihre Nase und Augen waren gerötet vom Weinen. Sie nickte.

Er setzte sich ans eine Ende des Sofas und klopfte auf die Sitzfläche, um ihr zu bedeuten, dass sie das Gegengewicht am anderen Ende bilden sollte. Sie gehorchte.

»Wie ich höre, haben Sie die heutigen Ereignisse als ziemlich verstörend empfunden«, begann er, »und das vollkommen zu Recht.« Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es selten etwas brachte, um den heißen Brei herumzureden. Wozu sich solche Mühe machen, nur um etwas Widerwärtiges in etwas geringfügig weniger Widerwärtiges zu verwandeln? Es hatte sich ohnehin längst in ihrer aller Gehirne eingebrannt. »Ich muss Ihnen wohl nicht erklären, was unsere Beweggründe für das alles sind, die sehen Sie schließlich selbst am klarsten von uns. Es ist keine schöne Aufgabe, und ohne Ihre Hilfe wären wir dabei komplett aufgeschmissen.« Man musste ihnen in Erinnerung rufen, warum sie sich den Regulatoren ursprünglich angeschlossen hatten. »Ich hätte natürlich vollstes Verständnis, wenn Sie uns trotzdem verlassen wollen. In dem Fall würde ich Sie jedoch bitten, uns vorher noch bei der Suche nach einem neuen Visionär zu helfen.« Es war wichtig, ihnen vor Augen zu führen, dass sie nicht in der Falle saßen, denn Kreaturen, die das Gefühl hatten, in der Falle zu sitzen, neigten zu überstürzten Reaktionen. Daher empfahl sich ein diskreter Hinweis darauf, dass die Tür zwar weit offen stand, es jedoch alles andere als kameradschaftlich wäre, sich in dieser Situation einfach zu verpieseln. »Wenn Sie sich aber dazu entschließen, bei uns zu bleiben, verspreche ich Ihnen, dass Ihre Mühe sich bezahlt machen wird.«

Die Hauptsache aber war es, gleich beim ersten Gespräch mit einem neuen Visionär dahinterzukommen, wonach er sich am allermeisten auf der Welt sehnte, und zu entscheiden, ob man es ihm beschaffen konnte. Die meisten Menschen wünschten sich naheliegende Dinge. Gold, guns, girls, oder wie hieß das noch gleich in diesem Song?

Lock musterte die rothaarige junge Frau, las ihre Körpersprache und wagte einen Versuch: »Ich dachte mir, wenn Sie bei uns bleiben, könnten wir Sie vielleicht in einem kleinen Cottage außerhalb der Stadt unterbringen. Dorthin könnten Sie nach jeder Mission zurückkehren, damit Sie sich ein bisschen mehr wie zu Hause fühlen. Und selbstverständlich würden wir Ihnen einen unserer Mitarbeiter zur Seite stellen, der Sie mit allem versorgt, was Sie brauchen.«

Diese Visionärin sehnte sich nach Stabilität, schätzte er. Nach einem Ort, an dem sie sich keine Sorgen darüber machen musste, unschuldige Menschen in Stücke zu reißen. Einem Ort, an dem sie nicht Abend für Abend ihre Zahnbürste zurück in den Koffer packen musste. Sie schien nicht mal einen Koffer zu besitzen. Vielleicht war auch das etwas, worauf sie anspringen würde, aber das würde er sich für später aufsparen.

Liliana schlug die Wimpern nieder; sie waren genauso rot wie ihre Haare. Sie war wirklich wunderschön, allerdings auf so extreme Weise, dass es etwas mit ihrem Dasein als Visionärin zu tun haben musste. Alle Visionäre hatten irgendeine Eigenheit, die die Grenzen der Realität ein klein wenig zu dehnen schien, und das hier war dann wohl ihre.

Sie überlegte.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Und dann traf sie eine Entscheidung. »Kann Farooq-Lane bei mir bleiben?«