Maui, August 2022
Emma ging leicht in die Knie, federte vom Felsen ab und sprang. Das Wasser umarmte sie so kalt, dass es ihr kurz den Atem raubte. Sie tauchte unter, lauschte Stimmen und Gelächter nach, die nur noch gedämpft an ihr Ohr drangen, und verharrte reglos treibend in dem Gefühl von Schwerelosigkeit, nahm es in sich auf wie einen süßen Vorgeschmack auf das Weltall. Pflanzen umschmeichelten ihre Beine, und ihre Zehen streiften einen aus dem Schlick ragenden spitzen Stein. Als sie zur Seite wich, spürte sie einen Schmerz am rechten Fußballen. Der Sauerstoff drohte ihr auszugehen, sie streckte die Finger aus und pflügte vorwärts, fühlte den Wasserfall hart über ihre Hände, Arme, den Kopf und schließlich den Rücken donnern. Kitzelnder Sprudel überall und Sprühnebel, sobald sie dahinter wieder auftauchte, nach Luft rang und sich an die steilen, glitschigen Felswände presste. Emma kniff die Augen zusammen und spähte in dem ohrenbetäubenden Brausen durch das vor ihr herabrauschende Weiß, hinter dem sich Farne und andere tropische Pflanzen nur verschwommen erahnen ließen. Es war unmöglich, Becky am Ufer auszumachen. Sie hatte Gänsehaut auf ihren Armen und war müde von den anstrengenden Besichtigungen seit Sonnenaufgang, aber glücklich. Die Insel, etwa sechsmal so groß wie München, hatte in den letzten Tagen ihr Herz im Sturm erobert. Eine Landschaft, die vom tropischen Regenwald über steppenähnliche Gebiete bis hin zu Wüsten und schwarzen Lavafelsen reichte, jede Nacht Sternbeobachtungen in Beckys privatem Observatorium und das Gefühl, angekommen zu sein. Denn, so seltsam das auch war, sie hatte mit Becky in der kurzen Zeit ihres Aufenthalts tiefgreifendere Gespräche geführt als mit ihrer Mutter in den vergangenen zwanzig Jahren. Anfangs nur zögernd, hatte sie sich ihr immer mehr geöffnet und ihr auf ihren Besichtigungstouren irgendwann auch von ihrer Kindheit erzählt, der Einsamkeit, dem inneren Zwang, stets Höchstleistungen erbringen zu müssen und es doch niemandem recht machen zu können. Am wenigsten sich selbst. Sie konnte sich auch nicht erklären, wie es dazu kam, dass sie Becky all das anvertraute. Die Trennung von Michael hatte offenbar nicht nur einen Stein, sondern gleich eine ganze Lawine ins Rollen gebracht. Es gab mehr aufzuarbeiten als ihre verkorkste Beziehung. Becky war die geduldigste und aufmerksamste Zuhörerin, die sie je kennengelernt hatte. Sie war ihr im Laufe der Woche ans Herz gewachsen wie die erfahrene Freundin, die sie bei ihrer eigenen Mutter immer vergeblich gesucht hatte.
»Hast du denn nie mit ihr über deine Gefühle gesprochen?«, hatte Becky sie stirnrunzelnd vor ein paar Tagen gefragt. Sie saßen am Strand von Mākena auf einer Picknickdecke und aßen Poké Bowls, die sie sich von einem Imbiss mitgenommen hatten, riesige Schüsseln mit Salat, Kichererbsen, Mango, Kokosstreifen, Avocado und Erdnüssen.
Emma hatte nachdenklich den goldgelben Sand durch ihre Finger rieseln lassen und die Kinder beobachtet, die ungeachtet der bereits tief am Horizont stehenden rot glühenden Sonne noch immer ausgelassen im Meer tobten. »Ich habe schon früh gemerkt, dass dann alles nur schlimmer wird.«
»Inwiefern?«
»Für sie war ich nie nur ihre Tochter. Es hat sich angefühlt, als wäre ich für sie eine heilige Mission. Wenn ich ihr beispielsweise gesagt habe, dass ich nicht mehr Tennis spielen möchte, hat sie mich nicht wie andere Mütter einfach vom Verein abgemeldet. Sie hat die Schuld in dem Trainer gesucht und stundenlang herumtelefoniert, um einen besseren ausfindig zu machen.«
»Sie hat dich also gezwungen, weiterzumachen?«
»Selbst wenn ich mich durchgesetzt habe, wie im Fall von Tennis, hat sie sich sofort auf die Suche nach einer anderen Sportart gemacht.«
»Klingt anstrengend.«
»Oh, ja! Nahezu jedes Wochenende war verplant mit Museumsbesuchen, Veranstaltungen oder Wandertouren. Einfach nur mal daheim herumhängen entsprach nicht ihrer Vorstellung von der idealen Förderung eines Kindes. Je älter ich wurde, umso schwieriger wurde es. Ich hatte das Gefühl, über jede verdammte Minute meines Tages Rechenschaft ablegen zu müssen, ob ich sie sinnvoll genutzt habe.«
»Solche Mütter und Väter habe ich während meiner Arbeit als Lehrerin auch erlebt. Bei den meisten Kids wurde der Druck irgendwann zu hoch und sie rebellierten. Für ihre Eltern brach dann eine Welt zusammen, weil sie ihr ganzes Leben auf sie ausgerichtet hatten.«
»Als ich in letzter Sekunde meinen Platz am Konservatorium aufgab, flippte Mama vollkommen aus.«
»Sie hat nicht akzeptiert, dass du in ihren Augen versagst?«
»Schlimmer noch! Ich glaube, sie hat in sich selbst die Versagerin gesehen, wenn mir etwas misslang. Denn an mir konnte es doch nicht liegen, ich war ja schließlich hochbegabt!« Emma hatte das Wort wie Gift ausgespuckt, aber Becky hatte die Stirn in Falten gezogen. »Und obwohl ich auf sie sauer war, hat sie mir dann leidgetan, ich erkannte ja, wie sehr sie darunter litt, in meiner Erziehung alles richtig machen zu wollen! Der Druck war für sie sicher ebenso groß wie für mich.«
»Ich finde, du schiebst eure Probleme etwas zu sehr auf diesen Hochbegabtentest. Damit fühlst du dich für ihr Verhalten verantwortlich oder weist dir insgeheim eine Mitschuld zu. Das ist falsch, Emma. Wie gesagt, ich habe im Laufe meiner Lehrtätigkeit viele Eltern kennengelernt, die sich ganz ähnlich auf ihr Kind fokussiert haben. Es waren oft Einzelkinder wie du, aber die meisten von ihnen waren nur durchschnittlich begabt. Das Verhalten deiner Mutter hat mit deiner Hochbegabung nichts oder nur ganz am Rande zu tun. Wie hat eigentlich dein Vater auf all das reagiert?«
»Der hat viel gearbeitet, und ich habe ihn praktisch nur am Wochenende gesehen. Ich komme mit ihm besser klar als mit meiner Mutter. Aber ich konnte ihm auch nie alles anvertrauen, weil er es ihr sofort erzählt hat und sie dann obendrein verletzt war, dass ich nicht zuerst mit ihr darüber gesprochen habe.«
Becky hatte ihr stumm den Arm um die Schultern gelegt und sie eine Weile nur gehalten. Nachdem der Wind Emmas Tränen getrocknet hatte, hatte sich auch der Kloß in ihrem Hals gelöst. Und plötzlich war ihr klar geworden, dass es genau das war, diese Lücke, die niemand bislang in ihrem Leben gefüllt hatte: einfach nur da zu sein, Halt zu geben, ohne etwas zu fordern oder ihr sofort Lösungen zu präsentieren. Ihre Schwächen zu akzeptieren wie ihre Glanzleistungen. Weder ihre Eltern noch Michael hatten ihr je dieses Gefühl vermittelt, und Omi Viktória hatte sie viel zu selten gesehen. Wenn sie sich trafen, war immer ihre Mutter anwesend gewesen, und die beiden waren ständig in Streit geraten. Plötzlich hatte Emma ein schlechtes Gewissen. »Sorry, dass ich dich mit meinem persönlichen Kram vollquatsche. Das wollte ich gar nicht.«
Becky hatte nur gelächelt und ihr zugezwinkert. »Dafür sind Freunde doch da.«
Emma spürte auf einmal eine Bewegung im Wasser, und kurz darauf tauchten zwei junge Mädchen durch den Wasserfall vor ihr auf, und sie beschloss, wieder zurückzuschwimmen, um ihnen Platz zu machen. Von Weitem sah sie Becky am Ufer auf einer Picknickdecke sitzen. Sie hatte ihren Sonnenhut tief ins Gesicht gezogen und war vertieft in ein Buch. Gestern Abend hatten Elias und Emma telefoniert, und er hatte angeboten, ihr am Samstag den Westen der Insel mit der Hauptstadt Kahului zu zeigen. Und für Sonntag wollte er eine Tour durch den Haleakalā National Park mit ihr machen. Das würde sie sich keinesfalls entgehen lassen, immerhin machte der Vulkan zwei Drittel der Insel aus. Becky war zwar fit, aber die Route, die Elias und ihr vorschwebte, erforderte eine ausgezeichnete Kondition, die Wanderung würde etwa sieben Stunden dauern und über schwieriges Terrain verlaufen. Dafür hatten ihr die spektakulären Fotos des Trails, die Elias ihr aufs Handy geschickt hatte, den Atem verschlagen, und sie freute sich schon wie verrückt darauf.
Mach dir nichts vor, schalt sie sich innerlich. Du freust dich vor allem darauf, mehr Zeit mit ihm zu verbringen.
»Kalt?«, fragte Becky und legte das Buch beiseite, sobald Emma neben ihr auftauchte, nach dem Handtuch griff und sich abtrocknete.
»Erfrischend! Magst du nicht auch reinspringen?«
Etwas brannte an ihrem rechten Fuß, und als sie mit dem Handtuch darüberfuhr, entdeckte sie Spuren von Blut. Hawaiis Lavasteine konnten äußerst scharfkantig sein. Zum Glück war die Schnittwunde nicht tief.
»Heute nicht mehr, die Sonne geht bald unter, und wir wollten später doch nach Hāna zum Essen fahren.«
»Eine Zumutung, dass der Sonnenuntergang so früh ist!«, verkündete Emma, zog einen Erste-Hilfe-Beutel aus ihrem Rucksack und ließ sich auf die Decke fallen, um ihren Fuß zu verarzten. »Hier gibt es so viel zu erleben, und um sieben wird es schon dunkel.«
»Beschwer dich nicht, Māui hat sein Möglichstes getan!«
»Du meinst den Halbgott, von dem Elias mir schon erzählt hat? Was hat er denn mit der Sonne angestellt?«
»Der Legende nach ist die Sonne anfangs noch viel früher untergegangen, und Māui ist auf den Vulkanberg geklettert, hat sich dort versteckt und sie bei Sonnenaufgang mit einem Lasso eingefangen. Sie musste ihm versprechen, länger zu scheinen, erst dann ließ er sie frei. Daher stammt auch der Name des Vulkans, Haleakalā, Haus der Sonne.«
»Wie schön, dass die alten Mythen und Legenden auf Hawaii lebendig gehalten werden.«
Becky lächelte. »Und mich freut es, dass Elias dir von Māui erzählt hat. Das habe ich nicht erwartet. Zurzeit sind hawaiianische Traditionen ein rotes Tuch für ihn.«
»Weil der Bau des Thirty-Meter-Telescope wegen der Proteste auf Eis gelegt wurde?«
Seine Mutter nickte. »Ich bin gespannt, wie dieser Streit ausgehen wird.«
»Als Wissenschaftlerin kann ich ihn schon verstehen. Es muss wahnsinnig frustrierend sein, ein Projekt, an dem man so lange gearbeitet hat, nicht verwirklichen zu können.«
»Dahinter steckt leider noch mehr. Sein Vater war einer der Richter, die für den Bau des Teleskops gestimmt hatten. Ich fürchte, er sieht es nun als seine Pflicht, diesen vermeintlich letzten Willen meines Mannes zu erfüllen, auch wenn John das vermutlich nie von ihm gefordert hätte.« Sie seufzte. »Sein plötzlicher Tod und die Trennung von seiner Freundin waren nicht einfach für Elias.«
Dann hatte Elias also auch erst vor Kurzem eine gescheiterte Beziehung hinter sich. Emma wollte nicht so indiskret sein und Becky fragen, warum sie sich getrennt hatten. Sie hatte den Eindruck, es war seiner Mutter einfach herausgerutscht. Aber bei der Erwähnung des plötzlichen Todes ihres Mannes meldete sich bei Emma das schlechte Gewissen. Es war nicht fair, ihre Eltern so lange im Ungewissen zu lassen, wie es ihr nach der Trennung von Michael erging. Inzwischen hatte sie genug Abstand gewonnen und Kraft gesammelt, um sich dem Gespräch zu stellen.
»Wärst du sehr enttäuscht, wenn wir uns heute nur von unterwegs etwas zum Essen mitnehmen und erst nächste Woche nach Hāna ins Restaurant gehen?«
»Nein, gar nicht. Bist du zu müde?«, fragte Becky überrascht.
»Das auch. Scheinbar habe ich mich immer noch nicht vollständig an das Klima hier gewöhnt. In letzter Zeit fühle ich mich ständig müde. Aber ich muss für morgen packen, wenn Elias mich abholt, und ich wollte später mit meinen Eltern telefonieren und ihnen das mit Michael erklären.«
»Tu das. Bestimmt machen sie sich Sorgen. Wirst du auch mit deiner Mutter über alles andere reden?«
»Nein.« Sie merkte selbst, wie schnell die Antwort ihr über die Zunge kam.
Becky sah sie aufmerksam an, und wieder fiel Emma auf, wie faszinierend ihre Augenfarbe war, das Grün mit bernsteinfarbenen Sprenkeln um die Pupille, das sie an Elias vererbt hatte.
»Du meinst, ich sollte endlich reinen Tisch machen?«
»Nicht heute Abend am Telefon. Aber irgendwann, sobald du wieder daheim bist und dich bereit dazu fühlst. Darf ich ehrlich sein?«
»Bitte!«
»Ich glaube, dass die Erfahrungen in deiner Kindheit einen großen Einfluss auf die Beziehung zu deinem Freund hatten.«
Verblüfft sah Emma sie an. »Inwiefern denn das?«
»Das klingt jetzt wahrscheinlich wie Küchenpsychologie, aber ich habe den Eindruck, dass du gelernt hast, deine wahren Gefühle zu unterdrücken und Konflikte zu scheuen, weil du nicht wolltest, dass deine Mutter die Problemlösung für dich übernimmt. In der Beziehung verhältst du dich genauso. Kein Wunder, dass dein Freund den Eindruck bekommen hat, dass er allein für Entscheidungen zuständig ist, weil du sie selbst nicht triffst.«
Emma war perplex. Sie fühlte sich, als hätte Becky ihr gerade eine Ohrfeige verpasst. »Aber ich …«, begann sie und brach dann ab.
Dutzende Situationen mit Michael schossen ihr durch den Kopf, die Beckys Worte bestätigten. Zuletzt der desaströse Abend nach ihrer Ankunft am Flughafen.
Becky beugte sich vor und griff nach ihrer Hand. »Du hast nicht nur Schule und Studium exzellent abgeschlossen, sondern leistest auch nach allem, was du erzählt hast, hervorragende Arbeit in deinem Job, und glaub mir, ich kenne die Anforderungen der Auswahlprüfungen für Astronauten. Was ich sagen will, Emma: Du bist eine intelligente, durchsetzungsfähige und willensstarke junge Frau – solange es nicht um dein Privatleben geht.«
So hatte Emma das noch gar nicht gesehen, und die Erkenntnis, wie recht Becky hatte, überrollte sie mit ganzer Wucht.
»Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, dass ich dir beim Challenger Memorial begegnet bin«, gestand sie leise und erwiderte ihren Händedruck.
»Ach, Emma, mir geht es ebenso. Wenn wir schon so ehrlich miteinander sind, muss ich dir auch etwas gestehen: Nach Johns Tod habe ich mich aus dem Leben zurückgezogen. Elias und Jane gegenüber habe ich nach wie vor die unternehmungslustige, fröhliche Mom gespielt, aber in Wahrheit habe ich mich in meiner Trauer in meinem Haus vergraben, und das sieht mir gar nicht ähnlich.«