31

Maui, August 2022

Eine sanfte Berührung an ihrer Schulter riss Emma aus dem Schlaf. Es war dunkel, und sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie musste auf der Rückfahrt von ihrem Ausflug mit Elias im Nationalpark eingeschlafen sein, denn durch die Windschutzscheibe erspähte sie jetzt das Tor von Beckys Einfahrt. Die Laternen auf den Torpfeilern spendeten goldenes Licht, und gerade schoben sich die kunstvoll geschmiedeten Torflügel gemächlich auf. Peinlich berührt setzte sie sich auf und sah zu Elias. Was er jetzt wohl von ihr dachte?

Alles hatte mit diesen seltsamen Kopfschmerzen begonnen. Anfangs nur dumpf, hatten sie sich immer mehr verstärkt. Dabei hatte ihre Wanderung durch den Nationalpark sie gerade zu Pele’s Painting Pot geführt, der sie vollkommen verzaubert hatte. Eine farbenprächtige opulente Landschaft wie aus einer Filmkulisse, ein bizarrer Mix aus ›Dune‹, ›Star Wars‹ und dem ›Marsianer‹ hatte sich vor ihr ausgebreitet. Und Emma hatte sich gefragt, ob sie wirklich noch auf dem Planeten Erde war. In Schattierungen von Rötlichbraun bis Orange, Schwarzgrün bis Türkisgrau, Ocker bis Sandfarben erstreckten sich Krater und Aschehügel, so weit ihr Auge reichte. Sie hätte das alles viel mehr genießen können, wäre ihr nicht mit einem Mal schwindlig geworden und hätte sie nicht bei jedem Schritt dieses unerträgliche Pochen im Kopf gespürt. Ein wenig kurzatmig war sie noch dazu gewesen. Sie hatte in ihrem Rucksack nach ihrem

»Alles okay?«, hatte Elias gefragt.

»Nur Kopfschmerzen. Wahrscheinlich habe ich zu wenig getrunken.«

Er hatte sie besorgt gemustert. »Kann auch an der Höhenluft liegen, Emma. Die äußert sich bei vielen erst nach einigen Stunden Wanderung.«

Sie hatte empört abgewunken. »Mach dir keine Sorgen. So dramatisch ist es nicht. Außerdem hatte ich beim Bergwandern in den Alpen früher nie Probleme mit der Höhenluft.«

Was stimmte. Aber es war dennoch eigenartig. Und der Rückweg hatte sich, obwohl sie durch das vorbereitende Training für die ESA-Auswahlprüfungen körperlich ausgesprochen fit war, als schwierig herausgestellt. Er verlief bergauf, sie war immer wieder auf der Asche abgerutscht, und an einigen Stellen hatte sie sich sogar von Elias helfen lassen müssen. Emma war heilfroh gewesen, als sie endlich den Parkplatz erreicht hatten. Zurück im Jeep auf der Heimfahrt hatte sie ihn gebeten, bei der nächsten Apotheke anzuhalten. Während er im Auto gewartet hatte, war sie hineingegangen, um Schmerzmittel nachzukaufen. Die Apothekerin hatte sich zu dem Regal umgedreht, und da waren Emma plötzlich die Kondompackungen und Schwangerschaftstests in einem kleinen Regal neben der Kasse ins Auge gefallen. Ihr war heiß und kalt zugleich geworden. Ach du Scheiße! Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht! Sie hatte die Pille in den vergangenen Tagen regelmäßig genommen und noch zwei Tabletten übrig. Sicher war es falscher Alarm und sie hatte nur Probleme mit der Höhenluft oder dem veränderten Klima. Dennoch konnte es nicht schaden, einen Test zu machen.

 

»Ich hoffe, es war nicht zu anstrengend heute für dich«, sagte Elias jetzt. Er schenkte ihr ein Lächeln, in dem so viel fürsorgliche Zärtlichkeit lag, dass sie ein Flattern in der Magengegend spürte. Noch schlaftrunken und von seinem Anblick im Halbdunkel des Wagens gefangen, fehlten ihr die Worte. Stattdessen wanderte ihr Blick von seinen Lippen zu dem sehnigen Hals, der pochenden Ader und zurück zu den geheimnisvollen Augen, dunkel, nahezu schwarzgrün im gedämpften Licht und im Schatten seiner langen Wimpern. Die Stille dehnte sich aus, und Emma konzentrierte sich auf jede Regung in seiner Miene. Sie atmete zittrig ein, gefangen von der Mischung aus zitronigem Deodorant und seinem ihm eigenen herben männlichen Duft. Ein sehnsüchtiges Ziehen durchfuhr ihren Unterleib, und im nächsten Moment hob er die Hand und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Gänsehaut prickelte von der zarten Berührung über ihren ganzen Körper, und sie vergaß zu atmen. Sein Gesicht kam ihrem jetzt so nah, dass Emma einzelne Bartstoppeln wahrnehmen konnte, sie öffnete den Mund und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er ihn mit seinen Lippen wieder verschließen würde. Ein schrilles Klingeln im Wageninneren ließ sie auseinanderfahren und nach Luft schnappen. Auf dem Display am Armaturenbrett erschien Mom und Beckys Handynummer. Elias stieß ein verärgertes Schnauben aus und nahm den Anruf auf der Freisprechanlage entgegen. »Hi, Mom, wir fahren eben zum Tor rein.«

»Ach, Gott sei Dank. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, wo ihr so lange bleibt. Bis gleich, Schatz.«

»Ja, bis gleich«, erwiderte er augenrollend, fuhr in den Hof und parkte neben einem weißen Toyota.

 

»Danke. Das waren zwei wirklich einzigartige Tage.« Sie wollte noch mehr sagen, wollte ihn wissen lassen, wie sehr sie jede Sekunde mit ihm genossen hatte, doch da flog schon die Eingangstür auf, und eine Frau in ihrem Alter mit langen blonden Haaren und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht erschien im Türrahmen. Sie trug eine ausgefranste Jeans und ein weißes Oversized-Shirt.

»Meine Schwester«, erklärte Elias mit einem schiefen Lächeln, und dann beugte er sich rasch zu ihr und raunte: »Einzigartig würde ich sehr gerne wiederholen, Emma.«

»Ich auch«, flüsterte sie zurück, öffnete die Tür und stieg mit wackligen Knien aus.

 

Im Haus duftete es würzig nach Abendessen, und Emma merkte jetzt erst, wie hungrig sie von den Anstrengungen des Tages war. Die Kopfschmerzen waren endlich verflogen, aber trotz ihres kurzen Schläfchens im Auto fühlte sie sich müde. Sie tunkte ihre Süßkartoffel in Orangen-Whiskey-Sauce und hörte Jane nur mit halbem Ohr zu, die von einer Notoperation in ihrer Tierarztpraxis erzählte. Sie musste wieder daran denken, wie nah Elias und sie sich eben gekommen waren. Auch jetzt saß er neben ihr, und seine Knie berührten fast die ihren. Als sie nach ihrer Serviette griff, streifte sie versehentlich seine Hand. Die flüchtige Berührung traf sie wie ein elektrischer Schlag, und ihre Blicke verhakten sich ineinander. Für einige kostbare Sekunden versanken die Tischgespräche in dem Rauschen in ihren Ohren. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den sie nicht

»Wie hat dir denn der Ausflug in den Nationalpark heute gefallen?«, riss Becky sie aus der Betrachtung ihres Sohnes, und Emma fühlte sich ertappt. Hitze stieg ihr in die Wangen.

»Wahnsinnig gut!«, beeilte sie sich zu sagen, und dann erzählten sie abwechselnd von ihrer Tour am Haleakalā, und hinterher fragte Jane sie nach der Weltraumorganisation und den bevorstehenden Interviews.

»Wie bist du denn auf Veterinärmedizin gekommen? Ich glaube, als Kind wollte ich auch irgendwann einmal Tierärztin werden. Vermutlich, weil ich mir immer einen Hund gewünscht habe und meine Mutter nie einen erlaubt hat.«

Und jetzt hat sie sich nach meinem Auszug diesen Traum plötzlich selbst erfüllt, dachte sie bitter, trank ihren Wein aus und nickte zustimmend, als Elias ihr nachschenken wollte.

Jane grinste. Die Geschwister sahen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich aus: Jane mit langem blondem Haar und blauäugig, Elias dunkelhaarig und mit den grünen Augen seiner Mutter. Aber seine Schwester hatte dasselbe freche Augenzwinkern, das ihr an ihm so gut gefiel, und ebenso charmante Grübchen, wenn sie lachte.

»Mit dem Klischee kann ich leider nicht dienen. Klar habe ich Tiere schon immer gemocht. Wir hatten auch viele Katzen und eine Weile einen Hund.« Sie zwinkerte ihrem Bruder zu. »Elias hat Flint, egoistisch wie er ist, aber vollkommen für sich beansprucht.«

»Flint fand mich eben einfach interessanter«, gab er schulterzuckend zurück. »Vielleicht hast du damals auch zu sehr nach Terpentin gestunken.«

Seine Schwester lachte auf. »Danke! Aber gut möglich!« Sie wandte sich wieder an Emma. »Ich wollte ursprünglich Kunst

»Das Observatorium hast du wahnsinnig schön gestaltet. Was ist denn aus deinen künstlerischen Ambitionen geworden?«

»Das, was den meisten passiert. Ich habe meine Bewerbungsmappen bei verschiedenen Kunstakademien eingereicht und bin nicht angenommen worden.«

»Du hast dich aber auch nur bei den berühmtesten beworben«, gab ihre Mutter zu bedenken.

»Ach, was, Mom! Selbst an drittklassigen Unis hätte ich keine Chancen gehabt. Es war hart, und ich habe viele Tränen deswegen vergossen, aber ich musste mir irgendwann eingestehen, dass ich die Kunst liebe, verglichen mit den Arbeiten anderer Bewerber aber einfach nur mittelmäßig talentiert bin. Dad kam anschließend auf die glorreiche Idee, ich solle stattdessen Jura studieren.«

»Das hat er mir auch einzureden versucht«, stöhnte Elias.

»Wir waren bestimmt eine furchtbare Enttäuschung für ihn.«

»Unsinn! Euer Vater war immer stolz auf euch, aber er war eben Jurist mit Leib und Seele und besessen von der Vorstellung, dass er mit seinen Urteilen die Welt ein Stück gerechter machen könnte. Dass außer ihm sich niemand in der Familie dafür begeistern konnte, war für ihn schwer nachzuvollziehen.«

»Ja, ich weiß. Auf jeden Fall hat er mich so lange mit der Idee angefixt, dass ich es ein Semester lang probiert habe. Dann war ich kuriert und wechselte zu Politikwissenschaften. Das war schon eher meins. Wir Studenten waren auf den Grünflächen am Campus oder in Kneipen gesessen und haben stundenlang debattiert.«

»Dann ist sie rausgeflogen, weil sie niemanden mehr zu Wort kommen ließ«, warf Elias ein.

Ihr Tonfall änderte sich bei den letzten Worten, Bedauern und Sehnsucht lagen darin, und Emma erinnerte sich an Elias’ Worte vom »sexiest man alive«. Sie unterdrückte ein Lächeln.

»Er studierte Ozeanologie, war aber gerade dabei, sich umzuorientieren. Na ja, wir haben uns ineinander verliebt und uns im Wintersemester beide für Veterinärmedizin eingeschrieben. Das war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.«

»Finde ich auch. Takeshi ist schon ein toller Kerl. Wenn ich auf Männer stehen würde …«

»Fang jetzt nicht wieder an, Elias! Es ist nun mal vorbei!«, unterbrach sie ihn scharf und verzog ihr Gesicht zu einer verzweifelten Grimasse. »Sorry, Emma. Aber keiner in der Familie ist damit klargekommen, dass ich mich später von ihm getrennt habe.«

»Manchmal klappt es eben nicht«, versuchte sie ihr beizustehen und erntete von Elias ein Kopfschütteln, das seiner Schwester nicht entging.

»Wir sind einfach zu unterschiedlich«, rechtfertigte sie sich. »Wie Feuer und Wasser.« Jane hob in gespielter Verzweiflung die Hände.

»Also, ich finde das sehr passend für zwei Menschen, die aus Hawaii stammen. Lava und der Ozean haben schließlich dieses wunderbare Paradies hier geschaffen«, warf Becky ein.

»In weniger poetischen Worten: Mom stellt sich gerade vor, was für hübsche Enkelkinder ihr beiden produzieren würdet«, goss Elias Öl ins Feuer.

 

Es war spät, als Elias sich auf den Weg machte, und Emma beneidete ihn nicht um die lange Heimfahrt. Sie war zum Umkippen müde. Beim Verabschieden drückte er erst Becky und dann seiner Schwester einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Als er sich umdrehte, um sich auch von ihr zu verabschieden, war sie sicher, er müsste ihren rasenden Herzschlag hören. Emmas Hände wurden ganz feucht, und sie lächelte ihn nervös an.

»Bis Mittwoch! Ich freu mich darauf, dir die Observatorien auf dem Haleakalā zu zeigen.« Er blieb vor ihr stehen, und sie sah wie gebannt in seine Augen, die stumm nach ihrem Einverständnis fragten. Im nächsten Moment spürte sie auch schon seine warmen Lippen auf ihrer Wange. Ihr Herz stolperte, und sie brachte keinen Ton heraus. Erst als er sich zum Gehen wandte und den Blick auf Becky freigab, die sie aufmerksam und mit einem wissenden Lächeln musterte, gelang es ihr, sich zu räuspern und ihm nachzurufen:

»Ich freu mich auch! Bis dann, Elias!«

Seine Berührung war federleicht gewesen, der Kuss wirklich nur gehaucht, aber sie meinte immer noch, seine zärtlichen Lippen auf ihrer Haut zu spüren, als sie längst im Bad stand und sich die Zähne putzte. Dabei ärgerte sie sich über sich selbst. Emma Franke, was soll das werden? Ein lockerer Urlaubsflirt? Du bist doch gar nicht der Typ für so was! Ja, sie war nach ihrer Trennung frei, konnte tun und lassen, was ihr gefiel! Aber sie hatte Michael während des Studiums kennengelernt, er war ihr erster und einziger Freund gewesen. Dadurch war sie bequem geworden und hatte sich darauf verlassen, dass das zwischen ihnen von Dauer sein würde. Und jetzt war sie über dreißig und

Ihr Gefühl dagegen reagierte mit nur einem Wort: JA!

Sehr laut und erschreckend fordernd. Denn wenn schon seine flüchtige Berührung ihrer Wange sie völlig aus der Bahn warf, wie würde es dann erst sein, sobald er ihren Körper erkundete, seine Lippen über ihren Hals zu ihrem Schlüsselbein hinunterglitten und … Himmel, denk nicht einmal daran!

Zornig pfefferte Emma die Zahnbürste in den Becher und ging zu ihrem Bett. Dort fiel ihr Blick auf den Nachttisch, wo die Packung aus der Apotheke lag.

 

Nur eine Viertelstunde später saß sie im Bad auf dem Klo und starrte auf das Teststäbchen am Waschbeckenrand. Sie war außer sich und kurz davor, sich zu übergeben. Das durfte doch nicht wahr sein! Die Packungsbeilage in ihrer Hand zitterte so sehr, dass sie die winzig gedruckten Buchstaben kaum entziffern konnte. Vierzehn Tage nach dem Eisprung versprach der Test ein Ergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent. Schwanger vom Ex!

Verdammt! Verdammt! Verdammt! So etwas passierte doch nur in irgendwelchen abgeschmackten Hollywoodfilmen!

Ich will kein Kind von Michael bekommen! Muss ich die Schwangerschaft der ESA melden? Kann ich dann überhaupt noch Astronautin werden? Was werden Mama und Papa sagen? Soll ich abtreiben? Bis wann muss ich mich dafür entscheiden? Was bedeutet das für künftige Schwangerschaften? Sie hatte immer konsequent verhütet und sich nie mit den Folgen eines Schwangerschaftsabbruchs beschäftigt. Ungewollt schwanger zu sein war für sie etwas gewesen, das niemals ihr passieren würde, sondern immer nur den anderen Frauen. Jetzt schämte sie sich für ihre Naivität. Und wenn du es behältst? Konnte sie es Michael einfach verschweigen? Nein, das war weder ihm noch dem Kind gegenüber fair. Es würde irgendwann nach seinem Vater fragen. Aber ein Vater wie Michael, der sich überall einmischte und alles besser wusste? Nein danke! Dann lieber alleinerziehend!

Stöhnend rieb sich Emma die Schläfen, und neue Gedanken kamen ihr in den Sinn. Ist das Baby überhaupt gesund? Verdammt, du hättest keinen Alkohol trinken dürfen! Kopfschmerztabletten hast du auch noch genommen. Und Elias? Oh, Gott, Elias!

Das verstörende Gewitter in ihrem Kopf wich plötzlicher Stille, und dann spürte sie einen tiefen, unerträglichen Schmerz in ihrer Brust. Die Tränen liefen ihr unaufhaltsam über die Wangen. Vor wenigen Minuten noch hatte sie sich einzureden versucht, dass sie sich nicht in ihn verlieben durfte. Jetzt erkannte sie, dass es bereits geschehen war. Sie hatte ihr Herz verloren, und ihre ungewollte Schwangerschaft setzte so vielen Dingen ein Ende, bevor sie überhaupt richtig beginnen konnten. Dem Traum vom Flug ins Weltall. Dem, was auch immer