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G reat Falls bei Nacht war Furcht einflößend. Man hörte keine plaudernden Touristen, keine Autos, keine Vögel. Nur das Rauschen der gewaltigen Wassermassen, die von West Virginia aus Richtung Atlantik tosten, unterstützt durch das Flüstern der Bäume.

Es war kalt, endlich kalt, wie es sich für November gehörte. Sie ließen das Auto auf einem Parkplatz mehr als eine Meile von den Wasserfällen entfernt stehen und gingen zu Fuß weiter. Der Nationalpark war von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang geschlossen und genauso hatten sie ihn haben wollen. Leer. Unberührt.

Zum Träumen wäre es besser gewesen, näher an der Ley-Linie zu sein, aber dazu hatten sie keine Zeit, das war Ronan und Hennessy klar. Und Great Falls war nun mal die beste alternative Energiequelle in erreichbarer Nähe.

Derweil rasten die anderen beiden Lynch-Brüder Richtung Schober. Zuerst hatten Ronan und Matthew einander umarmt, dann hatten Ronan und Declan einander angestarrt. Ronan hatte die Schuhspitze in den Boden gerammt, als wäre er sauer darauf. Declan hatte gesagt: Wir sehen uns in den Schobern.

Schließlich hatten Jordan und Hennessy sich voneinander verabschiedet. Vielleicht würden sie sich nie wiedersehen, nie wieder ins Gesicht der anderen blicken, das ihrem eigenen so ähnlich war und doch wieder nicht. Jordan, stets bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen, und Hennessy, die wusste, dass sie irgendwann an der Welt zugrunde gehen würde. Die eine Hennessy, die nie das Gespinst gesehen hatte – und die andere.

»Tu nichts, was ich nicht auch tun würde«, hatte Hennessy gesagt. Ein Scherz.

»Schreib mir mal ’ne Karte«, hatte Jordan gesagt. Auch ein Scherz.

Dann hatten sie sich umarmt, fest.

Hennessy wollte nicht, dass Jordan für immer schlief.

Und jetzt waren Ronan und sie in Great Falls. Sie lagen mitten auf dem Aussichtsdeck von Overlook 1 und starrten zu den schwarzen Blättern vor dem schwarzen Himmel hoch. Der Anblick erinnerte Hennessy unangenehm an das Gespinst. Das Wasser klang unfassbar nah, als rauschte der Fluss nur Zentimeter unter der hölzernen Plattform dahin.

Sie war müde, einfach weil sie immer müde war, und trotzdem hatte sie keine Ahnung, wie sie jetzt schlafen sollte in dem Wissen, dass sie womöglich nie wieder aufwachen würde.

Nach ein paar Minuten fragte sie: »Was meinst du, wie ist er so?«

»Bryde? Keine Ahnung.«

»Wie wünschst du ihn dir denn?«

»Besser als mich«, sagte Ronan.

»Besser worin?«

»Im Träumen. Am Leben bleiben. Wissen, was man gegen das Nachtschwarz unternehmen kann. Wissen, was wir mit Matthew machen sollen. Wissen, was es mit diesem Killerkommando auf sich hat. Wie wünschst du ihn dir denn?«

Hennessy wünschte sich, dass Bryde ihr sagte, was sie tun konnte, um nicht zu sterben. Sie wünschte sich, dass er ihr sagte, was sie tun konnte, um Jordan zu retten. Damit Jordan sich nicht immer auf Hennessy verlassen musste, die einfach kein bisschen verlässlich war. Sie wünschte sich, dass Jordan das Leben führen konnte, das sie verdiente.

»Umwerfend sexy«, antwortete Hennessy.

Sie lachten beide und es hallte donnernd durch die Nacht; alle Geräusche wirkten wie künstlich verstärkt.

Ein helles Rechteck leuchtete auf, als Ronan sein Handy einschaltete. Er hoffte auf eine Antwort auf seine letzte Nachricht an die GESCHÄFTSFÜHRUNG . Hennessy erhaschte einen Blick auf einen ganzen Roman, den Ronan über Bryde geschrieben hatte, und darunter, ebenfalls von Ronan verschickt, ein einzelnes Wort: Tamquam. Letzteres war ungelesen.

Er steckte das Handy wieder weg.

Hennessy ahnte, dass er gern eine Antwort gehabt hätte, bevor sie diese Sache in Angriff nahmen.

»Okay. Okay«, sagte Ronan. »Du musst als Erste einschlafen, weil ich weiß, wie ich dich in der Traumwelt finden kann. Aber das heißt, sobald du schläfst, musst du irgendwas erschaffen, das dir das Gespinst vom Leib hält. Sofort. Du darfst nicht aus dem Traum geschmissen werden, bevor ich da bin und Bryde rufen kann. Sonst stirbst du und das war’s dann.«

Hennessy antwortete nicht.

»In Lindenmere hast du es schließlich auch hingekriegt. Du hast gesehen, wie ich es gemacht habe.«

Ja, das hatte sie. Nicht bloß bei den kleinen Lichtpunkten, sondern auch den Sonnenhunden. Und das Unglaublichste an dem Ganzen waren nicht mal die Sonnenhunde selbst gewesen. Sondern der Moment, in dem Ronan zu dieser grenzenlosen Traumwelt, die ihn in- und auswendig kannte, gesagt hatte: Ich vertraue dir . Die Erkenntnis, dass ausgerechnet eine verkorkste Seele wie Ronan Lynch seinem Unterbewusstsein bedingungslos vertraute.

Konnte sie das auch?

»Ich erschaffe auch irgendwas«, versicherte ihr Ronan jetzt. »Sobald ich dich sehe.«

Sie hatte solche Angst.

»Hennessy?«, fragte Ronan und seine Stimme klang plötzlich verändert.

»Lynch.«

»Ich war echt lange allein«, sagte er.

Ein Teil von ihr wollte widersprechen, dass das nicht stimmte. Ronan hatte seine Brüder, seinen Freund, seine Freunde, die ihn mitten in der Nacht anriefen, um ihn mit Informationen zu versorgen.

Der weitaus größere Teil von ihr aber verstand, was er meinte, weil sie selbst so lange allein gewesen war. Und letzten Endes konnte einfach niemand sonst nachvollziehen, was für ein Gefühl es war, mit dieser unerschöpflichen Flut von Möglichkeiten im Kopf zu leben.

Hennessy war hierhergekommen, weil sie nicht wollte, dass Jordan für immer schlafen musste, wenn das Gespinst sie tötete.

Aber jetzt war ihr noch etwas klar geworden: Sie wollte auch nicht sterben.

Sie streckte die Hand aus und ließ sie suchend über die Holzplanken zwischen ihnen gleiten, bis sie die Lederbänder an seinem Arm ertastete. Sie ergriff seine Hand. Und er drückte zurück, fest.