Washington, Juli 2022
I have a dream …
Beckys Abschiedsworte, dass sie ihren Traum nicht aufgeben sollte, spukten auf der Heimfahrt in Emmas Kopf herum und erinnerten sie an Martin Luther King. An seinen Mut und wie unerreichbar fern sein Traum von Freiheit und gleichen Rechten für Schwarze und Weiße in der damaligen Zeit erschienen war. Dagegen erforderte das, was sie vorhatte, lächerlich wenig Mut! Die Metro ratterte in die nächste Station ein, und Emmas Blick wanderte zur Anzeige, um nicht versehentlich die richtige Haltestelle zu verpassen. Aber ihre Sorge war unbegründet, noch zwei Stationen lagen vor ihr. Mit einer festen Umarmung hatten sie sich vor dem spanischen Lokal voneinander verabschiedet, es war bereits Nacht gewesen, und die Straßenlaternen verströmten ein milchig weißes Licht, das in den bunten Neonreklamen der Geschäfte unterging. Während sie nun zurück zu Michaels Wohnung fuhr und verstohlen ihre Mitreisenden auf den speckigen roten Kunstledersitzen musterte, fragte sie sich zum wiederholten Mal an diesem Abend, wie es sein konnte, dass man in dem Heuhaufen einer Großstadt wie Washington zufällig auf einen Menschen traf, mit dem man so viel gemeinsam hatte. Es war schon seltsam, wie das Schicksal manchmal seine Fäden spann. Hätte sie das Challenger Memorial auch besucht, wenn sie nicht mit Michael gestritten und er Judith Resnik erwähnt hätte? Vermutlich nicht. Und Becky hatte ihr verraten, dass sie vor ihrer Reise von Judy geträumt und sie am Klavier sitzen sehen hatte. Ein Schauer lief Emma über den Rücken. Sie war Wissenschaftlerin und ganz gewiss niemand, der an übernatürliche Phänomene glaubte. Aber faszinierend war es schon, dass ihrer beider Zuneigung für die verstorbene Astronautin sie letzten Endes in Arlington auf dem Friedhof zusammengeführt hatte.
Ein Blick auf die Uhr verriet Emma, dass es nach zehn war. Seit dem Friedhofsbesuch lag ihr Handy stummgeschaltet in der Handtasche, die Zeit war viel zu schnell verflogen. Sie zog es raus. Michael hatte mehrmals versucht, sie anzurufen, aber was sie ihm zu sagen hatte, klärte sie lieber in einem persönlichen Gespräch. Nachdem Becky und sie Telefonnummern ausgetauscht hatten, musste sie ihr versprechen, zumindest kurz von sich hören zu lassen, wie ihr Streit ausging.
»Falls er sich weiterhin wie ein Idiot benimmt und nicht zu schätzen weiß, was er an dir hat, komm doch einfach für die Zeit deines Urlaubs zu mir nach Hawaii«, hatte Becky vergnügt vorgeschlagen. Emma hatte sich daraufhin an ihrem Wein verschluckt und gehustet, weshalb sie einlenkte: »Entschuldige, wahrscheinlich kannst du dir Schöneres vorstellen, als deine freie Zeit mit einer alten Schachtel wie mir zu verbringen …«
»Aber nein!« Emma hatte rasch einen Schluck Wasser gegen ein erneutes Kitzeln im Hals getrunken. »Das denke ich überhaupt nicht. Es kam nur so unerwartet und ist total großzügig von dir. Hawaii … ich meine, wow, das wäre schon ein Traum, aber …« Sie brach verlegen ab.
»Aber du hoffst natürlich immer noch, dass du dich mit deinem Freund versöhnst, ist doch klar. Ich wünsch dir, nein, euch beiden alles Gute und drücke dir die Daumen.«
Ein Rascheln ließ Emma von der dunklen Fensterscheibe der Metro aufblicken. Ihr gegenüber saß ein Anzugträger mittleren Alters, Kopf und Oberkörper fast völlig von der aufgeschlagenen ›Washington Post‹ verschluckt. Eben ließ er die Zeitung sinken, und der Anblick seines blauen Mund-Nasen-Schutzes erinnerte Emma an die Anzeige eines Schweizer Schmuckherstellers im Flugzeugmagazin, der aus den Masken mit hohem Druck unter enormer Hitze blaue Diamanten schuf und zu Schmuck verarbeitete. Emma sah sich um. Die meisten trugen inzwischen keine Masken mehr. Während ihr Gegenüber den bereits gelesenen Zeitungsteil faltete und neben sich auf den freien Platz legte, sprang ihr plötzlich eine Schlagzeile förmlich ins Auge:
Russland verkündet den Rückzug von der Internationalen Raumstation (ISS) nach 2024 und strebt den Bau einer eigenen Raumstation an.
Das war ja ein Ding! Dabei waren die internationale Zusammenarbeit, das Ziehen an einem Strang, um die drängenden Probleme unseres Planeten zu lösen, gerade das, worauf sie sich bei einer möglichen Tätigkeit als Astronautin freute. Verstohlen machte sie ein Foto von der Zeitungsseite und schickte das Bild an Becky. Ihr Posteingang zeigte unzählige ungelesene Nachrichten von Michael und eine ihrer Mutter.
»Hast du das schon gesehen?«, schrieb sie hastig an Becky, ohne die Nachrichten zu beachten, denn in diesem Augenblick fuhr die Metro an ihrer Haltestelle ein.
Michaels Wohnung befand sich in einem dieser modernen Mietshäuser mit Nachtportier hinter einer wuchtigen Theke. Emma musste sich erst ausweisen, bevor sie zum Fahrstuhl gehen konnte. Während sie nach oben fuhr, kramte sie in ihrer Handtasche nach der Schlüsselkarte, die er für sie an der Garderobe gelassen hatte. Es war doch immer dasselbe, dachte sie verärgert. Entweder die Taschen waren so klein, dass man kaum was reinbekam, oder so groß und mit vielen Fächern versehen, dass man niemals das fand, wonach man gerade suchte. Ein heller Ton machte sie darauf aufmerksam, dass sie das Stockwerk erreicht hatte. Emma trat auf den Flur, während sie weiter ihre Tasche durchsuchte, und erstarrte. Mit einem erschrockenen Aufkeuchen zog sie zusammen mit der gesuchten Schlüsselkarte eine Blisterpackung aus den Tiefen des Fachs hervor, und ihr Magen zog sich zusammen. Heilige Scheiße! Sie hatte seit ihrem Abflug von Deutschland vergessen, die Pille einzunehmen! Nein, schlimmer noch! Sie nahm die Pille sonst immer morgens zum Frühstück ein und hatte sie scheinbar im Abreisetrubel bereits am Abflugtag vergessen. Fassungslos starrte sie auf die noch fast volle Packung, in der nur sechs Tabletten fehlten. Emma zwang sich zur Ruhe, atmete tief durch und ging erst einmal den Flur hinunter.
In Michaels Wohnung war es stockdunkel, niemand antwortete auf ihr Rufen, aber schließlich fand sie einen Zettel auf der Bartheke. Er hatte die Worte hastig hingeschmiert, war entweder in großer Eile gewesen oder sehr wütend. Emma tippte auf beides.
Wo zur Hölle steckst du? Geh an dein Handy!
Seufzend ließ sie sich auf den Barhocker sinken und überprüfte ihre Nachrichten. Mehrmals hatte er sie aufgefordert, zurückzurufen. Die letzte hatte er ihr vor gut einer Stunde geschrieben: Bis morgen!
Okay. Was sollte das denn jetzt heißen? Doch damit musste sie sich später beschäftigen. Sie öffnete den Browser und gab ein: Pille vergessen, erste Woche.
Das Suchergebnis war niederschmetternd.
Das Vergessen der Pille in der ersten Woche ist am »gefährlichsten«.
Na, großartig! Vielleicht sollte sie einen Screenshot für ihre Mutter machen, wenn sie ihr wieder einmal mit dem ewigen Thema »hochbegabt« kam. Emma schloss die Augen. Wie konnte sie nur so nachlässig sein? Dann las sie den Artikel aufmerksam durch, stand auf, schenkte sich ein Glas Wasser ein und nahm zwei Pillen auf einmal. Selbst wenn sie die »Pille danach« hier in irgendeinem Drugstore auftreiben würde, das leichte Ziehen in ihrem Unterleib verriet ihr, dass ihr Eisprung bevorstand oder schon stattgefunden hatte. Unter diesen Umständen würde diese Pille angeblich nicht mehr wirken. Es blieb ihr also überhaupt nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu hoffen, dass die vergangene Nacht mit Michael keine Konsequenzen haben würde. Mach dich nicht verrückt! Aber das mulmige Gefühl blieb wie ein dumpfer Kopfschmerz und mischte sich mit dem zunehmenden Ärger auf ihn, sobald sie all seine Mitteilungen am Handy las.
Nicht ein einziges Mal zeigte er sich besorgt über ihr Schweigen. Sie hätte schließlich auch einen Unfall haben und irgendwo in einem Krankenhaus liegen können. Aber für ihren Freund war es offensichtlich, dass sie sich nur nicht bei ihm zurückmeldete, um ihn zu verärgern. Und die Wut darüber sprühte Funken aus jedem seiner Worte.
Emma zermarterte sich das Hirn, wann es angefangen hatte, dass sich alles nur um ihn drehte. War er schon immer so gewesen und sie nur blind vor Liebe, dass sie das nicht erkannte? Und war er jetzt zu seiner Kollegin Whitney gegangen? Wo sonst sollte er die Nacht über stecken? Oder arbeitete er durch? Die Emma, die immer noch auf eine Versöhnung hoffte und den zärtlichen gemeinsamen Stunden nachtrauerte, all den schönen Momenten, die sie miteinander verbracht hatten, wollte daran glauben. Aber ihre innere Stimme riet ihr, nicht so naiv zu sein. Emma scrollte zum nächsten Kontakt und überflog die Nachricht ihrer Mutter, schrieb ihr kurz, dass sie einen tollen ersten Tag in Washington gehabt habe, todmüde sei und demnächst mehr erzählen würde. Wenig später im Bett starrte sie ins Dunkel und lauschte den fremden Geräuschen in der Wohnung. Sie fühlte sich nur noch elend.
Michael erschien erst um kurz nach elf am Samstagmorgen, roch nach Kaffee und frischem Gebäck, hatte also bereits auswärts gefrühstückt. Er sah blendend aus, nicht die Spur eines Mannes, der die Nacht durchgearbeitet hatte oder sich um seine verschwundene Freundin sorgte. Als er die Wohnung aufsperrte, pfiff er sogar fröhlich ein Lied. Sobald er Emma auf der Couch sitzen sah, brach er ab und seine Miene verdüsterte sich.
»Auch schon da?«, fragte er. »Dann können wir ja endlich reden.«
Emma fühlte, wie sich alles in ihr zusammenzog und eine unheimliche Kälte sich bis in die Fingerspitzen ausbreitete. Sein Verhalten machte es ihr leicht. Sie ließ sich nicht dazu herab, ihm eine Szene zu machen und ihn zu fragen, wo er über Nacht geblieben war. Michael setzte sich ihr gegenüber breitbeinig in den Sessel und verschränkte die Hände ineinander.
»Und? Wie hast du dich entschieden?«
Seine siegessichere Miene vertrieb die innere Kälte und brachte etwas in ihr zum Brodeln. Einen Moment lang überlegte Emma, ob sie nicht einfach wortlos aufstehen und gehen sollte. Sie war die halbe Nacht wach gelegen, hatte es vielleicht auf vier Stunden Schlaf gebracht und ihren Koffer seit Sonnenaufgang fertig gepackt. Aber dann dachte sie daran, dass dies vermutlich ihr letztes Gespräch sein würde, und er sollte nach all den gemeinsamen Jahren den Grund erfahren, warum sie sich gegen ihn entschieden hatte.
»Ich habe in den vergangenen Monaten hart dafür gearbeitet, einen Traum zu verwirklichen, den ich bereits als Kind hatte«, begann sie ruhig. Er schnaubte verächtlich, wollte etwas erwidern, aber sie hob die Hand, und ihr fester Blick ließ ihn überrascht innehalten, obwohl er sonst im Streit dazu neigte, sie sofort zu unterbrechen. »Diesen Traum werde ich weder für dich noch für irgendeinen anderen Menschen aufgeben. Auch wenn es dir schwerfällt – die Welt dreht sich nicht nur um dich, Michael. Aber mir ist gestern bewusst geworden, dass du unsere Beziehung genau so siehst. Es interessiert dich nicht, was ich empfinde, ob ich mir vielleicht übermüdet vom Flug gewünscht hätte, nach mehr als einem halben Jahr Trennung einen zärtlichen Abend zu zweit mit dir zu verbringen statt mit deiner angriffslustigen Kollegin, die Fick mich, Michael! auf der Stirn stehen hat.« Der Mund klappte ihm vor Überraschung über ihre ungewohnt vulgäre Wortwahl auf, die im Kontrast zu ihrer ruhigen Stimme stand. »Du bist weder stolz auf meine Arbeit noch meine Erfolge, versuchst mich im Gegenteil immer vor anderen klein zu halten, um nur ja nicht von deinem eigenen Licht abzulenken. Aber weißt du was? Ich bin kein Trabant in deinem Sonnensystem, unfähig, etwas anderes zu tun, als um dich zu kreisen.«
»Jetzt reicht’s aber, Emma! Du übertreibst maßlos! Und was Whitney anbelangt, …«
»Hier geht es gar nicht um Whitney. Im Gegenteil. Mir ist heute Nacht plötzlich klar geworden, dass es mir vollkommen gleichgültig ist, ob du mich mit ihr betrügst oder nicht. Das sollte in einer guten Beziehung einfach nicht sein. Ich habe aufgehört, dich zu lieben, verstehst du das?«
Er starrte sie an, Unglauben im Blick. Die Stille fraß begierig die Sekunden zwischen ihnen, bis Michael sich räusperte und im Sessel vorbeugte. »Also gut, wenn dir das mit diesen Auswahltests so wahnsinnig wichtig ist, dann geh halt hin. Wahrscheinlich wirst du sowieso nicht genommen, und dieser ganze Streit hier war vollkommen unnötig.«
Emma glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Sie erhob sich, und er sprang ebenfalls auf, wollte einen Schritt auf sie zugehen, aber sie wich ihm aus. »Ich würde auch dann nicht mehr mit dir zusammenbleiben, wenn du nichts dagegen hättest, dass ich Astronautin werde«, erwiderte sie kühl, umklammerte den Griff ihres Koffers, der neben der Couch stand, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie ging zur Tür, und Michael eilte ihr nach.
»Spinnst du? Wohin willst du denn jetzt gehen? Emma! Mach keinen Scheiß, okay? Wir können doch noch einmal in Ruhe über alles reden.« Er folgte ihr hinaus auf den Korridor bis zum Aufzug, und sie wunderte sich über den verletzten Blick in seinen Augen. Er war es wirklich nicht gewohnt, auf Ablehnung zu stoßen, zumindest nicht bei ihr. Sie erwartete, er würde ihr nachrufen, dass sie es bestimmt bereuen würde, einen Mann wie ihn zu verlassen. Aber kurz bevor die Türen sich schlossen, sagte er nur mit einer ungewohnt flehenden Stimme:
»Ruf mich bitte an, sobald du dich beruhigt hast!«
Drückende Mittagshitze schlug Emma entgegen, als sie mit ihrem Koffer durch die Glastüren auf den Gehweg trat. Sie wollte nur noch so schnell wie möglich von hier weg. Es war zwar unwahrscheinlich, dass Michael oder einer seiner Arbeitskollegen ihr hier irgendwo über den Weg liefen, doch die Lust auf eine Besichtigung der Hauptstadt war ihr gründlich vergangen. Sollte sie Beckys Angebot wahrnehmen und zu ihr nach Hawaii fliegen? Aber erstens brauchte sie jetzt erst mal ein paar Tage, um sich zu sortieren, und zweitens war ihre neue Freundin noch hier in Washington. Sie würde mit ihrem Sohn, der scheinbar geschäftlich hier zu tun hatte, erst morgen zurückfliegen. Ein Taxi näherte sich. Intuitiv hob Emma die Hand, winkte es herbei und ließ sich zum Flughafen fahren. Wo könnte sie ihre neu gewonnene Freiheit besser feiern als in der Stadt, die zum Symbol für Generationen von Freiheitssuchenden wurde – in New York!
Zwei Tage später lehnte Emma an der orangeroten Reling eines Ausflugsschiffes, das sie von Ellis Island zur Freiheitsstatue brachte, und genoss die frische Brise, die ihr die langen Haare aus dem Gesicht wehte. Was für eine willkommene Abkühlung! Seit sie in New York angekommen war, herrschten Temperaturen über dreißig Grad, und es war schwül, weil es immer wieder zwischendrin regnete. Im Einwanderungsmuseum auf Ellis Island war die Klimaanlage wegen des Besucherandrangs zwar auf Hochtouren gelaufen, aber dicht gedrängt zwischen all den aus der sommerlichen Hitze kommenden Leibern war es trotzdem muffig und stickig gewesen. Wie mochte es da erst den Millionen von Einwanderern ergangen sein, für die die Insel das Vorzimmer Amerikas bedeutet hatte? Bis zu elftausend Menschen waren hier täglich angekommen und von Amtsärzten untersucht worden. Nur wer gesund, arbeitsfähig und -willig war, durfte bleiben. Auf den Schautafeln im Museum hatte Emma gelesen, dass die Diagnosezeit der Ärzte oft nur wenige Sekunden gedauert hatte, bis man einige Unglückliche mit einem L (lame) für die Humpelnden, einem H (heart) für Menschen, die nur schwer die Treppe hochkamen, oder einem E (eyes) für Augenkranke markiert hatte. Wer krank oder altersschwach war, erhielt eine Sonderuntersuchung. Viele wurden abgewiesen und mussten auf Ellis Island ausharren, bis ein Schiff sie wieder zurück nach Europa brachte. Was für eine Tortur! Emma wollte sich lieber nicht ausmalen, welche Dramen sich damals unter den Menschen abgespielt hatten.
Eine Möwe flog dicht an der Reling vorbei. Früher wurden auf Ellis Island Piraten erhängt, bevor sie zum ersten Stopp all der Müden, Armen und geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, geworden war – wie es so schön auf dem Sockel der Freiheitsstatue hieß, zu der sie jetzt fuhr. Sie bedauerte, die Statue heute selbst nicht betreten und die Stufen bis zur Krone hochgehen zu können, denn die Tickets dafür waren über Monate ausgebucht. Emma schmunzelte. Statt von geknechteten Massen auf der Suche nach Freiheit wurde New York nach zwei Jahren Corona-Travel-Ban von reiselustigen Touristen überrannt. Zumindest würde sie den Sockel der bronzenen Figur berühren, um sich für immer daran zu erinnern, dass Amerika auch ihr die Freiheit gebracht hatte. Nicht von Hunger, Not oder Unterdrückung. Sondern von einer Beziehung, die sie rückblickend, trotz aller wehmütigen Erinnerungen, toxisch nennen musste. Sie freute sich darauf, im Herbst zu ihrer letzten Auswahlrunde bei der ESA anzutreten, und fieberte den nächsten Wochen entgegen. Becky hatte ihre Einladung nachdrücklich wiederholt, und Emma würde in zwei Tagen nach Hawaii fliegen. Bisher hatte sie es nicht über sich gebracht, ihren Eltern von der Trennung von Michael zu erzählen. Das hatte Zeit, bis sie wieder daheim war.
Während sie sich der mit grüner Patina überzogenen Kupferstatue näherte, fiel ihr plötzlich der alte Briefumschlag aus New York ein, den sie in der Andenkenschachtel von Omi Viktória entdeckt hatte. Dem Poststempel zufolge hatte diese Marie Rosenberg ihn 1914 an ihre Urgroßmutter geschickt, die noch nicht verheiratet gewesen war, denn sie hatte ihn an Susanna Keller, ihren Mädchennamen, adressiert. War damals schon der Erste Weltkrieg ausgebrochen? Das Datum war beim Stempeldruck verwischt worden, nur die Jahreszahl hatte sie entziffern können. Hatte ihre Urgroßmutter der Freundin wegen des Kriegs nicht antworten können, und deshalb war ihr Brief nicht abgestempelt? Aber warum war darin nur das zehn Jahre alte Foto gesteckt, auf dem sie beide als Kinder zu sehen waren, nicht einmal ein paar kurze Zeilen der Erläuterung? Das Ganze war schon sehr rätselhaft. Vielleicht war der dazugehörige Brief auch verloren gegangen? Wenn sie und diese Marie tatsächlich an ihrem ersten Schultag fotografiert worden waren, mussten die Urgroßmutter und ihre Freundin etwa sieben gewesen sein. Das bedeutete aber, Marie war beim Absenden des Briefes aus New York erst siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Welchen Grund hatte sie gehabt, ihre Heimat zu verlassen? Emma stellte sich vor, wie die junge Frau bei der Ankunft, genau wie sie eben jetzt, an der Reling eines Schiffes gestanden und auf die Freiheitsstatue geblickt hatte. Wie fremd musste ihr diese Welt erschienen sein. Hatte Marie etwa auch zu den armen Passagieren der Zwischendecks gehört, die oft ein Jahresgehalt für eine Schiffspassage ausgaben und sich zu Hunderten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen sechs Wochen und mehr im Schiffsbauch aufhielten? Ein Schauder überlief sie bei der Vorstellung, und ihr Blick wanderte über das aufgewühlte, bis zur Reling hochspritzende Wasser zu der Freiheitsstatue. Wie musste die Freundin ihrer Urgroßmutter sich bei ihrem Anblick gefreut haben, endlich ihr Ziel erreicht zu haben!