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Maui, Juli 2022

Was für ein Idiot!

Nachdem Emma unfreiwillig das Telefonat zwischen Becky und Elias belauscht hatte, fragte sie sich verärgert, wie eine so warmherzige, weltoffene Frau einen solchen Griesgram zum Sohn haben konnte. Am liebsten hätte sie ihn stehen gelassen und sich ein Taxi genommen. Aber dann riss sie sich zusammen. Das konnte sie Becky nicht antun, wahrscheinlich traf sie ihren Sohn nicht allzu oft und freute sich schon riesig auf ein Wiedersehen und gemeinsames Abendessen.

Der Highway nach Hāna zog sich so unerträglich hin wie die angespannte Stille im Wagen, und Elias schien ebenso wenig Lust auf eine gezwungene Unterhaltung zu verspüren wie sie. Während sie ihn aus den Augenwinkeln immer wieder verstohlen musterte, fragte sie sich, was er wohl von Beruf war. Versicherungsvertreter, Polizist oder Anwalt wie sein Vater? Irgendwas jedenfalls, das sein Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen und die Angst um seine Mutter rechtfertigte. Nun, nach dem Dinner konnte Elias sie gerne in einem Hotel abladen und sich beruhigt auf den Heimweg machen, ohne befürchten zu müssen, sie würde Becky nachts ausrauben. Innerlich verdrehte Emma die Augen.

Und dann kam plötzlich alles anders.

Elias erzählte ihr, dass er an der Planung des neuen Thirty-Meter-Telescope auf Hawaii beteiligt war und der Bau wegen

»Hat meine Mom dir gar nicht erzählt, dass ich deswegen in Washington war?«, wunderte sich Elias.

»Nein.« Emma lächelte verlegen und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Wir haben über ihre Vergangenheit als Teacher-in-Space und das Challenger-Unglück gesprochen, und ich glaube, ich habe sie anschließend auch ganz schön mit meinen eigenen Berufsaussichten, Hoffnungen und Problemen zugetextet.«

»Kann ich mir gar nicht vorstellen. Sonst ist es immer Mom, die andere nicht zu Wort kommen lässt«, spottete er. »Darf ich dich was fragen?«

»Nur zu!«

»Wie bist du denn auf die Idee gekommen, nach Arlington zu fahren und das Challenger-Denkmal zu besuchen? War das so eine Art, ich weiß nicht, Bitte darum, dass es dir nicht wie ihnen ergeht, wenn du mal selbst ins All fliegst?«

Emma starrte ihn verblüfft an. »Wie kommst du denn darauf? Nein, so abergläubisch bin ich nicht. Es war mehr …« Sie zögerte einen Moment. Offenbar hatte Becky ihm nicht erzählt, dass sie sich von ihrem Freund getrennt hatte. Darüber wollte sie jetzt mit Elias auch nicht sprechen. Aber ihr wurde bewusst, wie eigenartig ihr Besuch auf dem Friedhof auf ihn gewirkt haben musste. Hatte er ihr deshalb misstraut?

Elias fasste ihr Zögern falsch auf und winkte ab. »Entschuldige, das war zu persönlich.«

»Alles gut. Ich habe nur eben überlegt, wie ich es am besten erkläre. Als ich angefangen habe, mich für das Weltall und die Raumfahrt zu interessieren, bin ich natürlich auf das Challenger-Unglück gestoßen. Ich war damals fünfzehn oder sechzehn.

»Spielst du richtig ambitioniert?«

Emma nickte und erhaschte im Vorbeifahren einen Blick auf einige grasende braun gefleckte Kühe umringt von Palmen und tropischen Pflanzen. Sie schmunzelte. Kühe verband sie sonst mit einem Voralpenpanorama. Die Straße verlief jetzt nicht mehr unmittelbar an der Küste, sondern im Landesinneren, und ein herrschaftliches Anwesen mit üppig blühenden Tropengewächsen wechselte sich mit dem anderen ab. Hier zu leben, musste wie ein Dauerbesuch in einem Botanischen Garten sein.

»Eine Zeit lang habe ich sogar überlegt, ob ich aufs Konservatorium gehen soll. Das wäre meiner Mutter wesentlich lieber gewesen.« Die Erinnerung fiel auf sie wie ein dunkler Schatten, den sie nie ganz abschütteln konnte. Solange sie denken konnte, hatte sie immer das Gefühl gehabt, es ihrer Mutter niemals recht machen zu können.

»Wenn es nach meinem Dad gegangen wäre, hätte ich Jura studiert«, erwiderte Elias und verzog den Mund.

»Skeptisch genug bist du ja schon mal«, platzte es aus Emma heraus, und sie hätte sich bei seinem verdutzten Gesichtsausdruck am liebsten auf die Zunge gebissen. Aber dann lachte Elias und zwinkerte ihr zu. Ihr fiel eine kleine Narbe an seiner Schläfe auf, und sie fragte sich, wie er sie sich wohl zugezogen hatte.

»Ich vermute mal, das habe ich verdient. Entschuldige bitte wegen vorhin in der Ankunftshalle. Ich bin sonst nicht so paranoid. Es ist nur …«, er seufzte, »… seit Dad gestorben ist, habe ich ständig das Gefühl, mich um meine Mom kümmern zu müssen.«

Er hatte rote Ohren bei den Worten bekommen, und Emma verkniff sich ein Grinsen. Becky hatte wahrlich nicht den Eindruck gemacht, als müsste man auf sie aufpassen. Aber irgendwie fand sie es auch süß, wie er sich so sehr um sie sorgte.

»Dann bin ich hierher nach Maui zurückgezogen und habe hier am Bau des Sonnenteleskops mitgewirkt.«

Emma fuhr zu ihm herum. »Was? Nein! Etwa das DKIST-Teleskop?«

Er wirkte überrascht, dass sie den Namen kannte. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und zum ersten Mal seit ihrer Begegnung fiel ihr auf, wie verdammt attraktiv er war. Elias hatte dunkelbraunes, fast schwarzes kurz geschnittenes Haar und trug einen Fünf-Tage-Bart. Unwillkürlich verglich sie ihn mit Michael, aber der war ein ganz anderer Typ. Elias wirkte überhaupt nicht wie ein Macher, der mit Vorliebe andere herumkommandierte, sondern eher wie der nachdenkliche Tüftler. Er hatte definitiv einen gewissen Nerd-Charme, und sie konnte ihn sich gut gedankenversunken vor technischen Konstruktionsmodellen oder Berechnungstabellen vorstellen.

»Ja. War eine ganz schöne Herausforderung und etwas völlig Neues, an dem ich bislang noch nicht geforscht habe.«

»Ich habe die ersten Fotos von der Sonne gesehen, Wahnsinn, wie detailreich die brodelnde Oberfläche darauf zu erkennen ist«, sagte Emma beeindruckt. »Man kann damit auch Sonnenflecken und magnetische Strukturen festhalten, nicht wahr?«

Elias nickte. »Wir können parallel alle möglichen Messungen machen. Ziel ist es unter anderem, gefährliche Sonnenstürme vorherzusagen, die unser Stromnetz gefährden könnten.«

Der Weg veränderte sich, wurde enger und kurvenreicher. Während rechts von ihr Laubbäume, Büsche mit mächtigen Blättern und Farne am Hang wucherten, öffnete sich linker Hand über den Klippen der Blick aufs offene Meer. Emma beugte sich vor und sah an Elias vorbei durch die Seitenscheibe.

»Wir kommen bald an einen Aussichtspunkt. Wenn du möchtest, bleib ich kurz stehen.«

»Das wäre toll! Dann kann ich ein paar Fotos machen. Wie hoch ist eigentlich die Auflösung des Solarteleskops?«, überlegte sie.

»Wir können damit Einzelheiten bis zu dreißig Kilometer genau erkennen. Und ja, ich weiß, das klingt jetzt nicht gerade nach viel, aber …«

»Quatsch, das ist der Hammer! Ich meine, die Sonne hat einen Durchmesser von mehr als einer Million Kilometer. Dafür ist das doch irrsinnig scharf.«

Sein Lächeln wurde noch eine Spur breiter, und ein Leuchten zog in seine Augen.

»Ich dachte nur, weil du doch sonst Satellitenbilder der Erde studierst. Mit denen kann unser Sonnenteleskop leider nicht mithalten.«

»Nicht ganz«, gluckste sie. »Die sind etwa dreißig Zentimeter genau.«

»Hunderttausendfach schärfer«, schnaubte Elias in gespielter Verzweiflung.

»Bloß kein Druck, Herr Ingenieur!«

Wieder dieser intensive Blick. Warum war ihr nicht vorher schon aufgefallen, dass er Beckys Augen hatte? Ein tiefes Grün mit bernsteinfarbenen Sprenkeln um die Pupille, wie ein verwunschener Wald, in dem Irrlichter funkelten. Emma ertappte sich erschrocken dabei, dass sie ihn hemmungslos anstarrte, aber da erwiderte er bereits: »Also, wenn du magst, kann ich dich mal mitnehmen.« Sie verstand nicht gleich, was er meinte. Zu dem Aussichtsplatz? »Ich muss natürlich die Erlaubnis meines Chefs einholen, aber dir als Wissenschaftlerin und Kollegin wird er bestimmt eine Sondergenehmigung erteilen.«

»Du meinst, ich dürfte selbst einen Blick durch das weltgrößte Sonnenteleskop werfen?« Emmas Herz machte einen Satz und begann zu rasen. »Oh, mein Gott! Dafür würde ich … ich weiß nicht was geben!«

 

Das glückliche Lächeln lag noch immer auf ihren Lippen, als Elias wenig später vom Highway Richtung Hāna auf eine schmale Straße nach Ke’Anae abbog. Wilder Hibiskus wucherte zwischen Palmen, Sträuchern und Laubbäumen. Schlingpflanzen mit kleinen gelben Blüten kletterten den Abhang hinunter, und im Vorbeifahren meinte Emma eine Orchidee erspäht zu haben. Und dann lichtete sich plötzlich der tropische Wald und gab den Blick auf eine Bucht und das offene Meer frei. An schwarzen Lavafelsen brachen sich weiß schäumend die Wellen, und Palmwedel bogen sich im Küstenwind. Nur ein paar Meter weiter entdeckte sie hinter einem Parkplatz ein gepflegtes Grundstück mit gemähtem Rasen, das von hohen Sträuchern mit roten Blüten gesäumt war. Zwei Bungalows lagen dahinter. Elias deutete auf ein bunt bemaltes Verkaufsschild.

»Bei Aunty Sandy gibt es das beste Bananenbrot der Insel. Geh doch schon mal vor und ich kaufe schnell eins für meine Mom. Sie ist ganz verrückt danach.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage! Ich habe gar kein richtiges Gastgeschenk für sie. Lass mich das bitte besorgen.«

Elias hielt auf dem Parkplatz, und sie marschierten zu einem kleinen Häuschen mit Verkaufstheke. Davor stand ein Paar, beide trugen Bermudas und türkisfarbene Shirts. Emma und Elias reihten sich in die Schlange.

»Ho’omaika’i! Genießt eure Flitterwochen!«, sagte die schwarzhaarige Verkäuferin gerade und reichte den beiden eine Tüte über den Tresen.

Als sie sich umdrehten, musste Emma grinsen. Die zwei frisch

»Sag nichts!«, murmelte er. »Als Single bist du hier so exotisch wie eine Bananenstaude auf dem Mars.«

Das brachte sie zum Lachen.

»Hi guys, auch in den Flitterwochen?«, fragte die Verkäuferin fröhlich und Emma fühlte, wie sie bis in die Haarspitzen errötete.

»Nein«, erwiderte Elias rasch, »aber auf der Suche nach dem weltbesten Bananenbrot.«

»Dann seid ihr hier richtig«, verkündete sie stolz. »Was darf’s denn für euch sein?«

Neugierig betrachtete Emma die Auslage. Der verführerische Duft nach frischem Brot und gebackener Banane zog ihr in die Nase. »Hm. Das fällt einem ja richtig schwer. Ich glaube, ich nehme die beiden: White Chocolate Chip und Macadamia-Nuss.«

»Darf ich dich noch auf einen Eiskaffee einladen?«, fragte Elias.

»Oh ja, sehr gerne!«

 

Kurz darauf schlenderten sie mit zwei Pappbechern zum Meer. Das noch warme Bananenbrot hatten sie vorab im Auto verstaut. Emma genoss die frische Meeresluft und den Kaffee. Die Wellen brandeten an die dunklen Lavasteine und spülten schwarzen Sand und Kies ans Ufer. Wie ein Fischer sein Netz warf die Nachmittagssonne ihre warmen Strahlen über das Wasser und brachte es zum Funkeln.

»Könnte man die Sonnenkraft nur effizienter nutzen, wären

»Daran forschen eine Menge Leute. Bei Caltech haben sie jetzt spezielle Kacheln entwickelt, die sie im Dezember ins All schicken wollen.«

Sie unterhielten sich angeregt darüber, wie man die so gespeicherte Sonnenenergie mit Mikrowellen zur Erde schicken könnte, und Emma hatte plötzlich das Gefühl, als würden sie sich schon seit Jahren kennen oder zusammen an einem Projekt forschen. Bei ihrer Ankunft am Flughafen hätte sie nicht gedacht, dass es so angenehm werden würde, sich mit Elias zu unterhalten. Während sie zurück zum Auto gingen, wurde ihr bewusst, dass der Spruch Gegensätze ziehen sich an zumindest bei ihr und Michael nicht funktioniert hatte. Becky dagegen war mit ihrem Mann glücklich gewesen, trotz aller Unterschiede. Vielleicht hatten die zwei sich mehr bemüht, einander zu verstehen. Oder sie hatten sich einfach stärker geliebt. Schuldbewusst dachte sie daran, dass sie Michael nicht alles, was in ihrer Beziehung schiefgelaufen war, in die Schuhe schieben konnte. Sie hatte ihm aus lauter Angst, ihn zu verlieren, einen Menschen vorgespielt, der sie nicht war. Letztlich hatte er eine Illusion von ihr geliebt, und jetzt, da die Realität sie eingeholt hatte, kam er mit dieser neuen Emma nicht klar.

Ein Vogel mit grauen Flügeln und feuerrot gefiedertem Kopf flog an ihnen vorbei. Emma blickte ihm nach, trank ihren Kaffee aus und warf den Becher in einen Abfallbehälter. Sie musste die Zeit hier nutzen, um Michael aus dem Kopf zu bekommen und sich für die Interviewrunden daheim mental zu stärken.

Sie fuhren auf ihrem Weg zurück ins Landesinnere, und die Pflanzenwelt wurde so dicht, als würden sie durch grüne Wandteppiche pflügen. Wasserfälle versprühten feinsten Nebel, der das Auto im Vorbeifahren einhüllte, und Elias musste immer