Arad und Lugosch, Juli 1914
Der Sommer zeigte sich von seiner schönsten Seite mit einem seidenblauen Himmel, dem üppigen Grün der Bäume und Büsche in den Parkanlagen der Stadt und einem Blumenmeer in den Rabatten. Es war angenehm warm, nicht zu schwül und nicht zu heiß. Die Kinder freuten sich auf die Ferien und Johannes’ Musikkollegen auf die Sommerfrische, auf Konzerte in fernen Kurhäusern und -parks, Tändeleien mit von ihrem Spiel hingerissenen jungen Damen und den Lohn, den sie für ihre musikalische Darbietung erhalten würden. Johannes hatte kurzentschlossen alle ihm angebotenen Aufführungen abgesagt. Seither kursierten an der Akademie die wildesten Gerüchte über seine unglückliche Verliebtheit zusammen mit dem Ratschlag, dass er sich nur nicht vor lauter Gram das Leben nehmen solle, schließlich hätten auch noch andere Mütter hübsche Töchter. Johannes schwieg zu mildem Spott ebenso wie zu ernsthafter Besorgnis. Nicht einmal seine engsten Freunde konnte er in das, was bei Ferdinands Taufe geschehen war, einweihen.
Wochen waren seit dem Treffen mit Susanna vergangen, und er fühlte sich immer noch wie betäubt. Von Samuel hatte er sich Maries Adresse in Amerika geben lassen und ihm gesagt, dass er ihr schreiben würde. Tag und Nacht dachte er an Marie und daran, dass ausgerechnet die Frau, die ihn und seine Liebste hintergangen hatte, der er all sein Leid verdankte, nun sein Kind erwartete. Konnte er ihr überhaupt Glauben schenken? Womöglich hatte ein anderer Mann sie geschwängert? Aber ein dumpfes nagendes Gefühl und verschwommene Erinnerungen an jene verhängnisvolle Nacht sagten ihm, dass Susanna zumindest in diesem Punkt die Wahrheit gesagt hatte. Oh, der verfluchte Slibowitz! Hätte er nicht bereits zuvor geschworen, keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren, würde er es spätestens jetzt tun. Dabei wünschte er sich sehnlichst, er könnte seine Verzweiflung in Schnaps ertränken.
Die Nachricht vom Mord an dem österreichischen Thronfolger und seiner Gattin, die zu den Manövern nach Bosnien gefahren waren, erreichte ihn bei seiner Ankunft am Bahnhof von Arad. Eine Menschentraube hatte sich dort vor der eilig angeschlagenen Depesche versammelt. Aufgewühlt, wie er an diesem Tag gewesen war, erschien ihm die Gräueltat wie die logische Fortführung seines ganz persönlichen Albtraums. Nun geriet nicht nur seine, sondern die gesamte Welt aus den Fugen. Seine Hoffnung, Marie nach Beendigung des Konservatoriums nachzureisen, hatte sich mit Susannas Schwangerschaft in Luft aufgelöst. Er hatte ihr in einem Brief erklären wollen, dass alles nur ein furchtbarer Irrtum war. Dass ihre falsche Freundin ihm im Garten den Kuss nur aufgezwungen und er zudem geglaubt hatte, Marie sei mit Samuel verlobt. Doch wie sollte er jetzt ein gemeinsames Kind als Missverständnis abtun? Sie würde nicht ihm, sondern Susanna Glauben schenken und sie zutiefst bedauern. Tatsächlich hatte Giselas jüngere Schwester bei ihrem Treffen im Park furchtbar ausgesehen, und er glaubte ihr auch, dass sie ihre Intrige mittlerweile bereute. Trotzdem:
Susanna hat sich diese Suppe selbst eingebrockt, soll sie doch zusehen, wie sie sie wieder auslöffelt.
An anderen Tagen wiederum überwog sein Ehrgefühl. Sein Anstand, seine gesamte Erziehung geboten ihm, bei ihrem Vater um Susannas Hand anzuhalten. Was würden seine Eltern nur von ihm denken, wenn er eine junge Frau sich selbst überließ, nachdem er sie geschwängert hatte? Und konnte er es mit seinem Gewissen vereinbaren, dass sein Kind unter all diesen Fehlentscheidungen, die sowohl Susanna als auch er getroffen hatten, litt? Johannes hatte sich von seinem Vater immer geliebt gefühlt und mochte sich nicht ausmalen, wie es wäre, als Bastard aufzuwachsen. Womöglich täuschte Susanna auch einen Kuraufenthalt vor, brachte das Kind zur Welt und gab es dann fremden Menschen. Er hatte schon davon gehört, dass wohlhabende Familien sich auf diese Weise des Problems unehelicher Kinder entledigten, um den gesellschaftlichen Skandal zu vermeiden. Sollten etwa Fremde seinen Sohn oder seine Tochter aufziehen? Mit jedem verstreichenden Tag, an dem er sich nicht bei ihr meldete, brachte er sie dieser Lösung näher. Daran, dass sie womöglich gar zu einer Engelmacherin gehen würde, wollte er gar nicht erst denken. Welche Schuld würde er auf sich laden, wenn sie durch den Eingriff einer Pfuscherin starb! Zu alledem fühlte er sich Susannas Schwester Gisela in höchstem Maße verpflichtet. Ohne ihre unermüdlichen Empfehlungen und ihre Förderung hätte er sich sein Studium nicht finanzieren können. Er konnte ihr das doch nicht damit danken, dass er ihre schwangere Schwester ihrem Schicksal überließ! Dennoch war die Aussicht, für den Rest seines Lebens an eine Frau gebunden zu sein, die er verachtete, unerträglich. Innerlich zerrissen flüchtete er daher nach Hause zu seiner Familie. Dort stürzte er sich in die Arbeit in der väterlichen Schreinerei, hobelte, drechselte und nahm jede körperliche Mühe auf sich, die ihn vom Nachdenken und einer endgültigen Entscheidung abhielt.
»Was hast denn aufm Herzn, Johannes?«, fragte sein Vater schließlich Ende Juli, als sie zusammen an einer Kommode arbeiteten, bei der aufwendige Intarsienblüten einzulegen waren. »Mechst mir nit verratn, was es is? So hab ich dich noch gar nit erlebt. Hast Ärger an deina Musikschul?«
Johannes glitt der Stechbeitel aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden. Er hätte sich denken können, dass sein Vater etwas bemerken würde. Fieberhaft überlegte er, was er ihm sagen sollte, da fuhr der Vater auch schon fort:
»Oder ist’s das Ultimatum, dass du so verdrießlich dreinschaugst?« Er legte das Stemmeisen weg und strich sich die verschwitzten Haare aus der Stirn. »Ich versteh ach nit, warum auf aamol so an Zinnober um den Franz Ferdinand gmacht wird. Mege seine arme Seel in Friedn ruhn, aba so richtig gmocht ham den die Leit nit. Nit aamol der Kaiser höchstselbst. Sonst hätt er ihn gwiss in der Kapuzinergruft beisetzn lassn, auch wann sane Frau nur ane Gräfin Chotek war. Um den Rudolf ham mir damals alle viel mehr gtrauert.«
Dazu konnte Johannes nichts sagen. Der tragische Selbstmord des Kronprinzen und die Spekulationen darüber, was in Mayerling geschehen und ob die blutjunge Baroness Mary Vetsera freiwillig mit ihm gestorben war oder der Kronprinz sie umgebracht hatte, hatten vor seiner Geburt stattgefunden. Aber er hatte auch nicht feststellen können, dass in den vergangenen Wochen außergewöhnlich um Franz Ferdinand und seine Gattin getrauert worden wäre. Die Leute plauderten wie gewohnt in den Cafés, gingen tagsüber ihren Geschäften nach und abends zum Tanz, und wenn die Zeitungen nicht plötzlich einvernehmlich fordern würden, dass der Mord des vom Volk ach so geliebten Thronfolgers gesühnt werden müsse, hätten die meisten ihn wahrscheinlich schon längst vergessen und sich auf den jungen Erzherzog Karl als neuen Thronfolger gefreut.
»Denkst du denn, es wird Krieg geben, wenn Serbien sich nicht auf die Forderungen des Kaisers einlässt?«, fragte Johannes, dankbar, auf diese Weise von seinen eigenen Sorgen ablenken zu können.
Am Vortag waren seitens der österreichischen Regierung verschiedene Forderungen an Serbien gegangen, um weitere Eskalationen zu vermeiden. Tagelang fanden in Wien Demonstrationen vor dem Gebäude der serbischen Gesandtschaft statt, zuletzt mit der lächerlichen Begründung, das schwarze Trauerband an der Fahne wäre nicht breit genug. Ein ungarisches Boulevardblatt schrieb, die Stadt wäre eine einzige zusammengeschweißte Begeisterung und hätte keine Minute Angst vor einem Krieg. Nur dieser Unruhezustand machte die Leute nervös, nichts wäre schlechter als der versumpfende Frieden. Offiziell drohte bei Ablehnung der Forderungen nur der Abbruch der diplomatischen Beziehungen, von einem Krieg war noch nicht die Rede. Als Johannes mit seiner Mutter und Annerl in der Stadt war und ihnen geholfen hatte, die Einkäufe zu tragen, hatte er allerdings gehört, wie sich zwei Männer auf dem Marktplatz unterhielten.
»Ich sag dir, die Serben haben so viel Dreck am Stecken, die lassen niemals zu, dass österreichische Beamte auf serbischem Boden gegen die Drahtzieher des Attentats ermitteln«, hatte einer gesagt. »Das endet in den höchsten Regierungspositionen.«
»Wenn du mich fragst, ist es an der Zeit, die Serben am Schlafittchen zu packen. Das Maß ist längst voll«, hatte ein anderer geantwortet.
Voll waren auch die Zeitungen mit Spekulationen, wie Serbien nun reagieren würde. Johannes’ Vater wiegte nachdenklich den Kopf.
»Mir machen nit die Serbn Angst, sondern der Russ.«
Aber so recht wollten weder Johannes noch sein Vater an einen Krieg glauben.
»Werst scho sehn, am End bleibt doch alls wieda beim Alten«, hatte er verkündet.
Doch dann überschlugen sich mit einem Mal die Meldungen. Der russische Zar äußerte sich proserbisch, und Serbien lehnte die Forderung einer Untersuchung des Attentats durch österreichische Beamte vor Ort ab. Johannes traf sich von nun an täglich mit anderen jungen Männern im brechend vollen Café. Dort herrschte eine aufgekratzte Stimmung, und über Neuankömmlinge und das Telefon strömten ständig neue Nachrichten ein. Die Cafés und Gaststätten waren neben den Anschlagtafeln vor den Zeitungshäusern die ersten Anlaufstellen, um Neuigkeiten zu erfahren.
»Wenn der Kaiser gegen Serbien mobilmacht, bin ich dabei«, rief Hans, der mit ihm in die Schule gegangen war, euphorisch. Er war Journalist bei der Lugoscher Zeitung, und zu Johannes’ Erstaunen verkündete er: »Ich melde mich freiwillig.«
»Du willst doch nur die Mädchen mit einer Uniform von deiner schmalen Brust ablenken«, spottete sein Kollege. »So einen Marsch hältst du keine zwei Tage durch.«
»Die Ermordung des Thronfolgers ist ein Überfall auf unser Vaterland«, hatte Hans beleidigt geantwortet. »Jeder ist ein Feigling, der zögert, seine Heimat zu verteidigen. Wir haben in der Redaktion heute die Nachricht bekommen, dass sie in Budapest zu einem musikalischen Zapfenstreich die Kapellen mehrerer Infanterieregimenter aufmarschieren und den Radetzky-Marsch, den Prinz-Eugen-Marsch und den Rákóczi-Marsch spielen lassen.«
Johannes hob die Augenbrauen. »Klingt ganz so, als käme in der Hauptstadt niemand mehr zum Schlafen.«
Die anderen lachten, und Hans entgegnete aufgebracht: »Im Gegensatz zu euch reagieren die Budapester eben, wie es sich gehört. Sie öffnen die Fenster, schwenken Tücher und rufen Nieder mit den Serben! und Es lebe Franz Joseph!«
Am Dienstag erschien eine Bekanntmachung des Kaisers an seine Völker in einem Extrablatt:
»Die Umtriebe eines hasserfüllten Gegners zwingen Mich, zur Wahrung der Ehre Meiner Monarchie, zum Schutze ihres Ansehens und ihrer Machtstellung, zur Sicherung ihres Besitzstandes nach langen Jahren des Friedens zum Schwerte zu greifen.«
Nun war es also so weit, Österreich hatte Serbien den Krieg erklärt. Während ein unvergleichlicher Jubel ausbrach, Menschen auf den Straßen feierten, junge Rekruten in Uniformen zum Bahnhof marschierten und fahnenschwenkend mit Blumen und Musik verabschiedet wurden, kehrte in Johannes’ Gedankendurcheinander plötzlich Ruhe ein, stand das wirbelnde Karussell widersprüchlichster Emotionen endlich still. Der Kriegsausbruch erschien ihm wie die ersehnte Antwort auf all seine Fragen und seine ungelösten Probleme. Johannes setzte sich am Abend des 28. Juli an den Schreibtisch und schrieb zwei Briefe. Einen an Susanna, den anderen an ihren Vater.
Susanna,
ich bitte dich, mir zu verzeihen, dass ich mich noch nicht bei dir gemeldet habe. Dringende Angelegenheiten haben mich im Juli zu meiner Familie nach Hause reisen lassen, und nun ruft mich unerwartet die Pflicht und meine Vaterlandsliebe zu den Waffen. Sei versichert, dass ich nach meiner Rückkehr von der Front zu dir stehen möchte. Ich lege meinen Brief an deinen Vater, in dem ich um deine Hand anhalte, diesen Worten bei, und so mögest du den richtigen Zeitpunkt wählen, ihm meinen Antrag vorzulegen.
Mit den besten Wünschen für deine Gesundheit und euer aller Wohlergehen in diesen schweren Zeiten,
Dein Johannes
Den förmlichen Heiratsantrag, den er an Susannas Vater geschrieben hatte, faltete er und legte ihn zusammen mit dem Brief an sie in ein Kuvert, das er an Susanna Keller adressierte. Johannes sah auf die Uhr. Noch hatte das Postamt geöffnet. Er sprang auf und eilte los. Vor dem Gebäude, das mit Blumenkästen mit hübschen Geranien auf den Fensterbänken geschmückt war, wartete eine erstaunliche Menge an Leuten. Offenbar war er nicht der Einzige, den die Nachricht des Kriegsausbruches zum Briefeschreiben bewegt hatte. Einen Augenblick lang hatte er überlegt, ob er auch einige Zeilen an Marie senden sollte, es aber dann verworfen. Seine Entscheidung stand fest. Er würde zu seinem Kind stehen, das nicht seine Fehler ausbaden sollte. Für Marie, der seine wahre Liebe, sein ganzes Herz gehörte, konnte er nur noch eines tun: dafür sorgen, dass sie ihn weiterhin für einen treulosen Schuft hielt und ihn genug verachtete, um mit einem anderen Mann ihr Glück zu finden.
Erleichtert atmete Johannes auf, als er das Postamt verließ und über die Eisenbrücke zur römisch-katholischen Kirche schlenderte. Gedämpftes Licht und der an den steinernen Wänden klebende Duft von Weihrauch empfingen ihn. Es war noch zu früh für die Abendandacht, nur einige alte Mütterchen knieten in den Bänken, versunken im Gebet. Er ging vor zum Altar und wandte sich nach rechts zu dem Bildnis der Gottesmutter Maria mit ihrem Kind. Eine Weile betrachtete er das Ölgemälde, das im sanften Schein der Flammen darunter glänzte. Dann warf er ein paar Fillér in den Münzstock, zündete selbst drei Kerzen an und betete. Eine für seine liebste Marie, die zweite für Susanna, die dritte für ihr ungeborenes Kind.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich wieder im Einklang mit sich und der Welt. Gleich morgen würde er sich als Kriegsfreiwilliger melden und sein Leben in Gottes Hand legen.