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Arad, Mai 1914

Herzlichen Glückwunsch, Herr Farber.« Der Direktor der »Musikalischen Academien« schüttelte ihm auf dem Podium jetzt schon seit einer gefühlten Ewigkeit die Hand, statt ihm endlich sein Zeugnis zu überreichen. Sein Händedruck war feucht wie seine Aussprache, und es kam Johannes vor, als hielte er einen glitschigen Frosch in seiner Hand. Er musste sich überwinden, sie ihm nicht zu entziehen und zurückzuweichen, sondern stattdessen ernst und feierlich dreinzusehen.

»Sie haben im vergangenen Jahr sowohl durch ihre Fertigkeit im Violinspiel überzeugt als auch in der Elementar- und Harmonielehre, der Formenlehre und der Musikgeschichte Ihr Können bewiesen. Man kann nicht absprechen, dass Ihnen ein gewisses Talent von dem Herrn Großpapa in die Wiege gelegt wurde.« Er zwinkerte ihm aus kleinen blassblauen Augen zu. »Nur am Piano müssen Sie sich noch ein wenig mehr ins Zeug legen, wie’s scheint. Aber das wird schon, junger Mann.«

Johannes ließ sich von dem gönnerhaften Ton nicht die Freude schmälern und erst recht nicht von dem Verweis auf den Großvater, der ihm bislang keine Unterstützung – weder finanzieller noch fachlicher Natur – angeboten hatte, obwohl er wusste, dass sein Enkelsohn sich der Musik verschrieben hatte. Der allseits gefeierte Kirchenmusiker und -komponist, dessen Tochter gegen seinen Willen einen einfachen Schreiner

Die Fortsetzung seines Studiums war ihm gewiss, solange er es schaffte, auch künftig die Schulgebühren aufzubringen. Mit einer kleinen Unterstützung der Eltern und seinen eigenen Bemühungen, abends durch Unterricht oder Auftritte Geld zu verdienen, war es hart, aber nicht unmöglich. Während er mit dem Zeugnis in der Hand die Stufen des Podiums hinunterstieg, für den nächsten Kommilitonen Platz machte und sich zurück in die Bank setzte, hatte er das Gefühl, ein Mühlstein würde von seinen Schultern fallen. Endlich konnte er wieder frei atmen. Der Direktor schwadronierte von dem Genie, das nicht vom Himmel fiel, und wie wichtig der eigene Fleiß wäre, aber er hörte nicht mehr richtig hin. Zum ersten Mal seit der Taufe des kleinen Ferdinand dachte er plötzlich wieder an Marie. Allein ihr Name brachte etwas in ihm zum Schwingen, wie eine Melodie, die man einfach nicht aus dem Kopf bekam. Vielleicht sollte er es mit dem Komponieren versuchen und ihr sein erstes Stück widmen. Nicht wenige Musiker hatten sich durch eine unglückliche Liebe inspirieren lassen. Doch viel lieber würde er seinen Triumph mit ihr teilen und sie fragen, wie ihre Prüfungen gelaufen waren. Dass sie den Schulabschluss

Er spürte einen Kloß in seinem Hals, sobald er an Giselas jüngere Schwester in ihrem blauen Kleid dachte, und verschwommene Bilder stiegen in ihm hoch. Er konnte sie nicht einordnen, nicht zwischen Traum, Fantasie und Wirklichkeit unterscheiden. Recht gut erinnerte er sich nur daran, dass er Susanna am Nachmittag im Garten geküsst hatte und sie vor ihm geflohen war. Und dass ihm der Regimentsmusiker einen Slibowitz nach dem anderen eingeschenkt und bei jedem Glas gegrölt hatte:

»Welches ist der beste Witz? Der Slibowitz!« Und jedes Mal hatte er sich hinterher mit dröhnendem Lachen auf die Schenkel oder ihm auf den Rücken geklopft.

Irgendwann war Johannes speiübel geworden, und auf einmal war Giselas Mann Friedrich neben ihm gestanden und hatte den Uniformierten angeherrscht, er solle aufhören, den jungen Kerl abzufüllen. Seine Stimme hatte entsetzlich laut in seinen Ohren gehallt und sich wie Paukenschläge in seinem Kopf angefühlt. Friedrich musste ihn nach draußen vor die Wirtschaft gezerrt haben, denn in seiner nächsten Erinnerung kniete Johannes im schlammigen Gras am Bach vor den Häusern und übergab sich, bis er nur noch bittere Galle

Hier klaffte wieder ein Loch in seiner Erinnerung. Doch auf einmal war Susanna bei ihm gewesen. Der Mond spann einen leuchtenden silbernen Kranz über ihr Haar. Sie war so schön. Er hatte sie angestarrt, unwirklich, wie ein rettender Engel war sie ihm erschienen, hatte seinen Arm um ihre Schultern gelegt und ihm aufgeholfen. Was sie zu ihm gesagt hatte, ob sie überhaupt gesprochen hatte, daran konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Nur dass der Himmel über ihnen plötzlich verschwunden war, es nach frischem Heu duftete und alles so weich und warm war, ganz besonders Marie, die auf einmal neben ihm lag und sich an ihn schmiegte. Da hatte er ihr gestanden, wie sehr er sie liebte, hatte seinen Kopf in ihrem Haar vergraben und ihren Hals geküsst. Sie hatte seinen Namen geflüstert, ihre Hände unter sein Hemd geschoben, und er war unter ihren sanft kreisenden Berührungen erschauert. Schwerer Atem, Haarspitzen, die seine Haut kitzelten, ein nackter

 

Donnernder Applaus riss ihn aus seinen Erinnerungen, und Johannes wischte sich beschämt den Schweiß von der Stirn. Herrgott noch mal! Jetzt gab er sich schon tagsüber diesen elenden Träumen hin! Denn nichts anderes konnte es sein! Oder hatte Susanna in dieser Nacht Marie verständigt und sie zu ihm geführt? Er erinnerte sich nur noch an seinen Namen auf ihren Lippen und wie er ihren Mund mit seinem verschloss, an den Geschmack von Erdbeerwein auf ihrer Zunge und Tränen auf ihren Wangen, an bleierne Schwere, die seinen ganzen Körper erfasste. Das Krähen eines Hahns und die Kälte hatten ihn am nächsten Morgen geweckt, und er hatte eine Weile gebraucht, um sich zu orientieren. Sein Kopf hatte sich angefühlt, als hätte ihn jemand mit den Beinen an einem Fuhrwerk festgebunden und anschließend über Pflastersteine hinter sich hergezogen. Benommen hatte er seine Hose hochgezogen und mit vor Kälte zitternden Fingern das Hemd zugeknöpft, als er feststellte, dass er halb nackt in einem Heuschober lag. Sobald er sich das Stroh vom Gewand geklopft und aus den Haaren gezupft hatte, war er zum Tor gegangen. Sein Gehrock hing nur wenige Schritte entfernt fein säuberlich an einem Nagel. In der Innentasche fand er den Geldbeutel – überfallen hatte ihn also offenbar niemand, was ihn bei dem Brummen seines Schädels nicht gewundert hätte. Aber wie war er dann nur hierhergekommen? Und wo überhaupt war er? Er hatte den Gehrock übergestreift, das Tor aufgezogen und nach draußen gespäht. Ein Nebelstreifen war über einem Hof gelegen, und der lilablaue Himmel hatte sich bereits zartrosa gefärbt. Erneut hatte der Hahn auf dem breiten Holzstumpf am Zaun gekräht, und da war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen: Er befand sich auf dem Gut von

»Na, kommst du mit zum Feiern ins Kaffeehaus am Andràssy-Platz?«, fragte ihn ein Kommilitone.

Warum nicht? Das würde ihn zumindest auf andere Gedanken bringen.

 

Geradezu sommerlich warm war es, als sie in einer Gruppe von vielleicht zehn Musikstudenten das Konservatorium verließen und zum Kaffeehaus liefen. Überall schmückten Blumen die Plätze, und Händler hatten ihre Waren vor die Läden gestellt. Es war Mittagszeit, reges Treiben herrschte in den Straßen, von überallher wehte ihm der Duft von Essen entgegen. Johannes’ Magen begann zu knurren, und er freute sich schon auf eine warme Mahlzeit. Das Kaffeehaus schien auf den ersten Blick durch die Scheiben wie alle Lokale um diese Uhrzeit gut besucht, und er fragte sich bei dem Gedränge an der Tür, ob sie noch einen Platz bekommen würden. In diesem Moment trat ein junger Mann heraus und rempelte im Vorbeigehen gegen ihn.

»Verzeihung«, sagte er auf Deutsch, ein Ungar konnte es also nicht sein, und weil ihm die Stimme irgendwie bekannt vorkam, blieb Johannes stehen und drehte sich um. Der Mann in einem dreiteiligen Anzug mit Nadelstreifen war ebenfalls stehen geblieben und sah ihn an. Sein Gesicht verfinsterte sich sofort. Es war der verächtliche Ausdruck seiner Augen, an dem er ihn erkannte, denn er hatte sich den Bart rasiert und die Schläfenlocken geschnitten. Heiße Wut schoss in ihm hoch, als Samuel Grünberg sich stirnrunzelnd ohne einen Gruß umwandte und ging.

Sekundenlang taxierten sie sich, und dann kamen ihm die Worte wie von selbst über die Lippen. »Wann ist die Hochzeit?«

Kurz meinte er Angst in seinen Augen aufblitzen zu sehen.

»Von wem?«, erwiderte Samuel eisig.

»Stell dich nicht dumm! Von Marie und dir natürlich!«

»Marie?«

»Ach, hast du etwa noch anderen Mädchen deine Hand versprochen?«

»Ich bin mit keinem Mädchen verlobt.«

Das wurde ja immer schöner! Der Kerl meinte es noch nicht einmal ernst mit ihr. Er dachte an die Tränen auf ihren Wangen in jener Nacht. Hatte sie deshalb geweint?

»Ich werde nicht zulassen, dass du Marie und ihren Vater weiterhin zum Narren hältst! Ich werde zu ihm gehen und …«

Samuel schüttelte seine Hand ab. »Marie und Benjamin sind Anfang Mai auf ein Schiff nach Amerika gestiegen. Wenn du also endlich deine Gefühle für sie entdeckt hast, kommst du damit reichlich spät, Farber! Zu spät.«

Seine Worte fühlten sich an wie Faustschläge ins Gesicht.

»Du lügst! Sie kann nicht … ich habe sie doch erst vor ein paar Wochen auf der Taufe des kleinen Ferdinand gesehen.«

»Ich weiß, ich war dabei, schon vergessen?«

Natürlich nicht. Samuels Anwesenheit und wie er mit Marie vertraut zusammengesessen war, waren schließlich der Grund gewesen, warum er sich haltlos betrunken hatte.

»Und ich lüge auch nicht. Sie sind von Bremen aus mit der ›George Washington‹ nach New York abgefahren. Marie hat mir die Schiffskarten gezeigt.«

Jetzt schlug Samuels Verachtung offenbar in Zorn um, denn er trat einen Schritt näher und zischte in wütendem Ton: »Das fragst du mich, Farber? Mich? Denk noch mal darüber nach!«

Zum zweiten Mal seit ihrer Begegnung glaubte Johannes, dass ihm der Boden unter den Füßen entglitt. Unscharfe Bilder von verschwitzter Haut und verschlungenen Körpern schossen wieder in ihm empor. Eine zärtliche Stimme. Johannes. Tränen auf ihren Wangen. Johannes. Ich lieb dich so. Aber war das wirklich Maries Stimme gewesen? Er schauderte, und als er nicht antwortete, raunte Samuel, wohl damit die Umstehenden, die inzwischen neugierig zu ihnen herüberblickten, ihn nicht verstanden:

»Nachdem du nichts Besseres zu tun hattest, als gleich nach der Taufe im Garten über ihre beste Freundin herzufallen, hat Marie mit Benjamin überstürzt die Feier verlassen. Aber dem feinen Herrn ist das gar nicht aufgefallen, nicht wahr? Hast dich lieber weiter besoffen wie ein Schwein. Also spiel jetzt nicht das Unschuldslamm, dem sein Mädchen davongelaufen ist.«

Er wandte sich um, aber Johannes packte ihn erneut am Ärmel seines Gehrocks.

»Fass mich nicht an, Schmock!«

Johannes ignorierte die Beleidigung, aber ließ seine Hand sinken. »Bitte, du musst mir sagen, wann sie von der Taufe abgefahren ist? Gleich nach dem Mittagessen?«

Samuel zog die Stirn in Falten. »Warum ist das wichtig für dich?«

»Das kann ich dir nicht sagen, aber ich schwöre dir, ich habe nicht … ich wollte niemals … ich liebe Marie doch!« Er war zu laut geworden, und Samuel packte ihn nun seinerseits am Ärmel und zog ihn in eine Nebengasse.

»Was auch immer du im Garten getrieben hast, Marie wollte sich dort eigentlich auf meinen Rat hin mit dir aussprechen.

Er machte eine Pause und fixierte ihn verächtlich. Dann holte er noch einmal aus.

»Nur wegen dir hat Marie sich endlich einverstanden erklärt, mit ihrem Vater nach New York zu gehen.«

Seine Worte trafen Johannes wie ein Messer und gruben sich in sein Herz. Er taumelte, versuchte zu atmen, sich irgendwie zu sammeln und das Durcheinander in seinen Gedanken zu sortieren. So viele einzelne Teile ergaben nun einen Sinn. Er erinnerte sich jetzt wieder an Benjamin Rosenfelds Gerede über die Galerien in New York. Großer Gott, warum hatte er denn nicht besser zugehört! Und wenn es stimmte, was Samuel sagte, wer war dann das Mädchen in der Scheune gewesen? Und war sie überhaupt da gewesen und nicht reine Wunschfantasie? Eine Ahnung stieg eiskalt in ihm auf, aber darum konnte er sich jetzt nicht kümmern, denn er musste Samuel noch etwas anderes fragen.

»Aber Marie und du, ihr seid doch verlobt! Warum bist du denn nicht mitgereist?«

»Wer hat dir denn den Unsinn erzählt?«

»Susanna. Sie hat behauptet, dass Marie mit dir auf einem Ball war.«

Sekundenlang herrschte Stille, und Überraschung zeichnete sich auf Samuels Miene ab. »Susanna Keller hat zu dir ausdrücklich gesagt, wir seien verlobt? Bist du sicher? Du hast dir das nicht nur wegen dieses Ballbesuchs selbst zusammengereimt?«

»Ich liebe Marie wie eine kleine Schwester! Aus reiner Freundschaft hat sie mich zu dem Ball begleitet, weil ich sie darum gebeten habe, aus Gründen, die dich nichts angehen. Es fiel ihr nicht leicht, und als ihre Mutter starb, hat sie sich bittere Vorwürfe deswegen gemacht und ich mir ebenfalls.« Er schüttelte den Kopf. »Aber was du da von Susanna erzählst, das hätte ich nicht erwartet. So eine falsche Schlange!«

Johannes fühlte sich wie betäubt. Unbändige Wut auf Giselas jüngere Schwester kroch in ihm hoch und Verzweiflung darüber, dass Marie unendlich weit weg auf einem Schiff war, dass sie ihn geliebt und er sie aus eigener Dummheit verloren hatte. Nein. Noch war es nicht zu spät. Er ballte die Hände zu Fäusten. Er würde ihr so bald wie möglich nachreisen und Susanna, die das alles eingefädelt hatte, zur Rede stellen.